Wie der Public Value über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk kam
Die gesellschaftliche Anbindung erfolgte rein formal über die Gremien und die in ihnen vertretenen „gesellschaftlich relevanten Gruppen“. An dieser Fiktion wurde auch dann noch festgehalten, als spätestens seit den 1990er-Jahren immer wieder zaghafte Debatten über die Besetzung der Gremien von ARD, ZDF und Deutschlandradio aufflammten.
Streit um Absenkung der KEF-Gebührenempfehlung endet in Karlsruhe
Für den entscheidenden Schritt hin zu einem zaghaften Bewusstseinswandel sorgte dann Anfang der 2000er-Jahre allerdings weder die Gremiendebatte noch das gesellschaftliche Murren über die Erhöhung der damaligen Rundfunkgebühr. Diese vernehmliche Kritik hatte zwar die Politik auf den Plan gerufen, die 2005 prompt die durch die zuständige Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF) empfohlene Erhöhung der Rundfunkgebühr von 16,15 Euro auf 17,24 Euro um rund 30 Cent absenkte. Doch dagegen wehrten sich die Sender erfolgreich mit dem Gang nach Karlsruhe. 2007 erklärte das Bundesverfassungsgericht die damalige Absenkung für unzulässig (1 BvR 2270/05) und gab mit seinem Urteil den Startschuss für den Umbau des Finanzierungssystems des öffentlich-rechtlichen Rundfunks hin zum heutigen Rundfunkbeitrag.
Nein, es war vielmehr die Offensive der privaten Rundfunkveranstalter, die die Öffentlich-Rechtlichen unter Druck setzten. Das duale System war durch die erste Welle der Digitalisierung auf beiden Seiten stark gefordert. Erhoffte schnelle Erfolge der kommerziellen Anbieter hatten sich – wie auch bei den Zeitungs- und Zeitschriftenverlagen – zerschlagen. Dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk nun dank seiner gesicherten Finanzierung trotz der dem System innewohnenden institutionellen Schwerfälligkeit vorbeiziehen könnte, sollte unbedingt verhindert werden. Und so führte ausgerechnet das von den Privatsendern initiierte Beihilfeverfahren der EU-Kommission 2005 zur Rückbesinnung der Öffentlich-Rechtlichen auf die Gesellschaft und den für sie von den Anstalten erbrachten Public Value.
ZDF prescht 2006 mit Der Wert des ZDF für die Menschen in Deutschland vor
„Dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Wahrheit das stabile Fundament des Systems ist, wird deutlich, wenn man die Frage nach seinem Wert in der digitalen Fernsehwelt von morgen stellt. Die Antwort fällt leicht, wenn man den Wert nicht auf ökonomische Kategorien wie den ‚shareholder value‘ oder den Beitrag zum Bruttosozialprodukt verkürzt, sondern von dem umfassenderen Verständnis eines ‚public value‘, d. h. eines Wertes bzw. Mehrwertes für die Menschen und die Gesellschaft in Deutschland ausgeht. Dieser ist in weiten Teilen mit Geld überhaupt nicht zu fassen“, heißt es im vom damaligen ZDF-Intendanten Markus Schächter verfassten Vorwort zu der im März 2006 publizierten Selbstdarstellung Der Wert des ZDF für die Menschen in Deutschland (ZDF 2006, S. 3).
Trotz Verweis auf den Begriff „Public Value“ konzentrierte sich die Auseinandersetzung dann aber weniger auf tatsächliche gesellschaftliche Leistungen, sondern vielmehr auf die Unterschiede zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten Veranstaltern. „Kommerzielles Fernsehen verfolgt Ziele, deren Ausgangspunkt sich nicht an den Interessen der Zuschauer orientiert. Es sind vor allem die Vorgaben der Investoren und der Werbeindustrie, die hier eine Rolle spielen. In einem funktionierenden Mediensystem ist das in Ordnung – solange es als Korrektiv ein leistungsstarkes und unabhängiges öffentlich-rechtliches Pendant gibt“, lautete Schächters Conclusio (ebd.).
Doch das ZDF hatte hiermit auch in Deutschland eine Tür weit aufgestoßen, durch die die britische BBC mit ihrem Beitrag Building public value schon zwei Jahre zuvor gestürmt war. Dabei gab sich die BBC deutlich selbstbewusster als ihre öffentlich-rechtlichen Schwestern und Brüder in Deutschland und reklamierte die führende Rolle beim digitalen Umbau der Gesellschaft und des Mediensystems für sich. „Creating a fully digital Britain is a public challenge which the BBC must help to lead. It is a Britain from which the BBC, and only the BBC, can ensure that no one is excluded. It is a Britain where investment in British talent and British voices and the widest range of quality British content will be more important – and more at risk – than ever. Again only the BBC, with its unique method of funding and its unique mission, can guarantee that this investment will be made.“ (BBC 2004, S. 5)
Wie immer soll die BBC Vorbild auch für Deutschlands Öffentlich-Rechtliche sein
Das 135-seitige Papier machte Schule und fand akribische LeserInnen bei ARD und ZDF wie in der deutschen Medienpolitik. Wieder einmal sollte die BBC als Blaupause auch für Deutschland dienen, was durch die persönliche Freundschaft von ZDF-Intendant Schächter mit dem damaligen BBC-Director-General Mark Thompson noch untermauert wurde. Schächter präsentierte Thompson später auch als Überraschungsgast bei einem Gespräch mit deutschen MedienjournalistInnen während der „medienwoche@IFA“ im Rahmen der Internationalen Funkausstellung (IFA) 2008 in Berlin, was von vielen der privaten Anbieter und den Verlagen zugeneigten Medien prompt als „Propaganda“ kritisiert wurde (Voß 2008), für die man Thompson habe ankarren lassen.
Allerdings verkürzte die deutsche Strategie – anders als das britische Modell – damals ihren Public-Value-Ansatz durch den Ausschluss der eigentlichen „Kundschaft“ und den Verzicht auf eine breit angelegte gesellschaftliche Debatte. Dies zeigte sich vor allem darin, dass die Sprachlosigkeit zwischen den Öffentlich-Rechtlichen und ihren Nutzerinnen und Nutzern weiter zunahm. Noch zehn Jahre nach dem BBC-Papier wurde Initiativen zur Einführung von „Publikumsräten“ nach österreichischem Vorbild beim ORF die kalte Schulter gezeigt, anstatt sie als Chance zu begreifen.
Publikumsrat – nein danke! – Von Bürgerbeteiligung keine Spur
Die Initiative unter Führung der Kommunikationswissenschaftlerin Christine Horz war 2013 mit der Umstellung der Rundfunkgebühr auf den Rundfunkbeitrag angetreten und argumentierte, da nun wirklich alle mitbezahlen dürften, sollten sie auch mitreden und in bestimmten Bereichen mitbestimmen können.
„Ein Publikumsrat kann als Mittler eine Dialog- und Informationsplattform zwischen Publikum und öffentlich-rechtlichen Medien darstellen. Er soll nicht nur die Erwartungen des Publikums nach größerer Beteiligung in einer Ombudsmann-Funktion erfüllen. Zu seinen Aufgaben sollte auch gehören, mehr Transparenz der Politik der Rundfunksender sowie der bestehenden Gremien einzufordern und zu evaluieren. Die Rundfunkanstalten könnten von einer nachhaltigen Nähe zum Publikum profitieren und sich neue zukunftsfähige Legitimationsgrundlagen und Funktionen erarbeiten. Verlorengegangenes Vertrauen kann wettgemacht und die Leistungen der öffentlich-rechtlichen Medien in der Demokratie verständlich gemacht werden“, heißt es in der sogenannten Erlanger Erklärung der Initiative Publikumsrat vom Februar 2014. Dem erteilten Sender wie Gremien allerdings eine deutliche Absage.
Gleichzeitig sorgte die schleppende Umsetzung des sogenannten „ZDF-Urteils“ des Bundesverfassungsgerichts von 2014 für weiteren Frust. 2009/2010 hatte die Politik im ZDF-Verwaltungsrat die Verlängerung des Vertrags von ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender verhindert. Im anschließenden, zunächst widerwillig von Rheinland-Pfalz initiierten Normenkontrollverfahren hatte Karlsruhe die Zusammensetzung der ZDF-Gremien als nicht verfassungskonform bewertet und ein Übergewicht der Politik konstatiert. Die formal nur für das ZDF postulierten Vorschriften, nach denen die „Staatsbank“ künftig nicht mehr als ein Drittel der Gremienmitglieder stellen durfte, galt für alle öffentlich-rechtlichen Anstalten. Doch die entsprechende Anpassung der Gremienzusammensetzung zog sich hin. Die Zusammensetzung des MDR-Rundfunkrates wurde erst mit dem neuen Staatsvertrag 2021 entsprechend angepasst. Zudem gaben die VerfassungsrichterInnen dem Gesetzgeber mit Blick auf die Gremien noch eine weitere Aufgabe auf: Er habe „dafür zu sorgen, dass bei der Bestellung der Mitglieder dieser Gremien möglichst unterschiedliche Gruppen und dabei neben großen, das öffentliche Leben bestimmenden Verbänden untereinander wechselnd auch kleinere Gruppierungen Berücksichtigung finden und auch nicht kohärent organisierte Perspektiven abgebildet werden“ (BVerfG 2014). Damit hatte Karlsruhe quasi die Kritik bestätigt, nach der die Gremien der öffentlich-rechtlichen Anstalten eben nicht mehr die gesellschaftliche Realität abbildeten.
Mangelnde Transparenz und ein wiederentdeckter Public-Value-Begriff
Ein weiteres Manko war die zögerliche Haltung von ARD und ZDF, was allgemeine Transparenz vor allem im Finanzbereich, beispielsweise bei Spitzengehältern und bestimmten Rechtekosten, anging. Seit 2010 schrieb das neue WDR-Gesetz vor, das Gehalt von Intendantin Monika Piel zu veröffentlichen. Widerwillig folgten die meisten Anstalten, ohne explizit rechtlich dazu verpflichtet zu sein. Einzelne wie der Hessische Rundfunk (HR) zierten sich aber noch mehr als ein halbes Jahrzehnt. „Mit dem seit 13. Oktober 2016 gültigen hr-Gesetz veröffentlicht der Hessische Rundfunk erstmals nach § 18 Abs. 5 die für die Tätigkeit im Geschäftsjahr gewährten Bezüge des Intendanten/der Intendantin und der Direktoren/innen im Geschäftsbericht […] in strukturierter Form“, heißt es erst im Geschäftsbericht 2016 (HR 2017, S. 18).
Zur gleichen Zeit hatte die ARD unter dem Vorsitz von MDR-Intendantin Karola Wille den Public-Value-Begriff wieder für sich entdeckt. Eine bislang eher vor sich hin dümpelnde ARD-weite Arbeitsgruppe wurde neu aufgestellt und strukturell aufgewertet. Nun sollten auch die direkte Ansprache und der Austausch mit den Beitragszahlerinnen und -zahlern in Angriff genommen werden. Ein entsprechendes dreistufiges Konzept, das auch einen neuen, public-value-orientierten Claim und als dritte und entscheidende Stufe eine onlinebasierte Dialogplattform vorsah, erwies sich aber im Kreis der neun ARD-Anstalten als nur bedingt mehrheitsfähig. Zum Ende des MDR-Vorsitzes 2017 löste immerhin ein neuer Claim den vielfach bespöttelten Slogan „Wir sind eins“ (Voß 2010) ab, der zuletzt auch ARD-intern umstritten war. Seitdem bringt „‚Wir sind deins‘ den Public Value der ARD auf den Punkt: ein freier gemeinsamer Rundfunk für alle und jeden“, heißt es heute in den Keyfacts zur ARD im digitalen Medienzeitalter des beim RBB in Berlin angesiedelten ARD-Generalsekretariats.
Der Dialog bleibt weiter außen vor, stattdessen kommt der GemeinwohlAtlas
Doch der Dialog blieb weitestgehend außen vor, stattdessen werkelt die ARD bis heute an internen Standards und Messgrößen für ein Public-Value-Reporting. Da nach dem Public-Value-Begriff aber gerade „das Publikum die wesentliche Anspruchsgruppe darstellt und […] es vor allem um die Herstellung von Öffentlichkeit geht“ (Serong 2021, S. 22), machte sich das Fehlen einer organisierten dialogischen Instanz zum Publikum weiterhin negativ bemerkbar. Daran konnte auch die Hinwendung zu durchaus in ein Public-Value-Framing passenden Untersuchungsmethoden wie dem GemeinwohlAtlas nichts ändern. Hier liegen die Dritten Programme der ARD (aktuell Platz 15) vor der ARD insgesamt (Platz 17) und dem ZDF (Platz 20) erwartungsgemäß im vorderen Bereich; VOX rangiert als erfolgreichster Privatsender auf Platz 118, gefolgt von SAT.1 (Platz 120) und RTL (Platz 126) (HHL Center for Leadership and Values in Society 2021). Doch die von Serong geforderte Herauslösung des Public-Value-Begriffs aus dem wirtschaftspolitischen und juristischen Kontext, in den er zunächst eingeführt wurde, ließ weiter auf sich warten.
Erst in der Coronapandemie, die einerseits allen Medien eher ungeplant die eigene Systemrelevanz verdeutlichte, gleichzeitig aber andererseits die fortgeschrittene Spaltung der Gesellschaft unmissverständlich in den Fokus rückte, bewegte sich wieder mehr. „Die ARD hat im Frühjahr 2021 den ARD-Zukunftsdialog ins Leben gerufen. Über mehrere Monate beteiligen wir in unterschiedlichen Formaten die Bürger*innen an der Diskussion über die Zukunft der ARD“, heißt es aktuell auf der eigens eingerichteten Zukunftsdialog-Plattform. Und diesmal klingt es so, als sei es der ARD mit diesem Anliegen ernst: „Was fehlt Dir im Angebot der ARD? Was sollte die ARD in Zukunft anpacken? Das sind nur zwei von zahlreichen Fragen, über die Du […] mitreden kannst. Wir freuen uns auf Deine Ideen und Wünsche!“, begrüßt die Startseite die Nutzerinnen und Nutzer. (ARD 2021)
Literatur:
ARD: ARD-Zukunftsdialog. Stuttgart/Köln 2021. Abrufbar unter: https://www.ard.de sowie https://www.ard-zukunftsdialog.de
ARD-Generalsekretariat: Keyfacts zur ARD im digitalen Medienzeitalter. Berlin o. J.
BBC: Building public value. Renewing the BBC for a digital world. London 2004. Abrufbar unter: https://downloads.bbc.co.uk
Bundesverfassungsgericht (BVerfG): Leitsätze zum Urteil des Ersten Senats vom 25. März 2014 – 1 BvF 1/11 – 1 BvF 4/11 („ZDF-Urteil“). Abrufbar unter: https://www. bundesverfassungsgericht.de
Hessischer Rundfunk (HR): Jahresbericht 2016. Frankfurt am Main 2017. Abrufbar unter: https://download.hr.de
HHL Center for Leadership and Values in Society der Universität St. Gallen in Kooperation mit der HHL Leipzig Graduate School of Management: GemeinwohlAtlas 2020. St. Gallen/Leipzig 2021. Abrufbar unter: https://www.gemeinwohlatlas.de
Initiative Publikumsrat: Erlanger Erklärung. Für einen Publikumsrat: Partizipative Strukturen für eine moderne Gesellschaft!. Erlangen 2014. Abrufbar unter: https://publikumsrat.de
Serong, J.: Public Value. Ein neuer Qualitätsbegriff?. In: tv diskurs, Ausgabe 97, 3/2021, S. 18 – 22
Voß, J.: Zeitungen kritisieren „Propaganda“ im ZDF. In: DWDL, 04.09.2008. Abrufbar unter: https://www.dwdl.de
Voß, J.: ARD bastelt an einem neuen Slogan. In: DWDL, 14.04.2010. Abrufbar unter: https://www.dwdl.de
ZDF: Der Wert des ZDF für die Menschen in Deutschland. Mainz 2006. Abrufbar unter: https://www.zdf.de