„Wisch und weg!?“
Eine Kennzeichnungspflicht könnte unternehmerische Compliance untergraben
Im vergangenen Jahrzehnt wurde mit Blick auf den Jugendmedienschutz immer wieder festgestellt, dass die bestehenden Regelungen „nicht mehr zeitgemäß“ sind. Ein verstaubter (Träger‑)Medienbegriff, die gesetzliche Fragmentierung mit Doppelzuständigkeiten, fehlende Orientierung – die Gründe für Handlungsbedarf sind heute so zutreffend wie gestern. Im April 2019 brachte Bundesfamilienministerin Franziska Giffey die Sachlage erneut auf den Punkt: Das Jugendschutzgesetz (JuSchG) sei bei „der Videokassette stehengeblieben“, erklärte sie anlässlich des 25‑jährigen Jubiläums der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF), und – auf moderne Smartphone-Touchgesten anspielend – im Zeitalter von „Wisch und Weg“ nicht mehr angemessen.
Man darf also gespannt sein auf den angekündigten Entwurf für ein neues Jugendschutzgesetz, auch wenn die ersten kursierenden Überlegungen dazu eher ernüchternd sind. Was nach Modernisierung klingt – ein einheitlicher Medienbegriff, sichtbare Kennzeichen auf Plattformen oder der Einsatz von Selbstklassifizierungssystemen –, wäre nämlich ein Rückschritt, wenn das vorhandene, in weiten Teilen gut funktionierende Jugendschutzsystem im Rundfunk- und Telemedienbereich ignoriert würde.
Bereits heute sorgen Anbieter dafür, dass Kinder oder Jugendliche für ihre Altersgruppe entwicklungsbeeinträchtigende Inhalte nicht wahrnehmen, indem sie ihre Programme durch Jugendschutzbeauftragte sichten, klassifizieren und technisch kennzeichnen lassen. FSK-Freigaben werden übernommen, Zweifelsfälle der FSF zur Prüfung vorgelegt. Die vorhandenen Kennzeichen auf Plattformen sichtbar zu machen, wäre möglich – auch mithilfe von Klassifizierungstools, wie der erfolgreiche Einsatz von IARC im Bereich der Onlinespiele und Apps zeigt.
Stattdessen ist offenbar vorgesehen, dass die Kennzeichen in einem Prüfverfahren auf der Grundlage des JuSchG oder durch ein von den Obersten Landesbehörden zertifiziertes, automatisiertes Klassifizierungssystem zustande kommen müssen. Die Situation wäre absurd: Eine Serie wie Bob der Baumeister könnte bei einem Privatsender durch die Jugendschutzbeauftragten eingeschätzt und uneingeschränkt im Fernsehen ausgestrahlt werden. Für die Kennzeichnung auf der Onlineplattform des Senders müsste sie dann mindestens ein staatlich sanktioniertes technisches System durchlaufen, für die Veröffentlichung auf DVD ein Prüfverfahren nach dem JuSchG. Derselbe Inhalt dürfte auf einer Plattform der öffentlich-rechtlichen Anbieter vonseiten der Redaktion bewertet und ohne Alterskennzeichnung in der Mediathek angeboten werden.
Warum wird eine sichtbare Orientierung in den Mediatheken von ARD und ZDF als nicht notwendig erachtet – in einer Zeit, in der Lizenzware von Plattform zu Plattform wandert? Warum wird ein automatisiertes System über die menschliche Expertise der routinierten Jugendschutzbeauftragten gestellt? Warum werden funktionierende Lösungen nicht mit den neuen Ideen verzahnt, sondern – „wisch und weg“ – vom Tisch gefegt?
Die De-facto-Prüfpflicht aus dem Zeitalter der Videokassette auf das Internet zu übertragen, ist nicht zwingend. Bereits die Grundannahme, dass selbst offenkundig harmlose Inhalte für die Veröffentlichung einer hoheitlichen Erlaubnis bedürfen, passt nicht mehr in die Zeit. Jugendschutz ist Teil der unternehmerischen Compliance-Kultur. Anbieterverantwortung ließe sich stärken, wenn Bund und Länder abgestimmte, regulatorische Standards setzten und die konkrete Ausgestaltung den Unternehmen und ihren Selbstkontrollen überließen. Bob der Baumeister würde auch ohne hoheitlichen Verwaltungsakt, mit oder ohne technisches Tool, für alle Altersgruppen freigegeben – das wäre zeitgemäß.
Ihre Claudia Mikat