Zeitgemäßer Jugendschutz ist komplexer!

Claudia Mikat

Claudia Mikat ist Geschäftsführerin der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).

Claudia Mikat, Geschäftsführerin der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF), über die Umsetzbarkeit von technischem Jugendschutz zwischen gesetzlichen Vorgaben und elterliche Sorge.

Printausgabe mediendiskurs: 26. Jg., 3/2022 (Ausgabe 101), S. 1-1

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Folgt man dem Bonmot, dass eine Lösung dann besonders gut ist, wenn alle dagegen argumentieren, ist den Ländern mit ihrem Diskussionsentwurf zur Novellierung des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags (JMStV) ein großer Wurf gelungen. Zentrale Akteure im Feld äußern Kritik an dem Gesetzesvorhaben, zu dem bis zum 20. Juni 2022 Stellung genommen werden konnte. Die wesentliche Neuerung soll darin bestehen, Betriebssystemanbieter zu Jugendschutzvorrichtungen zu verpflichten und gleichzeitig von App-Anbietern eine Alterskennzeichnung zu verlangen, die von diesen Vorrichtungen ausgelesen werden kann. Eltern sollen damit durch ein schlichtes Ein- oder Ausschalten einer Jugendschutzfunktion und das Einstellen einer Altersstufe für ihr Kind in ihren Erziehungsaufgaben unterstützt werden.

Der hinter dem Ansatz stehende Wunsch nach Vereinfachung und Vereinheitlichung ist verständlich. Kaum jemand wird bestreiten, dass Medienerziehung zunehmend komplex ist, und sicher fühlen sich manche Eltern von technischen Jugendschutzoptionen überfordert. Aber so verlockend ein zentraler Jugendschutzschalter sein mag: Eine allzu einfache Lösung wird den Realitäten nicht gerecht. Für die Eltern würden sich praktische Fragen ergeben: Was, wenn mehrere Kinder im Haushalt dasselbe Gerät nutzen? Wählt man die Altersstufe des jüngsten Kindes für größtmöglichen Schutz – mit der Konsequenz, dass älteren Kindern der Zugriff auf ihre Inhalte versperrt wird?

Zudem gibt es Bedenken an der technischen Umsetzbarkeit. Die Grundvoraussetzung des Ansatzes, dass es eine technische Schnittstelle zwischen den neuen Jugendschutzvorrichtungen der Betriebssysteme und den bestehenden altersgekennzeichneten Inhalten auf Plattformen oder innerhalb von Apps gibt, ist keineswegs gegeben. Ähnlich wie die Durchsetzung einheitlicher Ladekabel werden globale technische Standards dieser Größenordnung Zeit brauchen. Plattform- und App-Anbieter wie Netflix, Joyn oder Sky mit gut funktionierenden altersdifferenzierten Zugangs- und Schutzsystemen wären verpflichtet, für ihr Gesamtangebot eine Altersstufe zu wählen, die sich an den höchsten Freigaben ihrer Inhalte orientiert – realistischerweise liefe das auf eine Kennzeichnung 16 oder 18 hinaus.

Aus Sicht des Kinder- und Jugendschutzes ist zu befürchten, dass bestehende funktionierende Systeme bei der Umsetzung dieses Ansatzes an Bedeutung verlieren könnten. Differenzierungen innerhalb einer App wie Profileinstellungen würden obsolet. Die Alterskennzeichnung von Einzelinhalten – Grundlage für jede technische Zugangsbeschränkung – wäre nicht gesichert. Allein sie bietet aber derzeit in Kombination mit Jugendschutzprogrammen Sicherheit im freien Internet und für den Umgang mit hochgradig jugendschutzrelevantem Content. Auch aus kinderrechtlicher Perspektive kann allein eine altersdifferenzierte Bewertung von Inhalten sicherstellen, dass Heranwachsende durch technische Voreinstellungen in ihrem Zugang zu Medien nicht übermäßig beschränkt, gleichzeitig aber auch angemessen vor möglichen Risiken geschützt werden. Wenn Eltern also glauben, mit dem Ein- oder Ausschalten einer Jugendschutzfunktion im Betriebssystem ihr Kind vor den Risiken medialer Kommunikation zu bewahren, wiegen sie sich in trügerischer Sicherheit.

Die von den Ländern angestoßene Diskussion um technischen Jugendmedienschutz ist sinnvoll, aber zeitgemäßer Jugendschutz ist komplexer. Und Erziehung ist mehr als Gefahrenvermeidung: Ein- oder Ausschalten – das reicht nicht.

Die gute Nachricht ist, dass sich alle Beteiligten grundsätzlich für Verbesserungen und Vereinfachungen aussprechen. Die Länder sollten alle Akteure beim Wort, deren Einwände aber ernst nehmen. Wenn die bestmögliche Lösung noch nicht gefunden ist, sollte der Dialog fortgeführt werden.

Ihre Claudia Mikat