An den Themen der Zeit

doxs! – das Dokumentarfilmfestival für Kinder und Jugendliche 2018

Barbara Felsmann

Barbara Felsmann ist freie Journalistin mit dem Schwerpunkt „Kinder- und Jugendfilm“ sowie Autorin von dokumentarischer Literatur und Rundfunk-Features.

Doxs!, das Dokumentarfilmfestival für Kinder und Jugendliche, findet alljährlich im Rahmen der Duisburger Filmwoche statt. Es ist berühmt für sein anspruchsvolles Programm, das auch schwierige Themen wie Tod und Sterben, häusliche Gewalt oder Mobbing für das junge Publikum aufgreift. Im folgenden Beitrag findet der niederländische Film Shame/Fame von Eef Hilgers über private Hass- und Demütigungsvideos im Internet besondere Beachtung.

Online seit 05.12.2018: https://mediendiskurs.online/beitrag/an-den-themen-der-zeit/

Vollständiger Beitrag als:

In diesem Jahr waren im Programm insgesamt 29 zeitgenössische Dokumentarfilme aus Deutschland und anderen europäischen Staaten zu sehen. Mehrere Filme setzten sich mit den Schwierigkeiten von jungen Geflüchteten in ihrer neuen Heimat auseinander oder dokumentierten die Lebenswelten von Kindern in anderen Ländern, wie z.B. der dänische Wettbewerbs­beitrag von Jens Pedersen, Horse Fever (Daniar im Pferdefieber), oder Zozooloi aus der Mongolei aus der Reihe 199 kleine Helden. Darin schildert Sigrid Klausmann-Sittler das Hin- und Hergerissensein eines Nomadenmädchens zwischen der traditionellen Lebensweise ihrer Familie und der modernen Welt in der Stadt, wo sie zur Schule geht.

Auch die 14-jährige Rumänin Miruna aus dem niederländischen Film Meisje met een Missie (Mirunas Mission) von Heleen D’Haens und Eva van Barneveld kommt in Konflikt mit ihrer Familie: Wie ihre Eltern will sie nicht leben, sie will raus aus dem Milieu und Polizistin werden.

Vom Traum eines jungen, georgischen Außenseiters auf dem Lande, einmal zum Mond zu fliegen, erzählt der außergewöhnliche Dokumentarfilm Apollo Javakheti von Bakar Cherkezishvili. Er wurde von der dreiköpfigen Jury der European Children’s Film Association (ECFA) mit dem ECFA Documentary Award ausgezeichnet. In der Begründung heißt es treffend: „Mit den Füßen auf der Erde, mit dem Kopf in den Wolken – der Film, den wir prämieren, erzählt in gleichem Maße von der Lebensrealität wie auch dem Lebenstraum seines Protagonisten. Wir waren tief beeindruckt von der ehrlichen und authentischen Art und Weise, mit der der Filmemacher seine Hauptfigur zeichnet. Auf poetische und eindrucksvoll stringente Weise, lässt er sich in seiner Form immer von seinem Protagonisten leiten. Der Film nähert sich so einem Gefühl des Staunens, das Kino in seinen besten Momenten ausmacht und bei Kindervorführungen sogar hörbar wird.“
 


Die elfköpfige Jugendjury vergab ihren Preis, die Große Klappe, an den bewegenden Animationsfilm Obon von André Hörmann und Anna „Samo“ Bergmann, der ein historisches Thema aufgreift. Darin erinnert sich die 1925 geborene Akiko Takakura, eine der letzten Überlebenden des Atombombenabwurfs auf Hiroshima, an die damaligen Ereignisse und an ihren Vater, dem sie in dieser Zeit sehr nahe kam.

Ein weiteres bevorzugtes Thema war der Umgang mit den verschiedensten psychischen Erkrankungen bzw. Behinderungen, ob Depression (Phil und das Traurigsein aus der Reihe Schau in meine Welt! von Marco Giacopuzzi), Authismus (Little Fire von Nicky Maas) oder die seltene Prosopagnosie, die sogenannte Gesichtsblindheit, (Carlottas Gesicht von Valentin Riedl und Frédéric Schuld). Es sind allesamt Produktionen, die nicht nur um Verständnis für die jeweils Betroffenen werben, sondern vor allem dem jungen Publikum Mut machen, belastende Probleme im Leben anzugehen und versuchen zu lösen.
 

Jugendliche und digitale Medien

Zwei Dokumentarfilme beschäftigten sich mit unserem Umgang mit digitalen Medien. So porträtiert der deutsche Beitrag Mein letztes Video von Gerd Breiter und Andreas Bolm den YouTube-Star Anton, auch als Reyst bekannt, und setzt sich dabei mit den Fallstricken der ständigen Selbstinszenierung auseinander, zumal wenn man erwachsen wird.

In einer Sonderveranstaltung wurde der Film der niederländischen Regisseurin Eef Hilgers, Shame/Fame, vorgestellt. Eef Hilgers war bereits 2015 mit ihrem Film My Dearest F#cking Phone bei doxs! zu Gast. Nun präsentierte sie einen diskussionswürdigen Film über das Internet als einen Ort der Diffamierung, Bloßstellung und Stigmatisierung.

Auf der Kinoleinwand ist nur der Bildschirm ihres Notebooks zu sehen. Sie loggt sich mit ihrem Passwort ein, und es erscheinen in rasanter Abfolge Ausschnitte aus privaten Hass- und Demütigungsvideos, die ins Netz gestellt wurden. Sie zeigen Menschen beim heimlich gefilmten Sex, in peinlichen Situationen, entblößt oder im betrunkenen Zustand, bei Unfällen oder gewalttätigen Übergriffen. Die Gesichter der Betroffenen hat Eef Hilgers – im Gegensatz zum Original! – unkenntlich gemacht, die Abfolge der Bilder ist so schnell, dass man vieles eher erahnt, als tatsächlich sieht. Später werden dann auch Videos aus dem Netz gezeigt, in denen vermummte Jugendliche absichtlich Passanten anspringen, damit ihre Freunde und Mittäter den Sturz der Menschen filmen können.
 


SHAME/FAME von Eef Hilgers (Trailer bei Vimeo).


In persönlicher Weise denkt Eef Hilgers, die immer unten rechts im Bild zu sehen ist, über die Beweggründe nach, warum solcherart Videos gedreht bzw. geschaut werden. Sie erinnert sich, dass sie selbst als Zehnjährige gern heimlich vom Toilettenfenster aus die Menschen auf der Straße beobachtet und darüber genau Buch geführt hat.

Sie interviewt zwei junge Männer, die ihre diffamierenden Videos ins Netz gestellt haben, nicht ohne vorher Schritt für Schritt zu zeigen, wie sie an ihre Kontaktdaten gekommen ist. Während der eine wegen des Videos seinen Job verlor, zeigt der andere überhaupt kein Schuldbewusstsein. „Und wenn jemand 30-mal sagt, er will nicht gefilmt werden, ich mache es trotzdem!“, sagt er im Skype-Gespräch mit der Regisseurin und kontert mit der Frage, warum sie diesen Film mache und ob das nicht das Gleiche sei.

Im Gespräch mit Jugendlichen, die solche Filme gern anklicken, befragt Eef Hilgers sie nach ihren Beweggründen und zeigt auch die Gesichtsausdrücke der Jugendlichen beim Anschauen solcher Videos. Das ist die wohl stärkste Szene in ihrem Film, denn das Publikum sieht deren Entsetzen, aber auch deren Faszination und zugleich durch eine Überblendung die Ausschnitte, die sich die Mädchen und Jungen gerade anschauen.

„Warum schauen wir, obwohl wir wissen, dass wir es nicht tun sollten?“, fragt die Regisseurin im Film und erzählt von ihrem Traum, in dem ein Junge vom Balkon springt und sie nicht wegsehen kann. Eine Antwort finden weder sie noch ihre Interviewpartnerinnen und –partner. Fachleute wie Psychologinnen und Psychologen werden nicht befragt. Eef Hilgers will mit ihrem Film aufrütteln, mahnen, an die Vernunft appellieren – ohne moralischen oder pädagogischen Zeigefinger. Sie will bei ihrer Zielgruppe bleiben. Das gelingt ihr sehr gut, und doch bleibt ein fahler Beigeschmack. Zu wenig stehen die Opfer solcher menschenverachtenden Videos im Mittelpunkt, ihre tiefen Verletzungen, zu wenig wird die Verantwortung, die jeder Einzelne wie auch die Gesellschaft trägt, thematisiert, zu einfach sind die persönlichen Erklärungen und Vergleiche der Regisseurin, zu unverbindlich ihre eigene Haltung.

Eef Hilgers hat sich mit ihrem Film an ein schwieriges Thema gewagt, sie hat mutig und ohne zu beschönigen eine erschütternde Zustandsbeschreibung geliefert. Eine tiefer gehende, gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema muss nun folgen.
 


Barbara Felsmann hatte während des Festivals Gelegenheit, mit Eef Hilgers persönlich über ihre Filmarbeit und insbesondere über SHAME/FAME zu sprechen.



Bei doxs! gibt es nicht nur Filme zum Anschauen, sondern auch Veranstaltungen zum Mitmachen. Die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) veranstaltete einen Workshop für eine Gruppe von 14- bis 15-Jährigen zu SHAME/FAME. Dort sprachen die Jugendlichen auch über ihre Erfahrungen mit den Sozialen Medien. Im FSF-Blog berichtet Elisa Hoth ausführlich über den Workshop.