Der Kurzfilm – ein Experimentierfeld filmischer Erzählweisen

Barbara Felsmann im Gespräch mit Melika Gothe, Sebastian Markt

Seit diesem Jahr leiten Sebastian Markt und Melika Gothe die Berlinale-Sektion „Generation“, in der nicht nur lange Spiel- und Dokumentarfilme, sondern auch mehrere Kurzfilmprogramme im Wettbewerb präsentiert werden. mediendiskurs wollte in Erfahrung bringen, welchen Stellenwert diese filmische Form bei „Generation“ einnimmt und wie sie den Kindern und Jugendlichen nahegebracht wird.

Online seit 30.03.2023: https://mediendiskurs.online/beitrag/der-kurzfilm-ein-experimentierfeld-filmischer-erzaehlweisen-beitrag-772/

 

 

Kurzfilme wurden in dieser Berlinale-Sektion ja bereits 1986 präsentiert, damals allerdings als Vorfilm. War das eventuell für euch eine Option, dorthin zurückzukehren?

Sebastian Markt: Wir haben nicht lange darüber nachgedacht, ob wir Kurzfilme wieder als Vorfilme zeigen würden. Es gibt einfach ein paar Dinge, die dann logistisch-planerisch sehr herausfordernd wären. Schon allein, wenn man daran denkt, dass man in der Kuratierung, in der Auswahl bereits überlegen müsste, welche Kurzfilme zu welchen Langfilmen passen. Außerdem müssten bereits bei der Auswahl die Altersempfehlungen mit denen der Langfilme abgestimmt werden. Aber abgesehen von den technischen Dingen ist es wichtig, dass die Kurzfilmwettbewerbe eigenständige Wettbewerbe sind – damit deutlich wird, dass uns diese Form genauso wichtig ist wie die Langfilme und dass wir die Kurzfilme nicht als Übungsfeld oder als Vorstufe zu langen Filmen sehen, sondern als eigenständige Form, als eigene Kunst. Insofern benötigen sie auch eine eigenständige Programmierung.

Melika Gothe: Es gibt allerdings einen Moment während des Festivals, in dem wir einen Kurzfilm vor dem Langfilm zeigen, und zwar, wenn wir die Gewinnerfilme der Kinder- und der Jugendjury bei unseren beiden Preisverleihungen präsentieren. Die Gewinnerfilme haben dabei nicht immer die gleiche Altersempfehlung, das ist ja nicht möglich. Bei den Preisverleihungen führen wir zuerst den Gläsernen Bären für den besten Kurzfilm und dann den Gläsernen Bären für den besten Langfilm vor. Dabei entsteht auch etwas ganz Tolles, nämlich eine schöne Form von Dialog, hier speziell der Blick der Kinder- und der Jugendjury auf diese Filme und was ihre Intention war, sie auszuwählen. In solch einer Kombination wird einmal mehr deutlich, welch eine Prägnanz in Kurzfilmen steckt.

Was ist für euch das Besondere an der Kunstform Kurzfilm?

Mit anderen Erzählmitteln, mit einer eigenen Prägnanz in der Aussage, in der Geschichte zu arbeiten, das können Kurzfilme auf eine ganz, ganz tolle Art und Weise. Und gerade die Kombination in einem Kurzfilmprogramm hat eine große Wirkung. Ein Erfolgsmodell bei uns sind beispielsweise die „Kurzfilme 1“ für die ganz Kleinen bei „Kplus“, die in diesem Jahr wieder ab fünf Jahren empfohlen wurden.

Da tauchen die Kinder wirklich fünfmal in ganz verschiedene Welten ein und bekommen ganz viele verschiedene filmische Zugänge.

Natürlich gibt es das auch, dass die Lehrerinnen und Lehrer sagen, es passiere zu viel in der Vorstellung, um danach in einem Schulprojekt dazu arbeiten zu können. Weil jedes Kind auf einen anderen Film anspringt. Aber das sehe ich auch als Qualität, besonders für die Diskussion danach, dass in einem Programm viele Zugänge geschaffen werden.

Was man generell sagen kann, ist, dass sie für uns im Programm auch deshalb etwas Besonderes sind, weil die Schwelle, Kurzfilme realisieren zu können, eine andere ist als bei Langfilmen. Kurzfilme bringen eine andere Vielfalt im geografischen Sinn sowie eine sehr große Spannweite an filmischen Formen. Auch die Langfilme haben sehr unterschiedliche ästhetische Zugänge, aber man stößt da öfter auf eine Form von Verengung auf etablierte Formen als beim Kurzfilm, der meist noch ein größeres Experimentierfeld filmischer Erzählweisen darstellt.

Nach welchen Kriterien wählt ihr die Kurzfilme für den Wettbewerb aus? Sind es die Themen, Genres oder die Machart?

In diesem Jahr waren im Kurzfilmgremium vier Personen. Zusammen mit Vincent Förster, unserem Programmmanager für die Kurzfilmwettbewerbe haben wir gemeinsam über die Einladungen entschieden. Wir hatten knapp 2.000 Filme zu sichten. Ich glaube, wir würden uns alle schwertun, Auswahlkriterien zu nennen. Im Prinzip gehen wir da nicht anders vor als wie bei den Langfilmen. Erst einmal stehen die Filme für sich und wir schauen, welche uns überzeugen. Und überzeugen können sie aus ganz verschiedenen Gründen. Ab einen gewissen Zeitpunkt in der Auswahl beginnt sich so ein Bild zu formen von einem Programm. Und dann spielen natürlich auch weitergehende Überlegungen eine Rolle, etwa:

Wie ist es von den Altersempfehlungen, von den Zugängen her verteilt, wie ist es über die Welt verteilt, welche Tonarten haben wir bereits im Programm?

Wir versuchen ja ein ausgewogenes, austariertes Programm zusammenzustellen, das nicht nur Problemfilme enthält oder nicht nur humorvolle Animationen. Wir möchten ein Programm haben, das in sich vielgestaltig ist und in dem die Filme untereinander Bezüge aufweisen. Das baut sich dann eher schrittweise zusammen. Aber grundsätzlich ist die Auswahl so ähnlich wie bei den Langfilmen. Uns interessieren die Perspektiven junger Menschen. Sicher kommt es auch vor, dass da auch mal keine klare Perspektive von jungen Protagonist*innen ist, aber dann handelt es sich um Filme, die etwas auf eine besondere Weise darstellen, das auch für ein junges Publikum relevant ist. Oder es sind Filme, die einfach Begeisterung für filmisches Erzählen vermitteln können.
 

Einige der Filme, die auf der diesjährigen Berlinale in der Sektion „Generation" gezeigt wurden.


 

Wie werden die einzelnen Programme zusammengestellt?

Generell können wir für die Kurzfilmprogramme sagen, dass wir uns schon relativ genau überlegen, welche Filme wir in welcher Dramaturgie im Programm aufnehmen und dass dort etwas entsteht, das größer ist als die Summe der Teile. Das spricht auch für die Kurzfilme als eigene Plattform. Für „14plus“ funktioniert dies allerdings anders als für „Kplus“. Für „Kplus“ versuchen wir drei Programme zu kuratieren, die das komplette Spektrum der Altersempfehlungen für diese Zielgruppe abdecken. Wir haben ein Programm, das für Kinder noch vor dem Schulalter zugänglich ist, dann eins, das so in der Mitte sitzt, also ab acht oder neun Jahren, und ein Programm fürs höhere „Kplus“. Das erfordert natürlich in der Programmierung noch einmal andere Überlegungen als bei „14plus“, wo es diese Ausdifferenzierung nicht gibt.

Und dann ist es eine Frage, was für eine Dramaturgie, was für Bezüge so ein Programm entwickelt. Da gibt es ganz unterschiedliche Möglichkeiten. Manchmal beginnt ein Programm mit einem Film, der einfach so ein Tor öffnet und dazu einlädt, sich auf andere Sehgewohnheiten einzulassen.

Es geht aber immer darum, in welchen Anschlüssen die Filme stehen, ob es thematische Dialoge gibt oder formal interessante Berührungspunkte. Auf keinen Fall würden wir clustern, also nicht zuerst alle dokumentarischen Formen und dann alle Animationsfilme programmieren. Oder zuerst die sehr narrativ geschlossenen Filme und dann die, die ein bisschen freier und offener erzählt sind. Es ist aber schwierig, jenseits der individuellen Filme auf ein Muster oder Modell zu kommen. In diesem Jahr haben wir die Zusammenstellung der einzelnen Programme tatsächlich im Gremium besprochen, was ein recht schöner Prozess war.

M.G.: Aus der Perspektive der Filmvermittlung möchte ich nochmal betonen, dass wir diese thematische Sortierung nach dokumentarischen und fiktionalen Formen eben nicht vornehmen, sondern dass es uns wichtig ist, andere Verbindungen in der Rezeption zuzulassen und dem jungen Publikum etwas anzubieten, was über diese Clusterung hinausgeht. Das ist ein Zugang, der Spaß macht und den wir auch als einen Teil von Filmvermittlung verstehen: Verbindungen schaffen oder mit Reibungen umgehen.

Gibt es noch andere Aspekte, warum euch Kurzfilme bei „Generation“ so wichtig sind?

Was uns immer freut und das ist auch noch ein Aspekt, der die Kurzfilme bei „Generation“ so besonders macht, dass uns einige Regisseurinnen und Regisseure, die wir das erste Mal durch ihre kurzen Arbeiten kennenlernen, später noch begleiten. Zum Beispiel Zara Dwinger, die 2019 mit ihrem Kurzfilm Yulia & Juliet bei „14plus“ vertreten war und deren Langfilm Kiddo in diesem Jahr im „Kplus“-Wettbewerb lief.


Short Film Yulia & Juliet (Short of the Week, 05.01.2021)



Aber es geht sogar über unsere Sektion hinaus. So wurde dieses Jahr ein Film des südafrikanischen Regisseurs John Trengove im Wettbewerb gezeigt, dessen erste Berlinale-Teilnahme mit dem Kurzfilm Ibhokhwe (Die Ziege) 2014 bei „14plus“ war. Oder ein anderes berühmtes Beispiel ist Andrew Haigh, der 2009 mit dem Kurzfilm Five Miles Out (Fünf Meilen draußen) bei „Generation Kplus“ vertreten war, später im Panorama und dann 2015 mit 45 Years auch im Wettbewerb. Dass Kurzfilme bei „Generation“ eine Möglichkeit sind, neue Stimmen zu entdecken, ist natürlich auch etwas, was das Programm besonders macht.

Wie präsentiert ihr die Kurzfilmprogramme während des Festivals im Kino?

Wir zeigen die Filme nacheinander weg und am Ende findet das „Q & A“ mit den Filmteams statt. Dabei gehen wir Film für Film vor. Gerade bei den Premieren, wenn wir zu allen Beiträgen Gäste erwarten, macht es das Gespräch einfacher, wenn es konzentriert am Schluss geführt wird.

Das „Q & A“ wird durchmoderiert und dabei kurz der jeweilige Film noch einmal vorgestellt, damit alle wissen, über welchen Beitrag gerade gesprochen wird.

Wir haben es in diesem Jahr in einem Programm tatsächlich anders gemacht, und zwar bei der Vorstellung der „Kurzfilme 1“ bei „Kplus“. Dort kam vor jedem Film eine Moderation, weil wir das erste Mal mit Gebärdensprachdolmetscher*innen für das gesamte Programm zusammengearbeitet haben. Also nicht nur für das Filmgespräch. Vier der fünf Filme hatten keinen Dialog und wurden von den Dolmetscher*innen inhaltlich zusammengefasst. Der fünfte Film, Closing Dynasty, hat Dialog und wurde analog zur Vorführung komplett von den Dolmetscher*innen in Gebärdensprache übersetzt.


Trailer Queenie (Closing Dynasty) (Berlinale, 15.02.2023)



Ich kenne es von den Dokumentarfilmfestivals „doxs!“ und „DOXS RUHR“, dass nach jedem Kurzfilm ein längeres und damit intensives Gespräch geführt wird. Wäre diese Vorgehensweise auch eine Option für euch?

Es sind einfach zwei verschiedene Zugänge. Bei „Generation“ geht es eher um den Austausch von Eindrücken und die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Nichtsdestotrotz ist es auch wichtig, intensive Filmgespräche zu führen, wie es bei diesen Festivals praktiziert wird. Es sind auf jeden Fall zwei verschiedene Formen.

Welchen Beitrag leistet „Generation“, um Kurzfilme stärker in der Kinolandschaft sichtbar zu machen? Gibt es da auch Aktivitäten nach dem Festival?

Es ist eine Frage, die uns beschäftigt, wie wir sozusagen übers Festival hinaus Kino für ein junges Publikum stärken können. Wir haben allerdings diesbezüglich in unserem ersten Jahr noch keine spezifischen Projekte angestoßen.

Was wir selbst beobachten können beziehungsweise an Rückmeldungen bekommen, ist der Umstand, dass es für die Filmemacherinnen und Filmemacher wichtig ist, dass ihre Arbeiten bei „Generation“ und damit im Rahmen eines großen Festivals laufen, weil es meistens dazu führt, dass sie nachher zumindest sehr reichhaltige Festivalkarrieren haben.

Außerdem bestätigen Rückmeldungen aus dem Industriebereich, dass „Generation“ auch für den Vertrieb ganz gut angenommen wird, weil es anschließend für diese Filme in den wenigen verbliebenen Fernsehausstrahlungsmöglichkeiten und jetzt auch im Streaming eine große Offenheit gibt.

Wir beobachten bei uns, aber auch woanders, dass Kurzfilme im Rahmen eines Festivals immer sehr beliebt sind. Es sind ja Programme, die Spaß machen. Gerade dieser Festivalrahmen trägt dazu bei, dass man sich anders auf so eine bunte Mischung an Filmen einlässt. Deshalb ist es schade, dass sich dieses dann nicht so fortträgt im Kino. Wir arbeiten ja viel mit Schulen zusammen, und da merken wir, dass es erst einmal eher als schwierig wahrgenommen wird, mit einem ganzen Programm von Kurzfilmen zu arbeiten. Zumal wir, wie die Berlinale überhaupt, die Vorführrechte nur im Rahmen des Festivals haben und die Kurzfilme danach nicht mehr zur Verfügung stellen können. Aber es gab letztes Jahr eine Aktion vom KiKA, bei der Kurzfilme von verschiedenen Kinderfilmfestivals im Fernsehen regulär ausgestrahlt wurden. Da war „Generation“ auch dabei. Im regulären Kinobetrieb gibt es weniger Möglichkeiten, aber da halten wir Augen und Ohren offen, wo wir einige unserer Kurzfilme unterbringen können.

Ich bin ja noch mit Vorfilmen im Kino aufgewachsen, was den Effekt hatte, dass Kurzfilme gleichberechtigt zu den Spielfilmen wahrgenommen wurden. Was meint ihr, wie die Situation für Kurzfilme im Kinobereich verbessert werden könnte?

Das ist eine Frage, die wahrscheinlich die „AG Kurzfilm“ besser beantworten kann. Ich nehme aus meiner Zeit als Programmkinoarbeiter wahr, dass es ja tatsächlich Angebote gibt. Es gibt nur eine große Zögerlichkeit bei Kinos, diese auch anzunehmen. Ich selbst habe auch Vorfilme für kurze Zeit noch erlebt, nämlich bei meinen ersten Kinobesuchen, so mit sieben, acht Jahren. Da war es noch die Regel, dass es Kurzfilme vor den Hauptfilmen gab. Ich mag das auch, wenn es gut kuratiert ist. Heute begegnet einem diese Praxis im Kinoalltag so gut wie kaum noch, obwohl es tatsächlich Initiativen und Verleihpools gibt, die das relativ niedrigschwellig möglich machen.

Ich kenne ein Kino in Hannover, das immer noch Vorfilme zeigt. Die Betreiber nehmen eine Kurzfilmspende, was wirklich den Effekt hat, dass man diesen Film gezielt wahrnimmt.
 

Barbara Felsmann ist freie Journalistin mit dem Schwerpunkt „Kinder- und Jugendfilm“ sowie Autorin von dokumentarischer Literatur und Rundfunk-Features.