Beeindruckendes Programm mit Fehlstellen

„Generation Kplus“ und „14plus“ in Zeiten von Sparzwang

Barbara Felsmann

Barbara Felsmann ist freie Journalistin mit dem Schwerpunkt „Kinder- und Jugendfilm“ sowie Autorin von dokumentarischer Literatur und Rundfunk-Features.

„Ein fokussierteres, kompakteres Programm“ nannte Sebastian Markt, Leiter von „Generation“, die diesjährige gekürzte Ausgabe der Berlinale-Sektion. Konnten 2023 bei „Generation Kplus“ elf Langfilme und 16 Kurzfilme präsentiert werden, waren es in diesem Jahr acht lange und neun kurze Produktionen, also insgesamt zehn Filme weniger. Bei „14plus“ mussten fünf Lang- und sieben Kurzfilme eingespart werden. Nun kann eine Konzentration nach dem Motto „weniger ist mehr“ auch von Vorteil sein. Wie sich dies tatsächlich im Wettbewerbsprogramm von „Generation“ niedergeschlagen hat, zeigt folgender Beitrag.

Online seit 07.03.2024: https://mediendiskurs.online/beitrag/beeindruckendes-programm-mit-fehlstellen-beitrag-772/

 

 

„Am auffälligsten sind die Kürzungen bei den Kurzfilmen von ‚Kplus‘“, erklärte Sebastian Markt.

Dort hatten wir immer drei Programme für unterschiedliche Altersgruppen und die mussten wir jetzt auf zwei reduzieren. Also das Kurzfilmprogramm, das immer ab vier oder fünf Jahren empfohlen war, gibt es dieses Jahr nicht. Ansonsten haben wir das Programm insgesamt nicht anders kuratiert als in den vergangenen Jahren, haben uns bemüht, ein möglichst breites Spektrum abzubilden.“

Das ist der Sektionsleitung wie dem Auswahlgremium zu großen Teilen auch gelungen, allerdings gab es Defizite gerade für das jüngste Publikum. So war nicht nur das Kurzfilmprogramm 1 weggefallen, es fanden sich im „Kplus“-Angebot lediglich zwei Filme für die Altersgruppe der fünf- bis achtjährigen Kinder. Die Allerjüngsten konnten ihren Spaß bei dem vergnüglichen wie spannenden Animationsfilm Fox and Hare Save the Forest (Fuchs und Hase retten den Wald) von Mascha Halberstad finden. Mascha Halberstad war bereits 2022 mit ihrem witzigen Langfilmdebüt Knor (Oink) um ein Ferkel, eine Enkelin und einen gewieften Großvater bei „Generation“ vertreten und sorgte auch dieses Mal wieder für gute Stimmung im Haus der Kulturen der Welt.

Für Kinder ab sieben Jahren wurde die berührende wie bildgewaltige Koproduktion aus Peru und Chile Raíz (Durch Felsen und Wolken) präsentiert. Im Mittelpunkt dieses Films steht der achtjährige Alpakahirte Feliciano, der mit seiner Familie in einer abgelegenen Andenregion von Peru lebt. Die Tage verbringt er mit dem Hüten der Tiere, seine Freunde sind Hund Rambo und Alpakajunges Ronaldo. Felicianos Welt scheint in Ordnung, zumal die Hoffnung besteht, dass sein Land es schafft, sich nach über 30 Jahren wieder für die Fußballweltmeisterschaft zu qualifizieren. Doch der Schein trügt, denn ein mächtiges Bergbauunternehmen setzt die Gemeinde massiv unter Druck, damit sie ihr Land verkauft. Die Internationale Jury sprach diesem – wie es in ihrer Begründung heißt – „wunderschönen Spielfilm, dessen Bilder die intensivsten Gefühle der Kindheit einfangen“, eine lobende Erwähnung aus.
 


Trailer Raíz (Berlinale - Berlin International Film Festival, 19.01.2024)



Thematisch vielfältige filmische Erzählungen für die Neun- bis Zwölfjährigen

Für die Neun- bis Zwölfjährigen fanden sich im Programm von „Kplus“ sechs Filme mit einem breiten Spektrum an Themen und Geschichten. So geht es in der ästhetisch herausragend fotografierten Produktion aus Korea It’s Okay! (Es ist okay!) um eine hochemotionale Annäherung zwischen der Chefchoreografin einer Ballettschule und ihrer Schülerin In-young, deren Mutter bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Dieser Film riss das Publikum wegen seiner eindringlichen Geschichte, seinen wunderbaren Tanzszenen und den beiden hervorragenden Darstellerinnen (Lee Re als In-young und die mehrfach ausgezeichnete koreanische Schauspielerin Jin Seo-yeon als Choreografin Seol-ah) mit. It’s Okay! war auch der Favorit der Kinderjury und wurde mit dem Gläsernen Bären ausgezeichnet.

„Magisch berührt“ wurde die junge Jury von Anthony Schattemans Langfilmdebüt Young Hearts (Junge Herzen), in dem es um die erste Liebe zweier Jungen geht. Während der 14-jährige Alexander von sich weiß, dass er auf Jungs steht, muss der gleichaltrige Elias erst für sich lernen, seine erwachenden Gefühle für Alexander zu akzeptieren und sie nach außen hin zu vertreten. Young Hearts lebt vor allem durch das unglaublich frische und natürliche Spiel seiner jungen Darsteller Lou Goossens als Elias und Marius De Saeger als Alexander. Die Dramatik in Elias‘ schwierigem Prozess wird leider am Ende des Films in Harmonie aufgelöst, weil alle – ob Mitschülerinnen und Mitschüler, Eltern, Großeltern und sogar Elias‘ Freundin Valerie – sein Coming-out als völlig normal empfinden, ja, geradezu feiern. So verliert die bis dahin sensibel erzählte Geschichte an Glaubwürdigkeit.


Filmausschnitt und Interview Young Hearts | Berlinale | Bärenstark 2024 (DIGGA, 22.02.2024)



Einen leichten Science-Fiction-Ansatz hat die argentinisch-spanische Koproduktion Los tonos mayores (Tonspuren) von Regisseurin Ingrid Pokropek. In ihrem Spielfilmdebüt steht die 14-jährige Ana im Mittelpunkt. Sie hat seit ihrem Unfall eine Metallplatte im Arm, die plötzlich rätselhafte rhythmische Impulse aussendet. Fest davon überzeugt, dass jemand ihr geheime Botschaften senden will, versucht sie fieberhaft, den Code zu knacken. Über seine 100 Minuten hält der Film seine Spannung und findet ein offenes, aber doch versöhnliches Ende.
 

Das Auswahlgremium und die neuen Herausforderungen

Im Programm von „14plus“ waren in diesem Jahr nur neun lange und acht kurze Filme zu sehen. Das Sichtungspensum des Auswahlgremiums allerdings war im Vorfeld so umfangreich gewesen wie in den letzten Jahren. Wie kam das Gremium mit diesem Spagat, von den vielen Angeboten nun noch weniger Filme auswählen zu können, zurecht? „Wir hatten keine grundsätzlich andere Herangehensweise an die Auswahl, sondern haben wie in den anderen Jahren auch versucht, ein möglichst breites Spektrum an interessanten Produktionen für ein junges Publikum abzubilden“, meinte Sebastian Markt. „Für unsere Verhältnisse ist es ein Jahr mit wenig dokumentarischen Formen, aber trotzdem mit einem sehr starken ‚14plus‘-Wettbewerb und bei ‚Kplus‘ wie ‚14plus‘ einer ganzen Reihe von Filmen, die sich mit postmigrantischen Kinder- und Jugendrealitäten auseinandersetzen“. In die Auswahlkommission waren für diese Berlinale neue Mitglieder aufgenommen worden, um „die Perspektiven zu erweitern“, wie Sebastian Markt sagte.

Das heißt, dass es mehr Mitglieder gibt, die nicht weiß sind und eine Antidiskriminierungsperspektive haben. Wir haben einfach versucht, in der Auswahlkommission noch mehr die Diversität unserer Gesellschaft widerzuspiegeln und haben uns verstärkt darum bemüht, die Auswahl aus einem gemeinsamen Diskussionsprozess heraus zu gestalten“.

Herausgekommen ist ein Programm bei „14plus“ mit interessanten und bewegenden Geschichten über die Realität von jungen Leuten in aller Welt. Atmosphärisch dicht gestaltet, ähnelten sich die Filme allerdings in ihrer Erzählweise und dramatischen Struktur. Was in diesem Jahr fehlte, waren schillernde Überraschungen, provokante Themen und eine Genrevielfalt wie in früheren Jahren.

Zwei Dokumentarfilme gehörten zu dieser Ausgabe von „Generation“: Maydegol, das 73‑minütige Porträt einer starken Muay-Thai-Boxerin, sowie der Kurzfilm Songs of Love and Hate, eine Koproduktion aus Nepal und Belgien. In Maydegol stellt die iranische multidisziplinäre Künstlerin und Dokumentarfilmerin Sarvnaz Alambeigi die junge Maydegol vor, die als Immigrantin im Iran lebt und alles daransetzt, eine professionelle Muay-Thai-Boxerin zu werden. Heimlich verdient sie das Geld für die Boxkurse. Dabei geht es Maydegol nicht nur um den Sport, sondern auch darum, sich gegen fremdenfeindliche Übergriffe wehren zu können und die soziale Benachteiligung, der sie als Immigrantin ausgesetzt ist, zu überwinden. Obwohl der Film dicht bei der beharrlichen Maydegol bleibt und die gesellschaftliche Situation im Iran beschreibt, ermutigt er doch generell Jugendliche, egal wo sie leben, um ihre Rechte zu kämpfen. Die Internationale Jury zeichnete Maydegol mit einer Lobenden Erwähnung aus.
 


Trailer Maydegol (Berlinale - Berlin International Film Festival, 02.02.2024)



Auch der kurze Dokumentarfilm Songs of Love And Hate erhielt eine Lobende Erwähnung seitens der Internationalen Jury. Er bezaubert durch seine experimentelle Herangehensweise, denn darin kombiniert Filmemacher Saurav Ghimire Schwarz-Weiß-Aufnahmen seiner nepalesischen Heimat mit Stimmen von Hörerinnen und Hörern einer Ratgebersendung in Beziehungsfragen. Wegen der Abwesenheit des Moderators sprechen sie auf dessen Anrufbeantworter über ihre Liebesprobleme, in der Hoffnung, per Rückruf einen Rat zu bekommen.
 

161 Minuten Film – volle Ladung Kino fürs „14plus“-Publikum

Mutig war die Entscheidung des Auswahlgremiums, dem jungen Publikum einen Film mit einer Länge von zwei Stunden und 40 Minuten zu präsentieren. Doch Sebastian Markt erklärte, dass es bei „14plus“ bereits einmal einen dreistündigen Film gegeben habe, und begründete die Auswahl von Comme le feu (Who by Fire) so: „Es ist ein Film, der einen ganz eigenen Sog entwickelt aus der gekonnt inszenierten Spannung zwischen der kanadischen Wildnis, in der er angesiedelt ist, und der verdichteten Situation im Sommerhaus eines Regisseurs, wo drei Jugendliche einige Tage verbringen. Es ist ein Film, der einen Konflikt erzählt zwischen dem jungen Blick auf die Welt – verkörpert durch diese Jugendlichen – und den damit verbundenen Wünschen und Sehnsüchten sowie gleichzeitig den Frustrationen und Kränkungen älterer Männer, die sich dort breitmachen.“

In der Tat ist dieser Film so spannend und psychologisch genau inszeniert, dass die fast drei Stunden wie im Fluge vergehen: Jeff wird von seinem Freund Max eingeladen, mit ihm, seinem Vater Albert und der älteren Schwester Aliocha, die Ferien in dem Blockhaus des berühmten Filmregisseurs Blake Cadieux zu verbringen. Jeff bewundert Cadieux und ist zudem heimlich in Aliocha verliebt. Doch die Tage in der Einsamkeit werden zur Zerreißprobe für alle Beteiligten. Nicht nur dass sich Blake und Albert, die mal eng befreundet waren und zusammengearbeitet haben, ständig in die Wolle kriegen, auch die Konflikte zwischen den drei Jugendlichen sowie zwischen Jeff und Cadieux nehmen toxische Züge an, die beinahe in einer Katastrophe enden.

Comme le feu von Regisseur und Drehbuchautor Philippe Lesage wurde mit dem Großen Preis der Internationalen Jury ausgezeichnet. In der Begründung heißt es:

In der Tradition von Tschechow und Bergman zeichnet der Film das präzise Porträt eines spezifischen sozialen Milieus und greift die großen Widersprüche des Lebens auf: Liebe und Hass, Reife und Kindlichkeit, Schönheit und Gewalt. Es ist ein Kunstwerk, in dem die Schwächen und Fehler der Erwachsenen die beunruhigende Zukunft der jungen Protagonist*innen spiegeln“.


Den Gläsernen Bären für den Besten Film bei „14plus“ erhielt das berührende Roadmovie Last Swim, das Langspieldebüt von Regisseur Sasha Nathwani. Darin beschreibt er einen ganzen Tag, den die junge Ziba zusammen mit ihren Freundinnen und Freunden durch das sommerliche London streift. Gerade ihre Abschlusszeugnisse erhalten, sind sie alle in Feierlaune. Nur Ziba verliert sich immer wieder in Wehmut, denn sie trägt ein Geheimnis mit sich herum, das ihr Leben wahrscheinlich grundlegend verändern wird. Diese Mischung zwischen Ausgelassenheit sowie praller Lebensfreude und andererseits unterdrückter, existenzieller Angst ist grandios und packend inszeniert.
 

Bemerkenswerte Literaturverfilmung

Mit Ellbogen legte Regisseurin Asli Özarslan ihr Spielfilmdebüt vor, das im diesjährigen Wettbewerb von „Generation“ durch seine Schonungslosigkeit wie auch sein Einfühlungsvermögen herausstach. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman von Fatma Aydemir. Im Mittelpunkt steht Hazal, eine junge Frau mit türkischen Eltern, aufgewachsen in Berlin und auf Jobsuche. Zu ihrem 18. Geburtstag will sie feiern und sich feiern lassen, die ständigen Vorwürfe ihrer Mutter sowie die alltäglichen Erniedrigungen, denen sie sich ausgesetzt fühlt, vergessen. Doch in den Club werden sie und ihre beiden Freundinnen nicht hineingelassen, später in der U-Bahn macht sie ein Student an. Die Mädchen wehren sich und lassen dann ihre gesamte angestaute Wut heraus. Mit dem Ergebnis, dass Hazal wegen Totschlag angeklagt wird und nach Istanbul flieht. Die Erfahrungen, die sie dort machen muss, sind in ihrer Härte mit denen in Berlin nicht zu vergleichen. Doch eine Rückkehr kommt für Hazal nicht in Frage. Sie ist weder bereit, ins Gefängnis zu gehen, noch Reue zu zeigen. Zu stark ist noch die Wut auf die in Deutschland erlittene Ausgrenzung.

Immer ihre Heldin im Blick habend und an ihrer Seite stehend benennt Filmemacherin Asli Özarslan schonungslos auch Hazals dunkle Seiten und hat den Mut zu einem offenen und alles andere als versöhnlichen Ende. Eine Konsequenz, die selten in deutschen Filmen für das junge Publikum zu finden ist.