Auch Männer haben Gefühle
Die Comedy-Serie „Now Apocalypse“ bei RTL+
„Ich schmeiße mich in die Leere und sehe was passiert“, flüstert Ulysses in den bläulich wabernden Nebel der Stadtlandschaft von L.A. Er gehört zu den Protagonisten der im Mittelpunkt der Sitcom stehenden modernen und sehr jungen Bohemien. Er sieht aus wie Johnny Depp, hat die Schauspielerei aber längst gegen einen Nachtwächterjob getauscht, den er nur bekommen hat, weil er mit geliehenem Urin seinen Marihuanakonsum verbergen konnte.
Wie ein freundlicher Vampir schwebt er berauscht mit seinem Fahrrad durch die einsamen nächtlichen Straßen. Meist freihändig. Er fährt durch Blau, durch Grün und Gelb. Beim Rauchen wechselt die Farbe auf Rot – die Farbe seiner Sonnenbrillengläser. Ständig stößt er auf beunruhigende Puzzlesteine, die auf eine grauenhafte Katastrophe hinzudeuten scheinen. Er sucht Gabriel, Isaak und Tyce – eben die große Liebe, die in dieser Serie nur homosexuellen Männern mit Lust und Leichtigkeit gegeben zu sein scheint. Die Heteros können immerhin alle zusammen „Männer haben auch Gefühle“ in der Circle-Jerk-Selbsthilfegruppe skandieren.
Carly, eine Schauspielerin ohne Engagement, arbeitet „in diesen tragischen Scheißzeiten“ als Cam-Girl, da sie schon immer einen Job im Liegen gesucht hat. Ihr Freund Jethro ist als Leichendarsteller in der begehrten Branche erfolgreich. Beim Sex ist er ziemlich rücksichtslos, nervt Carly aber ständig damit, endlich auch zu meditieren. Da macht sie ihn im Sexspiel lieber zum Sub, schlägt ihn, würgt ihn und ermahnt ihn, wenigstens ein totes Baby zu spielen, wenn ihm ein lebendiges nicht gelingen will.
Der Drehbuchautor Ford ist nicht homophob. Er ist einfach nur hetero und monogam und tut doch alles, um seiner geliebten Severine gerecht zu werden, die sich ein Spit-Roast zwischen zwei Männern wünscht und als Astrobiologin ein geheimes Labor leitet, das genau das Phänomen erforscht, dem Ulysses nur unmethodisch hinterherstolpert. „Wir müssen unsere Freiheit leben – so lange sie noch andauert“, beschwört sie Ford, denn sie scheint mehr zu wissen als alle anderen.
Trailer Now Apocalypse (STARZ, 16.01.2019)
In der Serie geht es fast ausschließlich um Sex. Sogar um abgedrehten Sex. Und ist das vielleicht dekadent? Nein. Die Zeit vorher war dekadent. Gibt es irgendeinen Grund, warum man sich wegen seiner sexuellen Neigungen – sofern man damit niemanden belästigt – schlecht fühlen muss? Wer hat etwas davon, wenn irgendjemand sein Leben lang leidet und sich als jämmerlicher Wicht fühlen muss, bloß weil sein einziger Weg, zum Höhepunkt zu kommen, das Betrachten wippender Frauenzehen ist. Beim Sex, Leute, da geht noch was – scheint diese grelle Sitcom in ihren schrillen Farben und Outfits zu suggerieren. Was gibt es noch alles auszuprobieren, zu erkennen, zu bekennen? Es ist Zeit, die Scham fallen zu lassen und zu sagen: Ja, verdammt, ich bin soundso und das ist gut so. Anstatt die Neurosen blühen zu lassen oder sie durch Fress- und Kauflust mühsam im Zaum zu halten. Titel und Planting deuten hellseherisch auf den Weltuntergang und auf die Übernahme durch Reptiloiden-Aliens aus fliegenden Untertassen hin.
Produziert wurde die Serie in der Trump-Zeit, „als die Bösen gewonnen hatten“, wie Salmon Rushdie sagte. Vielleicht wird unterschwellig eine viel realistischere Bedrohung antizipiert, als es Gummi-Aliens je sein könnten. „Schwuler Sex wird Orkane hervorrufen“, beharrte schon der Vater eines Postboten, mit dem Ulysses einen One-Night-Stand hatte.
Die Demokratie findet auch und gerade im Bett statt und muss gegen alle Fanatiker verteidigt werden, die Sex instrumentalisieren, um ihre antimodernistischen Zwangsvorstellungen durchzusetzen. Es gibt Menschen und politische Systeme, denen macht freie Sexualität offenbar so viel Angst, dass sie lieber den Zerfall einer demokratischen Gesellschaft oder sogar einen Krieg in Kauf nehmen, als die Leute einfach so kommen zu lassen, wie sie wollen.
Aber kann man bei ihnen mithilfe der Serie das bunte Licht der Aufklärung versprühen? Wäre ein netter Versuch. Auch wenn Coming-of-Age- und Lebenshilfe-Aspekte zu erkennen sind, bleibt Now Apocalypse doch eher im Genre Kunstfilm und kommuniziert sich vermutlich nur einer bestimmten Gruppe von Rezipient:innen. Lustige Aufklärung für moderne Teenager. Immerhin: Lustige Aufklärung ist die einzige Aufklärung, die funktioniert.
Freigegeben ab …
Die US-Serie zeigt überraschende Situationen rund um Sex und Beziehungsanbahnungen. Zu sehen sind Paare und Individuen bei ihren ehrlichen Versuchen, ihre sexuellen Vorlieben zu entdecken, zu kommunizieren und auszuleben.
Drei Episoden wurden von der FSF geprüft. Zwei wurden für das Spätabendprogramm freigegeben, eine Folge für das Nachtprogramm. Die präsentierten Darstellungen und die Thematisierung von Sexualität sind für 16-Jährige hinreichend dezent gehalten. Für Jugendliche dieser Altersgruppe gibt es außerdem Distanzierungsmöglichkeiten durch den fiktionalen und humorvollen Kontext.
Zwischenmenschliche Sexualität wird nicht mit Gewalt und Herabwürdigungen verbunden. Möglicherweise herausfordernde Szenen erhalten eine deutlich artifizielle Einbettung, so dass sie für 16-Jährige verkraftbar und einzuordnen sind. Lediglich bei einer Episode sah die Mehrheit im Prüfausschuss erst 18-Jährige in der Lage, die Darstellung einer „ungewöhnlichen“ Sexualpraktik angemessen zu verarbeiten.
Bitte beachten Sie:
Bei den Altersfreigaben handelt es sich nicht um pädagogische Empfehlungen, sondern um die Angabe der Altersstufe, für die ein Programm nach Einschätzung der Prüferinnen und Prüfer keine entwicklungsbeeinträchtigenden Wirkungsrisiken mehr bedeutet.
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> Sendezeiten und Altersfreigaben
Hinweis:
Pay-TV-Anbieter oder Streamingdienste können eine Jugendschutzsperre aktivieren, die von den Zuschauer:innen mit der Eingabe einer Jugendschutz-PIN freigeschaltet werden muss. In dem Fall gelten nicht die üblichen Sendezeitbeschränkungen und Schnittauflagen. Weitere Informationen zu Vorschriften und Anforderungen an digitale Vorsperren als Alternative zur Vergabe von Sendezeitbeschränkungen sind im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (§ 5 Abs. 3 Nr. 1; § 9 Abs. 2 JMStV) sowie in der Jugendschutzsatzung der Landesmedienanstalten (§ 2 bis § 5 JSS) zu finden.
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> Jugendschutz bei Streamingdiensten