Hungrige Geister

„Slip“ (Staffel 01)

Uli Wohlers

Dipl. Soz. Päd. Uli Wohlers ist Prüfer bei FSK und FSF. Er studierte u.a. Publizistik und Filmwissenschaft in Dublin und Lüneburg und lebt als freier Autor von Romanen und Drehbüchern in Hamburg, Berlin und Dänemark.

Programm Slip
 Comedy, USA 2023
SenderParamount+, ab 04.08.2023

Online seit 04.10.2023: https://mediendiskurs.online/beitrag/hungrige-geister-beitrag-1124/

 

 

Mae arbeitet als Kuratorin in einem Museum für moderne Kunst. Ihr Mann Elijah ist ein im doppelten Sinne freier Schriftsteller. Frei zu schreiben, was er will und frei von Erwerb und Erfolg. Auf dem Weg zu ihrer Arbeit fragt Mae ihn, ob er sich nicht bald mal ein anderes Hobby suchen will. Ebenso gering gestaltet sich auch sein Interesse an ihrer Arbeit. Nach der Eröffnung ihrer Ausstellung über Buddhas hungrige Geister täuscht er Darmprobleme vor, da er keine Lust hat, mit in eine Bar zu gehen. „Verheiratet sein ist wie Single sein zu zweit“, konstatiert Mae in der Bar. „Es ist epidemisch. Wir Frauen haben die Obsession zu tun, was wir sollen – und nicht was wir wollen.“

Dort lernt sie Eric kennen und lässt sich auf etwas ein, das sie für einen One-Night-Stand hält. Eric überrascht sie, indem er ihr nach langem Darben in der Ehe zu einem gigantischen Orgasmus verhilft. Als Mae am Morgen erwacht, ist sie allein in dem Loft, in dem sie in der Nähe der Tür ihre Schuhsammlung entdeckt. Ihr Staunen wird noch größer, als Eric zur Tür reinkommt. Er war kurz ihre Lieblingshafermilch holen, damit sie wie immer gemeinsam frühstücken können. Sie scheint schon lange mit Eric, der ein Rockstar ist, verheiratet zu sein. Da Mae keine Ahnung hat, wie sie in diesem neuen Leben gelandet ist, fällt ihr die Anpassung schwer. Entnervt von der Flucht vor Paparazzi und von endlosen Beziehungsgesprächen, in denen sie aufgrund ihrer Ahnungslosigkeit nur das Falsche sagen kann, gerät sie in eine Bar und hat mit der Besitzerin Susan Sex auf dem Klo. Prompt erwacht Mae als Susans Partnerin und Mutter der gemeinsamen Tochter Eva.

„Ich glaube, meine Pussy ist ein Wurmloch“, versucht sie ihrer Freundin Gina das Problem begreiflich zu machen. Mae trifft sie nach jeder Transformation, wird aber nur als Teil ihrer momentanen Lebenswelt wahrgenommen. Sie kann sich also niemandem mitteilen und gerät in den ständig wechselnden Welten zunehmend in Panik. Auf der Suche nach ihrem alten Leben hinterfragt sie alles in der modernen Welt, von der sie bis vor Kurzem ein selbstverständlicher Teil war. Ihr Blick auf die Gesellschaft schärft sich. War sie nicht schon vor dem dramatischen Wandel ihres Lebens selbst ein Hungergeist? Eines von jenen Wesen, die immer fressen müssen und niemals satt werden, gefangen zwischen Wollen und Bekommen, loyal nur gegenüber dem eigenen Leiden.
 

Trailer Slip (Paramount+ Deutschland, 04.08.2023)



Je größer Maes Entfremdung wird, desto näher rückt ihr die Kamera. Lächelnd verspeist sie als Obdachlose ein Eiersandwich, das ihr eine Schülerin schenkt. Beim Binge-Eating vor einer Fototapete kommen wir ihrem verschlingenden Mund immer näher, sind sogar beim Kotzen dicht hinter ihr, während sie die dreckige Kloschüssel umarmt. Beim Orgasmus fährt die Linse zum Umschnitt wieder tief in ihren weit aufgerissenen Mund. Einmal scheint sie, aus dem Dunkel kommend, sogar die vierte Wand zu durchbrechen und uns direkt anzusprechen. „Hi, du. Hi. Ich wollte nur mal Hi sagen.“

„Wo bist du nur“, schreit sie ein andermal ihr Spiegelbild an und später ruft sie es von einer Verkehrsinsel aus laut in die Nacht. Vielleicht ist sie zu einer Dakini mutiert. Einer wilden, von Flammen umzüngelten Himmelstänzerin, die beim Orgasmus durch ein Portal in andere Welten slipt. Und wenn sie sich dabei schon selbst nicht finden kann, hilft nur noch die Suche nach dem, was sie verloren hat und was früher so langweilig war. Eine Beziehung. Der tägliche Kampf um das Wahrnehmen der Liebe.

Die Erzählung konfrontiert ihre Heldin mit scheinbar tiefen Weisheiten, überraschenden Wendungen und mit so vielen existenziellen Fragen, dass darüber allmählich das Genre aus dem Blick gerät. Romcom, Sitcom oder überhaupt keine Komödie? Das Lachen bleibt einem wie Fleisch, Toast, Butter und Limonade beim Binge-Eating irgendwo im Hals stecken. Oder es kämpft sich nur sehr langsam an die Oberfläche, etwa wenn ein Mönch Mae als Insel bezeichnet und wissen will, ob sie mal auf einer Insel war und sie „nur auf einer Verkehrsinsel“ antwortet. Spontan fällt einem das Cover des Rolling Stones Albums Exile on Mainstreet ein. Womöglich rutscht Slip ab und zu bewusst ins Genre Kunstfilm bzw. -serie.

Eine weitere Konstante in allen Partnerwelten, die Mae betritt, sind die Ansammlungen der gemeinsamen Schuhe am Rande der Eingangstür. Ein Moment, in dem man sich dann doch wieder abgeholt fühlt und an die eigenen überbordenden Schuhpaare denkt, die es vor allem in den Übergangszeiten schwer machen, die Tür zu öffnen oder zu schließen. So schlimm ist Partnerschaft vielleicht doch gar nicht. Auch erscheint es fast albern, nicht über seine Beziehungsprobleme hinweg zu kommen, wenn man bedenkt, dass Buddha einmal sogar den „Versucher“-Dämon Mara zum Teetrinken eingeladen hat.
 


Freigegeben ab …
 

Der FSF lag die Staffel 1 der Serie zur Prüfung vor. Alle sieben Episoden wurden für das Hauptabendprogramm (Ausstrahlung ab 20.00 Uhr), verbunden mit einer Altersfreigabe ab 12 Jahren, freigegeben und vor allem mit Blick auf eine mögliche sozialethische Desorientierung diskutiert. Enthalten sind lang ausgespielte und visuell relativ explizit gestaltete Sexszenen. Für ab 12-Jährige wurde keine Beeinträchtigung vermutet, da der Sex einvernehmlich und die Szenen dramaturgisch plausibel in die ansonsten weitgehend dialoglastige Handlung integriert sind. Auf der Dialogebene wird zudem mehrmals Drogenkonsum thematisiert, der jedoch nicht bildlich in Szene gesetzt wird. Eine starke weibliche Heldin, die von Fantasyelementen und genregerechten Übertreibungen geprägte Inszenierung bieten hinreichende Distanzierungsmöglichkeiten für ab 12-Jährige im Hauptabendprogramm.
 

Bitte beachten Sie:
Bei den Altersfreigaben handelt es sich nicht um pädagogische Empfehlungen, sondern um die Angabe der Altersstufe, für die ein Programm nach Einschätzung der Prüferinnen und Prüfer keine entwicklungsbeeinträchtigenden Wirkungsrisiken mehr bedeutet.

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Sendezeiten und Altersfreigaben

 

Hinweis:
Pay-TV-Anbieter oder Streamingdienste können eine Jugendschutzsperre aktivieren, die von den Zuschauer:innen mit der Eingabe einer Jugendschutz-PIN freigeschaltet werden muss. In dem Fall gelten nicht die üblichen Sendezeitbeschränkungen und Schnittauflagen. Weitere Informationen zu Vorschriften und Anforderungen an digitale Vorsperren als Alternative zur Vergabe von Sendezeitbeschränkungen sind im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (§ 5 Abs. 3 Nr. 1; § 9 Abs. 2 JMStV) sowie in der Jugendschutzsatzung der Landesmedienanstalten (§ 2 bis § 5 JSS) zu finden.

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Jugendschutz bei Streamingdiensten