Autofiktion im Kino

Wenn Regisseure aus ihrem Leben erzählen

Werner C. Barg

Foto des Autors Werner C. Barg

Prof. Dr. Werner C. Barg ist Autor, Produzent und Dramaturg für Film und Fernsehen sowie Honorarprofessor im Bereich Medienwissenschaft der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF.

In der Literatur ist der Trend zum autofiktionalen Erzählen schon länger zu beobachten. Aktuell entdecken auch international renommierte Regisseure Episoden aus dem eigenen Leben als Filmstoff und knüpfen damit an eine filmhistorische Tradition an. Der Beitrag geht diesem Trend und seinen historischen Wurzeln nach.

Online seit 14.02.2024: https://mediendiskurs.online/beitrag/autofiktion-im-kino-beitrag-772/

 

 

Ziemlich genau vor einem Jahr erhielt Steven Spielberg den Ehrenbären der Internationalen Filmfestspiele Berlin für sein Lebenswerk. Nach der Verleihungszeremonie präsentierte die Berlinale Spielbergs bislang wohl persönlichsten Film Die Fabelmans, der zuvor schon beim Toronto International Film Festival 2022 seine Weltpremiere erlebte. Nicht nur Spielberg, auch andere bekannte Regisseure wie Kenneth Branagh oder Paul Thomas Anderson entdecken in ihren aktuellen Filmen Episoden aus der eigenen Kindheit und Jugendzeit als Filmstoff.
 

Nicht im reinen Sinne autobiografisch

Filme wie Die Fabelmans sind nicht im eigentlichen Sinne autobiografisch. Sie bedienen sich fiktionaler Strukturen, etwa erfundener Erzählsituationen oder in Teilen fiktiver Hauptfiguren, um biografische Erfahrungen zu spiegeln. 1977 brachte der französische Kritiker und Autor Serge Doubrovsky in der Selbstbeschreibung seines Romans Fils den Begriff der Autofiktion in die Debatte ein. Mit diesem versucht die Kulturkritik mittlerweile den „Konflikt zwischen dem Autobiografischen und dem Erfundenen“ (Moritz 2023) zu versöhnen.

Dass sich Autofiktion gerade in den letzten Jahren zu einer „omnipräsenten Modevokabel“ (ebd.) entwickelt hat, mag daran liegen, dass manche Rezipienten der klassischen Erzählung nicht mehr vertrauen, weil diese von Verschwörungsmythen und Lügenkonstruktionen, besonders auch durch die massive Verbreitung von Fake News in den Sozialen Medien, partiell überlagert und diskreditiert ist (vgl. Barg 2020):

Rühmte man früher an ‚erfundenen Texten‘ ihr Potenzial, neue Welten zu erschaffen und der schnöden Alltagsrealität die Möglichkeit eines ‚ganz Anderen‘ gegenüberzustellen, misstraut man diesen Entwürfen inzwischen. Man hält sie für zu unverbindlich, um gesellschaftliche oder individuelle Konflikte angemessen zu behandeln.“ (Moritz 2023)

Dass ein Autor oder Regisseur sich in seinem Roman oder Spielfilm als Urheber authentischer Erfahrung kenntlich macht, indem er auf den autobiographischen Kern seiner Erzählung verweist, gibt den Rezipienten Orientierung und möglicherweise auch Zuversicht, „dass Autofiktionen näher dran sind am Leben, realer, direkter, weniger konstruiert wie ein Roman, dafür aber experimenteller im Stil“ (Sauer 2022, S. 3). Oft hoffen die Leser in der romanhaften Reflexion authentischer Erlebnisse des Autoren auch eigene Erfahrungen  wiederzuerkennen. So antwortet autofiktionales Erzählen auf „aktuelle Diskurse über Identität, Herkunft und politisch-sozialen Standpunkt in Stil und Form“ (ebd.). Diese Einschätzung trifft insbesondere auf die derzeit starke Strömung autofiktionaler Literatur in Frankreich zu, auf Romane der Nobelpreisträgerin Annie Ernaux, auf Werke von Didier Eribon, Emmanuel Carrère oder Camille Laurens. An Episoden aus dem eigenen Leben zeigen sie beispielhaft „die Zerrissenheit der Gesellschaft“ (Moritz 2023):

Über sich selbst im diffusen Licht des Autofiktionalen zu reden, eröffnet augenscheinlich neue Möglichkeiten, sozialen Widersprüchen auf die Spur zu kommen.“ (ebd.)


Sie küßten und sie schlugen ihn

Diese literarische Strömung kann durchaus in der Tradition einer filmhistorischen Bewegung gesehen werden, die gleichfalls in Frankreich ihren Anfang nahm: Das „Kino der Autoren“, das Ende der 1950er-Jahre mit Filmen von Jean-Luc Godard, François Truffaut, Jacques Rivette oder Claude Chabrol erstmals auf sich aufmerksam machte. Hier, wie wenig später auch in anderen Ländern, begannen Regisseure Filme zu machen, in denen sie ihre eigenen Erfahrungen verarbeiteten. Autofiktional besonders konsequent erzählt sind die Antoine-Doinel-Filme von François Truffaut. Beginnend mit Sie küßten und sie schlugen ihn (1959) über Antoine und Colette (1962), Geraubte Küsse (1968), Das Ehedomizil (1970) bis hin zu Liebe auf der Flucht (1979) schuf Truffaut wohl das umfassendste Projekt autofiktionalen Erzählens im Kino. Über 20 Jahre hinweg erfand er die fiktive und zugleich deutlich autobiografisch gefärbte Lebensgeschichte von Antoine Doinel (Jean-Pierre Léaud).

Trailer Sie küßten und sie schlugen ihn (BritishFilmInstitute, 16.03.2009)



In Sie küßten und sie schlugen ihn, dem Auftakt des Zyklus, zeichnet er das Bild von Antoines liebloser Kindheit nach. Der Regisseur verdichtet das Gefühl, in der eigenen Familie stets ein ungeliebtes Kind geblieben zu sein (vgl. Baecque/Toubiana 2004, S. 21 ff.) zu einer deutlichen Kritik an den autoritären Gesellschaftsstrukturen, die zu jener Zeit nicht nur die „Grande Nation“ prägten. Truffaut zeigt in seinem Kinodebüt, wie der 14-jährige Antoine an den harten Verhältnissen kaputt zu gehen droht. Er reißt aus, stiehlt. Doch die Eltern reagieren auf die Hilferufe des Jungen nur mit noch mehr Härte, Gewalt und schließlich Kasernierung. Einzig im Kino findet Antoine zwischenzeitlich einen Fluchtort vor der depravierenden Wirklichkeit. Auch hier sind die Bezüge zwischen Spielfilm und Truffauts Jugendzeit deutlich: „In dieser Zeit […] begann ich mich bewußt als unglückliches Kind zu fühlen. Ich suchte im Kino Zuflucht. Ich stahl dafür Geld, oder ich schlüpfte heimlich hinein“, zitiert „Der Spiegel“ den Regisseur 1974.
 

Die Fabelmans

Mehr als 60 Jahre später wagte sich ein weiterer weltberühmter Regisseur an die Autofiktion: „Es waren meine Eltern, die mich ermunterten, diesen Film zu machen“, zitiert das Boulevardmagazin „Bunte“ (Seitz 2023) aus einem Interview mit Steven Spielberg, das „The Hollywood Reporter“ führte. „Sie drängten mich regelrecht dazu und fragten: ‚Wann wirst du unsere Geschichte erzählen?‘“ (ebd.), so der Regisseur anlässlich der Präsentation seines Films Die Fabelmans auf der letztjährigen Berlinale. Zuvor war Spielberg für seinen Film schon mit dem Golden Globe als bester Regisseur ausgezeichnet worden. „Jeder hält mich für eine Erfolgsgeschichte“, erklärte er in seiner Dankesrede und ergänzte allgemeiner werdend, keiner wisse, „wer wir wirklich sind, bis wir den Mut finden, es zu erzählen“ (ebd.).
 

Trailer The Fabelmans (Universal Pictures, 11.09.2022)



Den Mut, seine Familiengeschichte als die Geschichte der „Fabelmans“ zu erzählen, brachte der Regisseur erst nach dem Tod der Eltern auf. Denn zentrales Erlebnis des jungen Steven Spielberg wie auch des jungen Sammy (Gabriel LaBelle) in Die Fabelmans ist, dass es in der Ehe seiner Eltern Mitzi und Burt (Michelle Williams/Paul Dano) kriselt und sie sich zunehmend voneinander entfernen.

Die jugendliche Hauptfigur darf ihre Filmleidenschaft schon früh durch das Drehen von kleinen 8-mm-Genrefilmen wie Western und Kriegsfilmen ausleben. Dabei entdeckt der Junge auf den selbst gedrehten Aufnahmen eines Familienausflugs, dass seine Mutter Mitzi Arm in Arm mit Vater Burts bestem Freund Bennie (Seth Rogen) im Wald verschwindet, ihn umarmt und küsst. Sammys Familienidyll bricht endgültig zusammen. Nach einer Phase der Abwehr und des Trotzes offenbart er Mitzi die geheim gehaltenen Aufnahmen. Seine Mutter ist am Boden zerstört. Doch den Erosionsprozess ihrer Ehe hält dieses Geheimnis, das Mutter und Sohn für sich behalten, nicht auf. Als Burt, ein begehrter Computerspezialist, einen hoch dotierten Job bei IBM in Kalifornien annimmt, verlässt die Familie Arizona nur widerwillig. Mitzi wird bald dorthin zurückkehren. Sie bekennt, nicht mehr ohne Bennie leben zu können, und lässt sich scheiden.

Geschickt verknüpft Spielberg in seiner Erzählung die authentische Familiengeschichte mit seinen Ambitionen als junger Filmemacher. Durch seine Filmaufnahmen kann der Junge das zwischen den Erwachsenen schon länger schwelende Familiengeheimnis entdecken und die Wahrheit aufklären, während im Familienalltag darüber geschwiegen wird.
 

Reflexionen über Film und Kino

Obwohl in Machart und Stil sehr unterschiedlich, nutzen die Autofiktionen von Truffaut und Spielberg beide die filmische Nachstellung zur Reflexion über die Bedeutung, die Film und Kino für das Leben haben können. Bei Truffaut ist es „die romantische Flucht ins Kino als ‚Ort der harmonischen Dramen‘“ (Der Spiegel 1974), vor dem Hintergrund einer harschen Wirklichkeit. Spielberg zeigt geradewegs das Gegenteil: Die Filmbilder berauben Sammy seiner für Realität gehaltenen Illusion einer Familienidylle und konfrontieren ihn mit einer von ihm als desaströs empfundenen Familiensituation, die ihn in Ängste und Schuldgefühle stürzt. Nur dadurch, dass er seine Mutter mit den kompromittierenden Filmaufnahmen konfrontiert, kann er sich von seinen negativen Gefühlen lösen und die emotionale Kontrolle über die Bilder wiedererlangen.
 

Überwältigung durch filmische „Attraktionen“

Für Spielbergs Mutterfigur Mitzi wird die visuelle Begegnung mit ihrem eigenen Handeln in Sammys Filmaufnahmen zu einem überwältigend starken Gefühlsmoment, zu einem „Kino der Attraktionen“ (Krützen 2004, S. 279 ff.) en miniature. Der Film vergrößert die emotionale Wirkung noch dadurch, dass er Mitzis Reaktion auf das Gesehene ausschließlich in einer langen Großaufnahme präsentiert. Hier reflektiert Spielberg, dessen Blockbuster selbst Klassiker des Attraktionskinos sind, die emotionale Kraft überwältigender Filmbilder, seien sie besonders realistisch, phantastisch oder gruselig.

Gleich zu Beginn von Die Fabelmans hatte er anhand Sammys ersten Kinobesuchs die Gefahren filmischer Überwältigungsstrategien deutlich gemacht: Von der Spannung und Dramatik eines sehr realistisch in Szene gesetzten Zusammenpralls zweier Züge in Cecil DeMilles Monumentalfilm Die größte Schau der Welt (1952) ist der kleine Sammy dermaßen überwältigt, dass er nachts von Alpträumen geplagt wird. Diese kann er erst abstreifen, nachdem ihm die Eltern eine Modelleisenbahn schenken und er mit einer Filmkamera die Szene aus dem Kino nachdrehen und immer wieder ansehen kann. So gewinnt er die Kontrolle über seine Ängste. Hier wird erneut deutlich, wie Spielberg Die Fabelmans nutzt, um eine seiner eigenen Regiemethoden zu reflektieren: Er nutzt die Herstellung bzw. Nachstellung der Attraktionen auch dazu, um die sich mit den Kinoattraktionen entwickelnden starken Emotionen auch für sich selbst (wieder) unter Kontrolle zu bringen.

So wird auch erklärlich, was seinerzeit manche Kritiker irritierte: Spielberg überwachte während der Dreharbeiten zu seinem Holocaust-Film Schindlers Liste zugleich den Schnitt seines zuvor gedrehten Fantasy-Scifi-Blockbusters Jurassic Park (vgl. Palowski 1999, S. 45; Friedman 2006, S. 290 ff.; McBride 2010, S. 414 ff.). Offenbar half Spielberg eine zwischenzeitliche Beschäftigung mit der Dino-Action, die starken Gefühle zu bewältigen, welche die filmische Nacherzählung eines Kapitels der Shoah in dem jüdischstämmigen Regisseur ausgelöst haben mag.
 

Manipulation und Zusammenhalt

So verschweigt Spielberg in Die Fabelmans nicht, was ihm persönlich auch widerfahren ist: Er musste sich als Jugendlicher wie seine Hauptfigur Sammy gegen antisemitische Anfeindungen seitens einzelner Mitschüler zur Wehr setzen. Was als harmonische Familiengeschichte beginnt und sich zum Familiendrama wandelt, nimmt im Schlussteil des zweieinhalbstündigen Films sozialkritische Züge an. Mit dem Umzug der Familie nach Kalifornien muss Sammy auf eine neue Highschool gehen, wo er wegen seiner jüdischen Herkunft gemobbt wird. Spielberg nutzt diesen Moment seiner Biografie erneut, um im Filmgeschehen eine Reflexion über Film und Kino selbst anzustellen. Indem er erzählt, wie seine Hauptfigur den Auftrag, ein Sportfest der Schule filmisch zu dokumentieren, dazu nutzt, den antisemitischen Schüler bloßzustellen, verdeutlicht er die manipulative Kraft des Filmemachers. Andererseits zeigt er, dass durch die Filmvorführung während des Abschlussballs ein Gemeinschaftsgefühl entsteht. Sammys Kino stellt gesellschaftlichen Zusammenhalt her und festigt seine Position in der Schule. Stärker als Truffaut verbindet Spielberg somit die verschiedenen Erzählebenen seiner Autofiktion mit einer Reflexion über die (gesellschaftliche) Bedeutung des Kinos und über seine Art des Filmemachens.
 

Licorice Pizza – versteckte Autofiktion?

Demgegenüber scheint der neue Film von Paul Thomas Anderson kaum autobiografische Bezüge zu haben. In Licorice Pizza, der 2022 in die deutschen Kinos kam, geht es um eine klassische „Boy meets Girl“-Geschichte des 15-jährigen Gary (Cooper Hoffman) und der zehn Jahre älteren Alana (Alana Haim). Gary geht zwar noch zur Schule, sieht sich aber schon als Selfmade-Unternehmer. Im Laufe der Filmhandlung erleidet er Schiffbruch mit zwei Verkaufsideen, bleibt aber stets optimistisch. Gleichwohl glaubt Alana nicht an eine ernsthafte Beziehung mit dem jüngeren Gary. Sie hält sich eher in der Nähe älterer Männer aus dem Film- und Musikbusiness auf und hofft auf eine Karriere im Kulturbereich. Schließlich arbeitet sie im Wahlkampfbüro eines jungen Politikers, den sie anhimmelt. Letztlich sind Garys und Alanas Versuche, schnell einen sozialen Aufstieg zu erreichen, nicht erfolgreich. In Licorice Pizza gibt Anderson dem Publikum wieder einmal Gelegenheit, die Versprechungen des American Dreams kritisch zu hinterfragen. Dabei fängt er in Dekor und Kostüm die Atmosphäre und das Lokalkolorit des Jahres 1973 in Kalifornien so detailgenau ein, als hätte er diese Zeit schon bewusst erlebt.
 

Trailer Licorice Pizza (MGM Studios, 27.09.2021)



Anderson ist Jahrgang 1970. Zu der Zeit, in der sein Film spielt, war er erst drei Jahre alt. Gleichwohl kennt er das Milieu, in dem Licorice Pizza angesiedelt ist, sehr gut. Er ist selbst im San Fernando Valley nahe Hollywood aufgewachsen. So wie Truffaut seinen Debütfilm Sie küßten und sie schlugen ihn in dem Viertel von Paris drehte, in dem er aufgewachsen war, wählt auch Anderson Schulen, Tankstellen und Kinos als Drehorte aus, die er seit seiner Kindheit kennt. Zudem ist er mit Donna Haim, der Mutter seiner Hauptdarstellerin Alana, bekannt und hat für Donnas Band, in der mittlerweile auch Alana spielt, zahlreiche Musikvideos hergestellt. Diese autobiografischen Bezüge legen nahe, dass Andersons Film doch keine reine Fiktion ist, sondern der Regisseur hier eine versteckte Autofiktion produziert hat, indem er seine Erzählung „ein bisschen hinter seine eigenen Kindheitserinnerungen zurückprojiziert“ (Rebhandl 2022). So spielt der Film an Orten, die Anderson wohlbekannt sein dürften, allerdings „in einer interessanten Verschiebung“ nämlich „zwischen eigener und erfundener Teenagerzeit“ (ebd.). Die Figur der Alana könnte hierbei von deren Mutter Donna inspiriert sein, die der Regisseur seit der Schulzeit kennt.
 

Belfast

Deutlich als Autofiktion gekennzeichnet ist demgegenüber Kenneth Branaghs Film Belfast, der ebenfalls 2022 seinen deutschen Kinostart hatte und nun im Stream bei Amazon Prime zu sehen ist. Branaghs Film blendet zurück in das Jahr 1969. In der Figur des 9-jährigen Buddy (Jude Hill) spiegelt Branagh seine Kindheit in Belfast zu Beginn der Unruhen zwischen Protestanten und Katholiken in Nordirland. Buddy lebt mit seinen Eltern (Caitríona Balfe/Jamie Dornan), seinem älteren Bruder Will (Lewis McAskie) und den Großeltern (Judie Dench/Ciáran Hinds), allesamt Protestanten, in einem Arbeiterviertel. Mit den dort wohnenden katholischen Familien leben sie friedlich zusammen, mit einigen sind sie gut befreundet. Doch als militante Protestanten das Viertel überfallen und Katholiken zu terrorisieren beginnen, ist Buddys bislang harmonisch verlaufende Kindheit dahin. Starr vor Entsetzen muss er gleich zu Beginn des Films mitansehen, wie der kriminelle Mob auf der Straße Katholiken verprügelt und ihre Wohnungen anzündet. Mit der sich zuspitzenden Gewalt auf den Straßen von Belfast stellt sich für die Familie bald die Frage, ob sie fortgehen sollten. Buddys Vater arbeitet ohnehin schon in London und kommt die Familie nur alle zwei Wochen besuchen. Für Buddy ist der Verlust der vertrauten Umgebung nur schwer vorstellbar. Doch als sich die Familiensituation durch den Tod seines geliebten Großvaters verändert, ist auch er bereit zu gehen.
 

Trailer Belfast (Focus Features, 23.09.2021)



Medienbiografische Bezüge

Ähnlich wie bei Spielberg enthält auch Branaghs Film popkulturelle Bezüge, die augenzwinkernd-selbstironisch auf spätere Regiearbeiten Branaghs vorverweisen, etwa auf seine Comic-Blockbuster-Verfilmung Thor (2011) oder seine Vorliebe für Musicals. Branagh verankert dadurch hier retrospektiv seinen späteren Werdegang im Filmbusiness medienbiografisch, bindet die Filmreferenzen zugleich aber eng an die Erzählung selbst an. So rekurrieren etwa die Szenen aus Western-Streifen wie Der Mann, der Liberty Valance erschoss (1962) oder Zwölf Uhr mittags (1952), die der Protagonist Buddy mit Spannung im Fernseher verfolgt, auf die erzählte Zeit des Films. Zugleich haben sie kommentierende Funktion für das erzählte Geschehen.
 

Zerstörung der Zivilgesellschaft

So verweist beispielsweise die Dialogzeile „Wollen denn alle hier nur noch herumballern?“, gesprochen von James Stewart als schrulligem Kneipenwirt in Liberty Valance, direkt auf die von Branagh geschilderte Bürgerkriegssituation. Belfast zeigt, wie eine Zivilgesellschaft durch die Gewalt von militanten Extremisten zunächst gestört und letztlich komplett gespalten werden kann. Branagh erzählt dies durch den angsterfüllten Blick des 9-Jährigen, der er einst war. Sein fiktives Ich spiegelt so nicht nur sein eigenes Erleben, sondern ist zugleich Mahnung an ein gegenwärtiges Publikum, es nicht wieder zu solch einer gewaltsamen Spaltung kommen zu lassen. So wird Autofiktion bei Branagh zum Schnittpunkt zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
 

Autofiktionale Zeugnisse des Krieges

Autofiktionales Erzählen zur Aufarbeitung gewaltsamer Erfahrungen ist in der Filmgeschichte selbstverständlich nicht ohne Vorbilder. In Ich war neunzehn verarbeitete DDR-Regisseur Konrad Wolf schon 1968 eigene Erlebnisse als deutscher Exilant in Moskau, der als Offizier der Roten Armee 1945 nach Deutschland zurückkehrt. Im Film Der Spiegel (1975) reflektierte der sowjetische Regisseur Andrei Tarkowski in einem nur schwer zu enträtselnden Montage-Mix aus abgefilmten Gemälden, Dokumentarischem und alptraumhaften Bildsequenzen seine vom Zweiten Weltkrieg überschattete Kindheit und das komplizierte Verhältnis zu seiner Mutter.

Auch im Film The Big Red One (1980) von Regisseur Samuel Fuller werden Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs aufgearbeitet. Hier jedoch ganz unmittelbar aus der Perspektive von Soldaten. Als Angehöriger der 1. Infanteriedivision der US-Armee kämpfte Fuller an allen westeuropäischen Fronten und war an der Befreiung des Konzentrationslagers Falkenau beteiligt. Biografische Elemente arbeitete er durch zwei Zentralfiguren in den Film ein, die sich als Kerntruppe mit ihrem Sergeant (Lee Marvin) von Nordafrika bis nach Belgien durchkämpfen und schließlich ein KZ befreien: Zab (Robert Carradine), der ständig einen Zigarrenstummel im Mund führt, ist wie Fuller Schriftsteller; und Soldat Griff (Mark Hamill) ist ein ausgezeichneter Zeichner und Karikaturist. Auch spielt der Regisseur selbst einen Kriegsberichterstatter, der nach der KZ-Befreiung die überlebenden Häftlinge filmt.
 

Trailer The Big Red One (Warner Bros., 21.07.2014)



Als junger Soldat hatte er 1945 tatsächlich Filmaufnahmen während der Befreiung des KZs Falkenau gedreht. Durch die fiktive Nachstellung, in der sich der Regisseur als älterer Mann nun in seine Situation als junger Soldat zurückversetzt, konnte auch Fuller offenbar die für ihn traumatischen Erlebnisse verarbeiten. Dieser Befund ist dadurch gestützt, dass Fuller nach Fertigstellung von The Big Red One erstmals das historische Filmmaterial aus Falkenau sichtete und später sogar in einem Dokumentarfilm verarbeitete (Fuller u.a. 2002).
 

Fazit

Die Analysebeispiele zeigen, dass ein zentrales Motiv von Filmregisseurinnen und ‑regisseuren darin besteht, sich autofiktionaler Erzählung zu bedienen, um eigene traumatische Erlebnisse aufzuarbeiten. Hierbei ist das audiovisuelle Medium in der inszenierten filmischen Nachstellung dem Erinnerungsbild per se näher als die vergleichsweise abstraktere literarische Darstellung. Dadurch hilft filmische Autofiktion ihren Machern, im fiktionalen Wieder-Sehen das biografisch Erlebte nicht nur nachzuvollziehen, sondern idealerweise in einer Weise zu verarbeiten, dass sie die Erinnerungen und Erfahrungen für sich (wieder) unter Kontrolle bringen können. Im besten Fall erweist sich hierbei die dargestellte Erfahrung als nicht singuläre, sondern als Ausdruck eines Gruppengefühls oder Gruppenerlebnisses und kann daher von vielen Betrachterinnen und Betrachtern autofiktionaler Filme geteilt werden. Dies gilt z.B. für Generationserlebnisse wie Kriege oder Krisen, wie sie etwa in Belfast oder The Big Red One geschildert werden. Es trifft aber ebenso auf die Darstellung individueller Traumata und Ausgrenzungserlebnisse zu, wie dies in Die Fabelmans gezeigt wird.

Ein zweites zentrales Motiv, das autofiktionales Erzählen im Kino prägt, ist die medienbiografische Verankerung persönlicher Erfahrungen durch popkulturelle Bezüge. Die Faszination fürs Kino bei Spielberg, die Liebe zum großen Western-Drama bei Branagh oder die Nachstellung des wilden Treibens von Film- und Musikstars in den Hollywood Hills bei Anderson – fast immer verraten Regisseurinnen und Regisseure in ihren Autofiktionen spezifische Prägungen der eigenen Mediensozialisation und ‑erfahrung. Präsentationen, die allerdings durchaus kritisch zu hinterfragen sind, da die Filmemacherinnen und Filmemacher retrospektiv ein bestimmtes Bild von sich und ihrem Werdegang vermitteln möchten.
 

Quellen:

Baecque, A. de/Toubiana, S.: François Truffaut. Biographie. Berlin 2004

Barg, Werner C.: Eine Realität ist nicht genug. Verschwörungsmythen in Film und Serie. In: mediendiskurs, 29.09.2020. Abrufbar unter: mediendiskurs.online (letzter Zugriff: 11.02.2024)

Der Spiegel: Auf der Suche nach der verlorenen Kindheit.In: Der Spiegel, 16/1974, 14.04.1974. Abrufbar unter: www.spiegel.de (letzter Zugriff: 11.02.2024)

Friedman, L. D.: Citizen Spielberg. Urbana/Chicago 2006

Fuller, S./Fuller, C. L./Rudes, J. H.: A Third Face. My Tale of Writing, Fighting and Filmmaking. New York 2002

Krützen, M.: Dramaturgie des Films. Wie Hollywood erzählt. Frankfurt a. M. 2004

McBride, J.: Steven Spielberg. A Biography. Second Edition. Jackson, Mississippi 2010

Moritz, R.: Die Kunst der Selbsterfindung. Die Autofiktion ist ein beliebtes Genre, weil es Roman und Lebensbeichte in einem verspricht. In: nzz.de, 13.0.2023. Abrufbar unter: www.nzz.de (letzter Zugriff: 11.02.2024)

Palowski, F.: Witness. The Making of Schindler’s List. London 1999

Rebhandl, B.: „Licorice Pizza“: Paul Thomas Andersons kalifornische Jugendträume. In: tip-berlin.de, 26.01.2022. Abrufbar unter: www.tip-berlin.de

Sauer, L.: Autofiktion – das ist literarischer Anarchismus. Über den Trend autofiktionalen Schreibens. In: literaturportal france 2000, 14.05.202. Abrufbar unter:  https://literaturportal-france2000.uni-landau.de (letzter Zugriff: 11.02.2024)

Seitz, G.: Steven Spielberg. Als sich seine Eltern trennten, zerbrach seine Welt. In: Bunte-Magazin, 22.02.2023. Abrufbar unter: www.bunte.de (letzter Zugriff: 11.02.2024)