Nouvelle Women Vague

Frauenschicksale dominieren die Kinoleinwände

Werner C. Barg

Foto des Autors Werner C. Barg

Prof. Dr. Werner C. Barg ist Autor, Produzent und Dramaturg für Film und Fernsehen sowie Honorarprofessor im Bereich Medienwissenschaft der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF.

Ab 14. März 2024 ist der Film The Persian Version in den deutschen Kinos zu sehen. Er bildet den Scheitelpunkt einer Welle von Filmen mit weiblichen Hauptfiguren, die seit Anfang des Jahres über die Leinwände flimmern. Der Beitrag geht der Frage nach, inwieweit diese Filme traditionellen Rollenbildern folgen oder auf die Suche nach Darstellungsformen gehen, um das Leben von Frauen jenseits überkommener Klischees realistischer und differenzierter zu zeigen. 

Online seit 14.03.2024: https://mediendiskurs.online/beitrag/nouvelle-women-vague-beitrag-772/

 

 

Seit Herbst 2023 und massiver noch seit Beginn des Jahres 2024 prägen Filme mit Frauen in der Hauptrolle das Kinoprogramm in Deutschland. Barbara Alberts Bestsellerverfilmung Die Mittagsfrau bildete im Herbst 2023 den Auftakt. Im November folgte der französische Justizthriller Anatomie eines Falls. Darin spielt Sandra Hüller die Hauptrolle, wofür sie im Februar 2024 mit einem César, dem französischen Oscar, als „Beste Darstellerin“ ausgezeichnet wurde. Seit Anfang 2024 erscheinen zu fast jedem Kinostarttermin Filme, in denen weibliche wie männliche Regisseure Geschichten von Frauen erzählen: Am 3. Januar erschien Sofia Coppolas Priscilla, am 11. folgte der deutsche Film 15 Jahre mit Hannah Herzsprung in der Regie von Chris Kraus und am 18. startete Poor Things, der Gewinnerfilm des letztjährigen Filmfestivals von Venedig. Am 25. Januar folgte Killian Riedhofs Stella. Ein Leben., die tragische Geschichte um eine jüdische Denunziantin in der Nazizeit mit Paula Beer in der Titelrolle. Kurz vor der Berlinale brachte Marvel am 14. Februar mit Madame Web noch eine neue Superheldin auf die Leinwand, verkörpert von Dakota Johnson.

Trailer Stella. Ein Leben (KinoCheck, 25.08.2023)



Auch bei der Berlinale, deren Programm im letzten Jahr des künstlerischen Leiters Carlo Chatrian wieder schwerpunktmäßig Arthousefilme zeigte, prägten starke Frauenfiguren das Leinwandgeschehen. Liv Lisa Fries brilliert als Widerstandskämpferin Hilde Coppi in Andreas Dresens Tragödie In Liebe, Eure Hilde. Lily Farhadpour spielt im iranischen Wettbewerbsbeitrag My Favourite Cake die 70-jährige Mahin, die um ihr privates Glück kämpft und sich dabei auch mit den Sittenwächtern der Mullah-Diktatur anlegt. Im dänischen Thriller Vogter ist Borgen-Serienstar Sidse Babett Knudsen zu sehen. Und in Julia von Heinz’ Treasure begibt sich eine Tochter (Lena Dunham) mit ihrem Vater (Stephen Fry) auf die Suche nach ihren jüdischen Wurzeln in Polen, wo beide sich mit den Holocaust-Verbrechen der Deutschen und mit den Nachfahren von polnischen Nazi-Kollaborateuren auseinandersetzen müssen. In sehr kontroverser Weise widmet sich Jonathan Glazers The Zone of Interest – seit dem 29. Februar im Kino – dem Holocaust und präsentiert wiederum Sandra Hüller in ihrer wohl bislang schwierigsten Filmrolle: Sie spielt Hedwig Höß, die Frau des Lagerkommandanten von Auschwitz-Birkenau.

Zum darauffolgenden Starttermin am 7. März erschienen wieder zwei Filme mit weiblichen Hauptfiguren: In Der Zopf erzählt die französische Regisseurin Laetitia Colombani vom Schicksal dreier Frauen auf drei Kontinenten, deren Leben auf besondere Weise verknüpft sind. Mit Drive-Away Dolls verabschiedet sich US-Regisseur Ethan Coen –- zumindest für diesen Streifen – von seinen männerdominierten Gewaltkomödien und dreht zusammen mit seiner langjährigen Cutterin und Ehefrau Tricia Cooke (Drehbuch) eine von Frauen geprägte Gaunerkomödie.

Und aktuell ist nun The Persian Version im Kino zu sehen, eine beim 39. Sundance Film Festival preisgekrönte Produktion der iranisch-US-amerikanischen Regisseurin Maryam Keshavarz. Dieser Film stellt in mehrfacher Hinsicht einen Schlüsselfilm für die neue Frauenbewegung im Kino dar.
 

Trailer The Persian Version (KinoCheck, 26.06.2023)



The Persian Version

Keshavarz‘ Film bündelt einige Themen und Figurenmotive, die auch andere aktuelle Filme mit weiblichen Hauptfiguren auszeichnen, erzählt diese aber auf eine erfrischende, die Filmkunst bereichernde Weise. Im Mittelpunkt steht die junge Leila (Layla Mohammadi). Sie ist hin- und hergerissen zwischen den traditionellen Rollenbildern ihrer aus dem Iran in die USA eingewanderten Familie und den queeren Standards der offenen New Yorker LGBT+-Communitys. Der Konflikt mit ihrer Mutter Shireen (Niousha Noor) setzt Leila besonders zu. Shireen scheint tief in den traditionellen Frauen- und Familienbildern ihrer Heimat verhaftet zu sein. Und dass, obwohl sie zugleich eine selbstbewusste und erfolgreiche Geschäftsfrau ist, die die Familie auch finanziell über Wasser hält. Die von ihr in Leila gesetzten Hoffnungen und Erwartungen kann und will diese nicht erfüllen. Leila lebt ihr eigenes Leben, wobei sie sich als Iranerin in den USA auch nicht sehr heimisch fühlt.

Leilas ganz persönlichen Clash of Cultures erzählt die Regisseurin dabei keineswegs sauertöpfisch-ernst. Eine unterhaltsame Mischung aus Tanzeinlagen im Bollywoodstil, prägnant eingesetzte Popmusik und assoziative Montagen mit einem bissig-ironischen verbalen Kommentar spiegelt die Zerrissenheit der Protagonistin. Als Leila von Max (Tom Byrne) – der einen Großteil des Films in Drag erscheint – ein Kind erwartet und die Familie wegen der Erkrankung von Vater Ali Reza (Bijan Daneshmand) häufiger als Leila lieb ist zusammenkommt, eskaliert der Konflikt mit ihrer traditionsbewussten Mutter. Doch in der Mitte des Films wechselt Regisseurin Keshavarz überraschend sowohl die Handlungsebene als auch die Tonalität des Films, die ernster und dramatischer wird.


Doch in der Mitte des Films wechselt Regisseurin Keshavarz überraschend sowohl die Handlungsebene als auch die Tonalität des Films, die ernster und dramatischer wird.“


Zunächst in einer groß angelegten Rückblende, später in einer Parallelmontage mit der Gegenwartsebene, erzählt ihr Film nun die schicksalhaft verstrickte Geschichte der Eltern im Iran vor der Emigration. Durch diesen erzählerischen Trick gelingt es der Regisseurin, die psychologischen Motive sowohl der Mutter- als auch der Tochter-Figur ihres Films glaubwürdig darzustellen. Shireens Verhaltensweisen, ihre Härte und ihre Unerbittlichkeit, werden nachvollziehbar.

Die Schwangerschaft und die Mutterschaft beider Frauen werden dabei zum zentralen Handlungsmotiv. Im Fall von Shireen endet deren erste Schwangerschaft unter den Bedingungen patriarchischer Herrschaftsverhältnisse tragisch; im Fall von Leila besteht die Hoffnung auf Glück. Das Plädoyer für ein selbstbestimmtes Leben aller Frauen, egal, welchem Kulturkreis sie entstammen, macht der Film am Ende überdeutlich. Die kitschig übersteigerte Sentimentalität der Schlusssequenz schmälert die Glaubwürdigkeit der Erzählung, nimmt ihr aber letztlich nichts von ihrer Schärfe und Gesellschaftskritik. 
 

Mutterschaft als Figurenmotiv

Das Glück, aber auch die Last und die Verantwortung Mutter zu sein, bestimmt das Handeln vieler Hauptfiguren in aktuellen „Frauenfilmen“. Besonders im historischen Film spielt die Frage von Mutterschaft und weiblicher Selbstbestimmtheit eine wichtige Rolle. In Die Mittagsfrau ergründet Regisseurin Barbara Albert auf der Grundlage des gleichnamigen Romanerfolgs von Julia Franck die Motive einer Mutter (Mala Emde), die inmitten der Wirren am Ende des Zweiten Weltkriegs ihren 7-jährigen Sohn auf einem Bahnsteig zurücklässt.

Trailer Die Mittagsfrau (KinoCheck Indie, 17.07.2023)



In The Zone of Interest zeigt Regisseur Jonathan Glazer das Leben von Hedwig Höß, der Frau des Lagerkommandanten Rudolf Höß (Christian Friedel), als Kleinbürger-Idyll neben dem Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Hedwig geht ganz in ihren Funktionen als Mutter, Gärtnerin und Chefin des Haushalts in der Villa Höß auf. Ab und zu blitzt ihr rassistischer Glaube auf, privilegiertes Mitglied eines „deutschen Herrenvolkes“ zu sein, etwa in den barschen Anweisungen gegenüber ihrem Personal. Die Gräuel hinter den Lagermauern werden nicht gezeigt, einzig die Soundebene deutet den Holocaust an: Das ständige Dröhnen der Krematoriumsöfen durchzieht die Szenen im Hause Höß.


Die Gräuel hinter den Lagermauern werden nicht gezeigt, einzig die Soundebene deutet den Holocaust an: Das ständige Dröhnen der Krematoriumsöfen durchzieht die Szenen im Hause Höß.“


Das Stampfen der Dampflokomotiven an den nahe gelegenen Rampen, wo die Menschen aus den Deportationszügen für die Arbeit oder direkt für die Ermordung in den Gaskammern selektiert werden, nehmen die Bewohner der Villa Höß ungerührt hin, ebenso wie die gelegentlichen Schreie. Nur Hedwigs Mutter (Imogen Kogge) und eine der polnischen Hausangestellten halten es offensichtlich nicht aus; erstere bricht ihren Besuch schnell und heimlich ab, während sich letztere nachts mit Alkohol betäubt. Hedwig ficht das alles nicht an. Einzig als Rudolf die Versetzung nach Berlin droht und sie ihr Idyll gefährdet sieht, kommt es zum Streit zwischen den Eheleuten – ein fiktiver Konflikt, denn in der Realität folgte Hedwig mit der Familie ihrem Mann 1944 umstandslos nach Ravensbrück, wo er im dortigen KZ seine verbrecherischen Vernichtungsaktionen fortsetzte.

The Zone of Interest blendet, anders als der dem Film zugrundeliegende Roman von Martin Amis, die Perspektive der Opfer konsequent aus. Glazers Film – gerade mit dem Oscar als „Bester internationaler Film“ ausgezeichnet – ist ein Kunstexperiment, das die Welt der Villa Höß mit Hedwig als Zentralfigur zu einer Ausgeburt jener „Banalität des Bösen“ stilisiert, die Hannah Arendt (2011) Ende der 1960er-Jahre schon am Beispiel des Naziverbrechers Adolf Eichmann zu beschreiben und zu begreifen versuchte. Hierzu bedient sich der Regisseur formaler filmischer Mittel, z. B. einer expliziten Tonebene, verstörender Musik und zahlreicher Montageverfremdungen wie Farbblenden, Negativ- und Schwarzbild, um das Grauen von Auschwitz präsent zu machen, ohne es zu zeigen. Dieses filmkünstlerische Konzept funktioniert als kritischer Beitrag und als neue Perspektive auf die deutschen Holocaust-Verbrechen nur unter der Voraussetzung, dass der Zuschauer die historischen Tatsachen kennt. Solch ein Kino für Kundige läuft angesichts der aktuellen Zeitläufte Gefahr, falsch verstanden zu werden. Wie mögen wohl geschichtsvergessene oder sogar geschichtsverblendete Menschen, von denen es in der Gesellschaft aktuell einige gibt, das ungebrochene Familienglück am Rande von Auschwitz wahrnehmen?


Wie mögen wohl geschichtsvergessene oder sogar geschichtsverblendete Menschen, von denen es in der Gesellschaft aktuell einige gibt, das ungebrochene Familienglück am Rande von Auschwitz wahrnehmen?


 

Entpolitisierung einer Widerstandskämpferin

Auch Andreas Dresen blendet in In Liebe, Eure Hilde die politischen Hintergründe seiner Geschichte um die deutsche Widerstandskämpferin Hilde Coppi (Liv Lisa Fries) weitgehend aus und leistet damit zusammen mit der Drehbuchautorin Laila Stieler einer Entpolitisierung historischen Geschehens Vorschub. In ihrem Film fällt kaum ein Wort zu den politischen Zielen der kommunistischen Widerstandsgruppe um Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack, der Hilde und ihr Mann Hans angehörten und die von der Gestapo „Rote Kapelle“ genannt wurde. Der Film, der seine Weltpremiere während der Berlinale erlebte, reduziert Hilde Coppi auf das Bild einer Frau, die aus Liebe zu ihrem Mann geholfen hat, den Widerstand der Gruppe gegen Hitler zu organisieren. Sie wird von Hans schwanger, kurz darauf verhaftet und trägt ihr Kind im Gefängnis aus. Die Mutterschaft, so zeigen es Dresen/Stieler, wird für ihre Hauptfigur unter den schweren Haftbedingungen in einem nationalsozialistischen Gefängnis zum Lebenssinn und zum letzten Hoffnungsschimmer vor der drohenden Hinrichtung.

Trailer In Liebe, Eure Hilde (vipmagazin Kino, 28.02.2024)



Diese Figurenkonzeption funktioniert als Basis für eine erschütternde Filmtragödie sehr gut und gibt Hauptdarstellerin Liv Lisa Fries die Gelegenheit, ihr enormes schauspielerisches Können erneut unter Beweis zu stellen. Sehr modern ist dieses Frauenbild allerdings nicht und es wird der authentischen Person Hilde Coppi als Kämpferin gegen die NS-Diktatur wohl kaum gerecht – und das, obwohl (oder vielleicht auch weil) ihr seinerzeit im Gefängnis geborener Sohn Hans Coppi jr., mittlerweile 82 Jahre alt, als historischer Berater an Dresens Film beteiligt war.
 

Das Trauma einer Aufseherin

Der Thriller Vogter (dt.: Aufseher), der ebenfalls seine Weltpremiere bei der diesjährigen Berlinale erlebte und im Herbst zunächst in den dänischen Kinos zu sehen sein wird, führt das Publikum wiederum in eine Strafanstalt, allerdings im Dänemark der Gegenwart. Eva Hansen (Sidse Babett Knudsen) arbeitet dort als Aufseherin. Sie trägt ein schweres Trauma in sich, das mit ihrer eigenen Mutterschaft verbunden ist: Ihr Sohn Simon war straffällig geworden und wurde in einem Gefängnis von dem Zellengenossen Mikkel Iverson (Sebastian Bull) erschlagen. Jetzt wird Mikkel in den Hochsicherheitstrakt von Evas Gefängnis überstellt. Die Aufseherin lässt sich dorthin versetzen, um sich an Mikkel zu rächen. Sie provoziert und schikaniert den extrem gewaltbereiten Schwerverbrecher, der unter massivem Kontrollverlust leidet und sich wegen seiner Wutausbrüche schon bald in Einzelhaft wiederfindet. Als Eva allerdings beobachtet, wie Mikkel von seiner Mutter besucht wird und diese versucht, liebevoll mit ihm umzugehen, erinnert sie sich an ihr eigenes Versagen gegenüber Simon. Sie fühlt sich schuldig am Tod ihres Sohnes. Ihre Rachegefühle für Mikkel beginnen sich mit Schuld- und Muttergefühlen zu vermischen. Eva verändert ihr Verhalten gegenüber dem Gewalttäter und löst dadurch eine Katastrophe aus.

Die Traumabewältigung einer sich schuldig fühlenden Mutter spielt Hauptdarstellerin Knudsen mit großer Intensität. Allerdings ist die Handlung des Films von Gustav Möller sehr konstruiert und wirkt angesichts des strengen Reglements, dem Justizbeamte in der Realität im Strafvollzug unterliegen, wenig plausibel. Dadurch wird letztlich auch die psychologisch präzise motivierte und inszenierte Entwicklung der Hauptfigur geschwächt und erscheint insgesamt unrealistisch.
 

Vielschichtige Frauenbilder

Regisseurin Keshavarz ist es in The Persian Version deshalb so gut gelungen, ein vielschichtiges Bild ihrer beiden zentralen Frauenfiguren zu zeichnen, weil sie deren Zerrissenheit zwischen einer selbstbestimmten Lebensweise und den Ansprüchen archaischer Rollenmuster psychologisch glaubwürdig entwickelt. Dieser Zwiespalt zwischen Tradition und Moderne prägt neben, oft aber auch verbunden mit dem Thema der Mutterschaft das Handeln vieler weiblicher Hauptfiguren aktueller Filme.

In ihrem Biopic Priscilla zeichnet Regisseurin Sofia Coppola das Leben von Priscilla Beaulieu (Cailee Spaeny) als eine Geschichte von weiblicher Erweckung und Selbstbehauptung an der Seite des umschwärmten Popstars Elvis Presley (Jacob Elordi) nach. In Coppolas Inszenierung mündet Priscillas Geschichte schließlich in der Selbstermächtigung der Hauptfigur, womit ihre Loslösung von tradierten Ehevorstellungen verbunden ist. Wie schwierig weibliche Selbstbehauptung in einer traditionell patriarchisch gelebten heterosexuellen Beziehung sein kann, zeigt auch Justine Triet in Anatomie eines Falls. Als ihr Mann Samuel (Samuel Theis) nach einem Sturz tot vor dem Landhaus in den Schweizer Alpen gefunden wird, wird seine Frau Sandra (Sandra Hüller) vor Gericht gestellt. Während der Staatsanwalt mit aggressiven Methoden versucht, Sandra des Mordes zu überführen, entfaltet sich im Laufe des Gerichtsverfahrens ein komplexes Ehe- und Familiendrama, das schließlich auch dem Prozess eine überraschende Wendung gibt.

Trailer Anatomie eines Falls (KinoCheck, 16.10.2023)



Der Film der französischen Regisseurin ist nur vordergründig ein Justizthriller. Vielmehr erzählt Triet von den menschlichen Abgründen, die in einer auf traditionelle Rollenmuster gründenden Beziehung aufbrechen können, wenn ein beruflich gescheiterter, frustrierter Mann sich gegenüber seiner erfolgreichen Frau zurückgesetzt fühlt und diese zugleich ihr Recht auf Selbstständigkeit, Glück und Erfolg einklagt. Der Film zeigt all das in einer ausgefeilten Rückblendentechnik anhand weniger aber bedeutsamer Details. Dem liegt ein hervorragendes Originaldrehbuch zugrunde, für das Justine Triet und Co-Autor Arthur Harari gerade mit einem Oscar ausgezeichnet wurden. 
 

Eine Frauenfigur, wie sie im Kino kaum zu sehen ist

Ein kraftvolles und mehrdimensionales Bild seiner weiblichen Hauptfigur präsentiert auch Regisseur Chris Kraus in 15 Jahre, der an den Vorgängerfilm Vier Minuten anknüpft. Hier zeigte Kraus 2006 das Bildnis einer jungen Frau, der begnadeten Pianistin Jenny (Hannah Herzsprung), die vom Vater missbraucht und von ihrem Freund verraten wurde, nachdem sie dessen Mord an ihrem Vater auf sich nahm. Jetzt, 15 Jahre später, hat Jenny (erneut Hannah Herzsprung) die Haftstrafe verbüßt. In der meditativen Ruhe einer christlichen Sekte versucht sie, ihre Wut- und Rachegefühle unter Kontrolle zu bringen. Einerseits hochsensibel und intelligent, andererseits immer wieder von Gewaltausbrüchen affektgesteuert, bringt Jenny die Widersprüche ihrer Persönlichkeit nur schwer zusammen. Als sie in dem Popmusiker Gimmemore (Albrecht Schuch), Star einer TV-Casting-Show, ihren Ex-Freund wiedererkennt, werden ihre Rachegefühle übermächtig. Erst durch die Annäherung an ihre Nemesis kann sie ihre negativen Gefühle überwinden.

In Herzsprungs grandioser Verkörperung erweckt Autor/Regisseur Kraus erneut eine Frauenfigur zum Leben, wie man sie im Film lange suchen muss. Zumeist, etwa auch in Vogler, bleiben die Rollen gewalttätiger Systemsprenger männlichen Schauspielern vorbehalten, weil man affektgesteuertes Gewaltverhalten eher Männern zuschreibt. Das Verdienst von Kraus ist es, Herzsprung den darstellerischen Raum zu geben, ihre Figur aus deren Enttäuschungen und Demütigungen heraus sehr differenziert motivieren zu dürfen. So kann das Publikum Jennys Schmerz und ihre Sehnsucht nach Erlösung sehr gut nachvollziehen und die nur schwer erträglichen Gewaltausbrüche der Hauptfigur verkommen nicht zu bloßer Effekthascherei.
 

Varianten des Weiblichen in aktuellen Genrefilmen

Genau diese Effekthascherei geschieht in Drive-Away Dolls. In seiner ersten Soloregie nach der langjährigen Zusammenarbeit mit seinem Bruder Joel dreht Ethan Coen gemeinsam mit Drehbuchautorin Tricia Cooke die üblich männlich geprägten Genreklischees einfach um. So wird die Hauptfigur, die quirlige junge Jamie (Margaret Qualley), zu einer grell ausgeschmückten, sexuell permanent aktiven lesbischen „Frauenheldin“. Gemeinsam mit ihrer schüchternen Freundin Marian (Geraldine Viswanathan) tapst sie bei einem gemeinsamen Roadtrip zufällig in eine Mafia-Intrige hinein, die sich als Persiflage auf Phallokratie entpuppt und leider gänzlich seicht und banal aufgelöst wird.

Interessanter ist da schon Millers Girl, das Regiedebüt von Jade Halley Bartlett, das ebenso wie The Persian Version seit 12. März 2024 in den deutschen Kinos zu sehen ist. Auf der Grundlage ihres eigenen, literarisch raffiniert ausgefeilten Drehbuchs erzählt die Regisseurin den Lolita-Stoff aus der Perspektive einer jungen Frau als Coming-of-Age-Geschichte einer Schülerin (Jenna Ortega). Sie nutzt ihr Schreibtalent, um ihren Literaturlehrer (Martin Freeman) mit einem Text im pornografischen Stil Henry Millers zur Verführung anzuregen. Der Lehrer hatte der Schülerin zuvor zweideutige Avancen gemacht, weist sie nun aber aufgrund der Vulgarität ihres Textes zurück. Die enttäuschte Schülerin rächt sich und erlangt so – zynische Pointe des Films – die Initiation zur Autorin.

Trailer Miller's Girl (KinoCheck, 12.05.2023)



Einem anderen legendären Erzählmythos nähert sich der griechische Regisseur Yorgos Lanthimos in seinem neuen Fantasyfilm Poor Things: Mit cineastischem Raffinement erzählt er die Geschichte seiner Hauptfigur Bella, einer aus dem Totenreich wiedererweckten jungen Frau im 19. Jahrhundert, als amüsante Variante des Frankenstein-Mythos und als groß angelegte Kulturgeschichte weiblicher Emanzipation mit vielen Verweisen auf Popkultur, Sci-Fi- und Fantasy-Motive. Emma Stone wurde für ihre brillante Verkörperung der Hauptfigur mit dem Oscar als „Beste Hauptdarstellerin“ ausgezeichnet; für sein Production Design, sein Kostümbild und für Make-up und Frisuren räumte Lanthimos‘ phantasievolle Erzählung drei weitere Oscars ab.
 

Drei Frauen, drei Kontinente

Laetitia Colombanis Der Zopf schließlich greift die Idee einer interkulturellen Betrachtung von Frauenbildern auf, verfolgt sie aber noch konsequenter als Maryam Keshavarz in The Persian Version. In Der Zopf werden die Schicksale gleich dreier Frauen in drei unterschiedlichen Kulturkreisen beleuchtet. Im Vergleich zu Keshavarz‘ Film ist dieser recht konventionell erzählt, überzeugt aber durch die überraschende Idee, eine vermeintlich alltägliche Nebensache zum gemeinsamen Nenner im Leben der drei Frauen zu machen.

In Indien kämpft Smita (Mia Maelzer) gegen ihr Los, als „Unberührbare“ am untersten Ende der Gesellschaftsskala zu stehen. Sie möchte, dass es ihrer Tochter einmal besser geht. Dazu müsste die Tochter aber in die Schule gehen und Bildung erwerben, was „Unberührbaren“ untersagt ist. Smita hat Geld gespart, das ihr Mann dem Brahmanen, einem Lehrer, gibt, damit ihr Kind die Schule besuchen darf. Doch Smita wird betrogen. Sie holt sich ihr Geld zurück und flieht mit dem Kind zum Tempel einer Gottheit, der sie schon zeit ihres Lebens Tribut zollen möchte, in der Hoffnung, anschließend mit ihrer Familie privilegierter leben zu können. Die Reise erweist sich als gefährlich. Überall im Land lauern Gewalt und Bosheit.

Auf den ersten Blick scheint das Leben der jungen Giulia (Fotinì Peluso) im italienischen Monopoli da schon ruhiger zu verlaufen. Sie arbeitet in der väterlichen Perückenmanufaktur und freundet sich zaghaft mit dem indischen Einwanderer Kamal (Avi Nash) an. Als ihr Vater nach einem Unfall ins Koma fällt und der Familie droht, die Manufaktur zu verlieren, nimmt Giulia die Geschicke des Familienbetriebs in die Hand und findet gemeinsam mit Kamal eine Lösung, die mit Smitas Geschichte in Indien zu tun hat.

Parallel zu diesen beiden Handlungssträngen und von ihnen episodenhaft immer wieder unterschnitten, erzählt Colombani die Geschichte der renommierten kanadischen Anwältin Sarah (Kim Raver). Sie ist auf der Karriereleiter weit oben angekommen. Doch eine Krebsdiagnose durchkreuzt ihre beruflichen Ambitionen. Sie muss erkennen, dass sie die von Männern gesetzten Leistungsstandards, denen sie sich verschrieben hatte, nicht mehr wird erfüllen können, wenn sie die Krankheit überleben will.

Mit seiner multiperspektivischen Erzählweise bündelt Der Zopf zentrale Themen und Motive aktueller Filme mit weiblicher Hauptfigur: Die Indien-Episode präsentiert das Bildnis einer Frau als Mutter und Beschützerin ihres Kindes in einer von Grausamkeiten geprägten Welt; der Italien-Teil zeigt die Selbstbehauptung, schließlich die Selbstermächtigung einer jungen Frau; der Kanada-Abschnitt der Umgang einer erfolgreichen Frau im Widerstreit zwischen Karriere und Privatleben.
 

Konservative Lösung zentraler Konflikte

Die Lösungen für die Konflikte in Colombanis Film sind allerdings alles andere als progressiv, weil sie den Status quo konventioneller Rollenmuster bestätigen: Die Anwältin Sarah zieht sich in die Privatheit zurück und findet mit ihren Kindern ein neues Familienglück; Giulia geht mit Kamal eine klassische Paarbeziehung ein, um den Standard ihres bisheriges Leben zu retten; und Smita setzt alle ihre Hoffnungen auf die Religion. In realistischer, allerdings nicht in bewertender Weise, weist Colombani auf die Kluft zwischen der materiellen Ausbeutung religiösen Glaubens im globalen Süden und deren Auswertung im reichen Norden in den Lieferketten eines weltweit agierenden Kapitalismus hin. Die Gemeinsamkeiten, welche die Parallelführung der drei Geschichten ermöglicht, kann dabei durchaus kritisch bewertet werden. So schreibt die Kritikerin Joana Müller auf filmstarts.de:

Der Zopf‘[…] will uns mit beinahe schon manipulativen Stilmitteln letztendlich Kapitalismus und Ausbeutung als wundervoll-verbindendes Element verkaufen“ (Müller 2024).

Trailer Der Zopf (KinoCheck, 10.01.2024)



Fazit

Während namhafte Schauspielerinnen in Deutschland jüngst das Frauenbild im Fernsehen, speziell die Darstellung älterer Frauen, als respektlos, ignorant und insgesamt „unterirdisch“ anprangerten (vgl. Rothammer 2024) und eine aktuelle US-Studie bescheinigt, dass im Hollywoodfilm der Anteil an weiblichen Hauptfiguren im Kinojahr 2023 auf den Stand von 2010 gesunken ist (Spiegel Kultur 2024), entwickelt sich in der unabhängigen internationalen Filmproduktion durchaus ein anderer Trend. Denn im Arthousefilm gibt es aktuell mehr Produktionen mit weiblichen Hauptfiguren, die im Kino und auf Festivals immer deutlicher zur Geltung kommen und sowohl traditionelle Rollenmuster reproduzieren als auch zunehmend innovative und differenzierte Frauenbilder präsentieren. Besonders die historischen Filmdramen zeigen, ebenso wie Filme, die das Leben von Frauen in archaischen Gesellschaften thematisieren, wie stark Frauen dort und in früheren Epochen unter dem vermeintlich unveränderlichen Schicksal des Patriarchats gelitten haben bzw. leiden. Sie veranschaulichen aber auch, wie sie sich gegen eine von Männern dominierte Welt zur Wehr setzen. Die Gegenwartsfilme zeigen vermehrt, wie Frauen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und hierbei differenzierte Frauenfiguren als Role Model jenseits überkommener Klischees schaffen.
 

Quellen:

Arendt, H.: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München 2011 (Deutsche Erstausgabe: 1968)

Müller, J.: Starkes Konzept ohne Weitsicht. In: filmstarts.de. Abrufbar unter: www.filmstarts.de (letzter Zugriff: 11.03.2023)

Rothammer, E.: Deutsche TV-Größe außer sich: „Frauenbild im Fernsehen ist unterirdisch“. In: Merkur.de, 12.01.2024. Abrufbar unter: www.merkur.de (letzter Zugriff: 11.03.2023)

Spiegel Kultur: Trotz „Barbie“. Frauenanteil bei Hollywood-Hauptfiguren so niedrig wie 2020. In: Spiegel Kultur, 21.02.2024. Abrufbar unter: www.spiegel.de (letzter Zugriff: 11.03.2023)