Die Renaissance des Genrefilms im Stream
Von toughen Actionheldinnen, trotteligen Detektiven und cleveren Dieben
Schon vor der pandemiebedingten Krise des Kinos ab dem Frühjahr 2020 bemühten sich Netflix, Amazon und Co. darum, renommierte Filmkünstler für die Produktion von Filmen zu gewinnen. Dabei ging und geht es vornehmlich um Genrefilme, die exklusiv für den jeweiligen Streamingdienst hergestellt werden. Einigen wenigen ihrer sogenannten „originals“ spendieren die Streamer auch einen Kinostart, um den Machern mit ihren Filmen Chancen bei bedeutsamen US-Awards für Kinoproduktionen wie den Golden Globes oder dem Oscar zu sichern. Das Kalkül der Streamingdienste ist es, durch mögliche Auszeichnungen ihr Angebot und die eigene Marke aufzuwerten. So geschehen mit der Netflix-Produktion Roma (Mexiko/USA 2018) oder Martin Scorseses Mafiafilm The Irishman (USA 2019), der ebenfalls von Netflix produziert wurde (vgl. Barg 2019).
Woody Allens kurzer Ausflug zu Amazon
Schon 2015 konnte Amazon Studios, die firmeneigene Filmproduktionsgesellschaft, Komödienaltmeister Woody Allen für die sechsteilige Miniserie Crisis in Six Scenes (USA 2016) gewinnen (vgl. Pakalski 2015). Einen anschließenden Produktionsdeal mit Allen über vier Spielfilme ließ Amazon platzen, als im Zuge der #MeToo-Debatte 2018 erneut Missbrauchsvorwürfe gegen den Regisseur erhoben wurden. Die Vorwürfe waren erstmals 1992 laut geworden, hatten damals aber nicht bewiesen werden können. Allen sah sich zu Unrecht verfolgt. 2019 zog er gegen Amazon vor Gericht und erreichte einen millionenschweren Vergleich (vgl. DER SPIEGEL et al. 2019). Die einzige im Rahmen des Produktionsdeals von Woody Allen inszenierte Liebeskomödie A Rainy Day in New York (USA 2019) brachte Amazon Studios nur in Europa ins Kino, wo der Film erfolgreich im Arthouse-Segment lief.
Trailer A Rainy Day in New York (Woody Allen, 21.05.2019)
Steven Soderberghs Heist-Movies sind im Stream heiß begehrt
Auch im Komödienfach zu Hause ist der US-amerikanische Regisseur Steven Soderbergh, um dessen Zusammenarbeit Netflix ebenfalls früh bemüht war. 2019 schuf Soderbergh mit Die Geldwäscherei seinen ersten Netflix-Film, in dem er in satirischer Form und mit experimentellen formalen Mitteln die Aufdeckung der sogenannten Panama Papers nacherzählt. Während der Coronapandemie realisierte er 2020 die Tragikomödie Let Them All Talk für HBO MAX sowie den Kinofilm No Sudden Move (USA 2021). Letzteren kaufte wiederum Amazon Prime, nachdem der Film im Kino aufgrund der Pandemie kaum hatte reüssieren können. In No Sudden Move knüpft Soderbergh an seine erfolgreichen Krimikomödien wie die Ocean’s-Trilogie (USA 2001–2007) oder Logan Lucky (USA 2017) an. Wie bei diesen Filmen handelt es sich auch bei No Sudden Move um ein Heist-Movie. In diesem Subgenre des Thrillers sowie der Kriminalkomödie werden besonders raffiniert eingefädelte Raubüberfälle, etwa auf Banken oder Casinos, oder als unmöglich geltende Diebstähle aus der Sicht der Diebe erzählt.
Als Klassiker der Heist-Komödie können Filme wie Stanley Donens Charade (USA 1963) oder Der Clou (USA 1973) mit Paul Newman und Robert Redford gesehen werden. Da die klug konstruierten Heist-Plots sehr anschlussfähig an Thriller, Actionfilm, Komödie und natürlich Gangsterfilm sind, hat sich das Heist-Movie unter dem Produktionsdruck der Streamingdienste mannigfach weiterentwickelt. Eine Stichprobe bei Netflix und Amazon Prime ergab, dass dort aktuell an die 100 Spielfilme und Serien unter dem Stichwort „Heist-Movie“ zu finden sind. Hiervon ist mittlerweile ein großer Teil „originals“ wie etwa die französische Netflix-Erfolgsserie Lupin (seit 2021).
Omar Sy präsentiert Gentleman-Gauner in neuem Gewand
Nicht nur an den Kooperationen einiger Regisseure lassen sich Weiterentwicklungen klassischer Filmgenres ablesen, auch der Blick auf die Schauspieler und die Stoffe der Filme lohnt sich. Der französische Darsteller Omar Sy etwa, bekannt durch seinen Welterfolg Ziemlich beste Freunde (2011), spielt in Lupin den charmanten Gentleman-Gauner und Verwandlungskünstler Assane Diop, der nun bereits in drei Staffeln seine Gegner zum Narren hält und der Polizei durch immer neue Tricks entkommt. Als Kind las Diop die real existierenden Romane um den Meisterdieb Arsène Lupin. Erdacht hatte sie der Schriftsteller Maurice Leblanc Anfang des 20. Jahrhunderts. Bis heute wächst fast jedes Kind in Frankreich mit den Lupin-Geschichten auf. So auch Diop.
Um Rache an einem korrupten Geschäftsmann zu üben, der seinen Vater ins Unglück stürzte, erinnert sich der clevere Gauner an die Kniffe der Romanfigur und beginnt sie zu imitieren. Schließlich gelingt es ihm, den Bösewicht zur Strecke zu bringen. Doch nun, in der aktuellen dritten Staffel, droht neues Unheil, diesmal seiner Familie, seiner Ex-Frau Claire (Ludivine Sagnier) und seinem Sohn. Um es abzuwenden, ist Diop sogar bereit, sich wie sein großes Vorbild Lupin in Leblancs späten Romanen mit der Polizei, speziell mit Inspektor Guédira (Soufiane Guerrab), zu verbünden. Als Fan der Lupin-Romane hatte der Inspektor Diops Handeln früh durchschaut, wurde für seine Schlussfolgerungen aber von seinen Kollegen belächelt, schließlich sogar degradiert. Nun wird er beweisen müssen, dass er bei Diop nicht falsch lag.
Mélanie Laurent hinterfragt Geschlechterrollen im Heist- und Action-Film
Gleichfalls in der Tradition des französischen Heist-Genres, garniert mit einer Prise Drei Engel für Charlie, präsentiert Mélanie Laurent in Diebinnen (2023) eine rasante, actionreiche Krimikomödie. In der Netflix-Produktion spielt die Regisseurin selbst die Profidiebin Carole. Im Auftrag ihrer Chefin (Isabelle Adjani) plant sie gemeinsam mit ihrer Freundin Alex (Adèle Exarchopoulos) und der Rennfahrerin Sam (Manon Bresch) einen spektakulären Kunstraub auf Korsika. Nach diesem Coup will sie aussteigen, worüber ihre Chefin nur mäßig erfreut ist. Doch Carole ist fest entschlossen, denn sie ist schwanger und will ein neues Leben beginnen. Laurents Netflix-Film hat den Anschein konventionell und nach wohlbekannten Plotmustern konstruiert zu sein. Doch diese Beschreibung trifft nur auf die Oberfläche des Films zu. Denn die Regisseurin nutzt ihren Heist-Plot, um ein raffiniertes Beziehungsgeflecht zwischen den Figuren aufzubauen, wodurch überkommene Frauen- und Männerbilder hinterfragt und neue, offenere Geschlechterverhältnisse angemahnt werden. Während Laurent als Regisseurin so durchaus innovative Perspektiven aufs Genre entwirft, wird sie als Schauspielerin eher nach üblichen Genreklischees besetzt, etwa in Michael Bays 6 Underground (USA 2019).
Trailer Diebinnen (Originaltitel: Wingwomen) (Netflix, 04.10.2015)
Michael Bays Filme treffen die Sehgewohnheiten des Streaming-Publikums
In Michael Bays Actionfilm spielt Mélanie Laurent eine toughe Ex-CIA-Agentin. Gemeinsam mit fünf weiteren Spezialisten soll sie den brutalen Diktator eines fiktiven eurasischen Staates stürzen und durch seinen, den demokratischen Werten zugeneigten Bruder ersetzen. Angeführt wird die kleine Gruppe aus Ex-Geheimdienstlern und ehemaligen Soldaten von einem Milliardär (Ryan Reynolds), der sich „Eins“ nennt. Der politische Plot bildet in 6 Underground nur die Fassade für eine enorm actionreiche Handlung. Der Regisseur, der einst mit Bad Boys – Harte Jungs (USA 1995) das Actiongenre im Kino revolutionierte, arbeitet hier mit vielen GoPro-Kameraeinstellungen. Diese ermöglichen zwar eine innovative Darstellung der Handlung aus unterschiedlichsten Blickwinkeln. In manchen Action-Standardsituationen aber, etwa bei einer Verfolgungsjagd durch Florenz zu Beginn des Films, wird das Geschehen in einer solch hohen Schnittfrequenz dargeboten, dass es schwerfällt, den Überblick zu behalten.
Zugleich macht dieser visuell einfallsreiche Start deutlich, dass Bays filmische Gestaltung sich besonders an die junge Zielgruppe im Publikum richtet. Diese dürfte durch die Rezeption schnell geschnittener Videos in sozialen Netzwerken wie TikTok bereits für eine solche Sehweise disponiert sein. Mit Kosten von mehr als 130 Mio. Dollar gehört der Film zu den finanziell aufwändigsten Produktionen des Streamingdienstes. Das zeigt, wie viel Netflix für Filme zu zahlen bereit ist, die passgenau die Sehgewohnheiten ihrer Kernzielgruppen erfassen (zur Altersverteilung der Netflix-Nutzer vgl. statista 2021).
Der Eindruck, dass die Streamingdienste schon bei der Produktion sehr genau darauf achten, den Vorlieben ihres Publikums entgegenzukommen, verstärkt sich, wenn man sich die Machart eines anderen von Bays Actionfilmen ansieht: In dem Heist-Streifen Ambulance (USA 2022) können Danny (Jake Gyllenhaal), der Anführer einer Bande, und sein Bruder Will (Yahya Abdul-Mateen II) nach einem missglückten Banküberfall nur deshalb vom Tatort entkommen, weil sie einen Rettungswagen kapern. Dieser soll einen beim Überfall verletzten Polizisten ins Krankenhaus bringen. Die Gangster nehmen Rettungssanitäterin Cam (Eiza González) als Geisel. Während Cam um das Leben des Polizisten kämpft, wird der Rettungswagen von der Polizei gnadenlos durch Downtown Los Angeles gejagt.
Auch in Ambulance präsentiert Bay wieder eine äußerst dramatische Handlung, richtet sein Augenmerk aber stärker auf die Figuren selbst, samt ihrer Motive und Hintergründe. Die komplizierte Beziehung der Brüder wird ebenso ausgeleuchtet wie die Vergangenheit der weiblichen Zentralfigur Cam. Dass der Film sich neben der Verfolgungsjagd auch für die Psychologie seiner Figuren interessiert, führt auf formaler Ebene zu einem Wechsel zwischen rasanten Actionpassagen und ruhigen Sequenzen. Interessanterweise ist dieser Michael-Bay-Film nach einem kurzen Kinoaufenthalt nicht bei Netflix, sondern bei Amazon Prime gelandet. Der Streamingdienst spricht einer 2020 erhobenen Analyse von Quantcast zufolge (vgl. W&V 2020) höher gebildete und minimal ältere Zielgruppen an als Netflix. Daher dürfte ein Actionfilm wie Ambulance, der nicht nur grenzenlose Bilderflut bietet, sondern auch eine an Charakteren orientierte Geschichte, genau zur Rezeptionshaltung dieser Zielgruppen passen.
Gal Gadots Aufstieg zur Action-Ikone im Stream
Als Darstellerin von „Wonder Woman“ in der gleichnamigen Verfilmung der DC Comics wurde Gal Gadot 2017 einem Millionenpublikum bekannt. In der Rolle der Superheldin spielt sie gleich in einer Reihe von Filmen aus dem DC-Universum mit, u. a. Justice League (USA 2017) und The Flash (USA 2023). Neben ihren Auftritten in den Superhelden-Filmen hat Gadot sich auch im Actiongenre einen Namen gemacht, etwa durch Fast & Furious 10 (USA 2023) oder Red Notice (2021). Als Ikone des Genrekinos wurde sie dadurch auch für die Streaminganbieter interessant. Für eine Gage von 20 Mio. Dollar spielte sie in Red Notice an der Seite von Ryan Reynolds und Dwayne Johnson. Die Heist-Komödie zeichnet sich durch eine krude Story und einen weitgehend sinnfreien, einzig auf Actioneffekte abgestellten Handlungsverlauf aus, dessen Ende aber die Möglichkeit einer Fortsetzung schafft. Angesichts der positiven Resonanz der Zuschauer nutzt Netflix diese nun auch (vgl. Döring 2023).
Für Amazon Prime ist Gal Gadot mittlerweile gleichfalls aktiv. In dem brandneuen Agententhriller Heart of Stone (2023) spielt sie die titelgebende Agentin Stone. Diese arbeitet für eine staatenunabhängige Geheimdienstorganisation namens „The Charter“. Kernstück und Hilfsmittel der „Charter“-Agenten ist eine allwissende KI, genannt „das Herz“. Es sammelt und koordiniert nicht nur Informationen, sondern arbeitet auch Pläne für die Agenten aus. Als ein abtrünniger Agent im Bündnis mit einer klugen Hackerin das Computergehirn in seine Gewalt zu bringen versucht, nimmt Stone mit ihrem Team die Verfolgung auf. Unter anderem mit dem von Matthias Schweighöfer gespielten IT-Spezialisten „Herzbube“ versucht sie nun, eine autoritäre Weltherrschaft zu verhindern. Dass der Plot Ähnlichkeiten mit dem aktuellen Tom-Cruise-Thriller Mission Impossible – Dead Reckoning (2023) hat, dessen erster Teil im Sommer im Kino zu sehen war, ist kein Zufall. Die Amazon Studios planen weitere Filme mit Gal Gadot alias Agentin Stone, um vergleichbar mit erfolgreichen Kino-Franchises, wie z. B. Mission Impossible, ebensolche Streaming-Franchises aufzubauen.
Trailer Mission: Impossible – Dead Reckoning Part One (Paramount Pictures, 17.05.2023)
Richard Madden und Priyanka Chopra Jonas sind die Stars des teuerstes Actionfranchise bei Amazon
Auch für die Agenten-Actionserie Citadel (2023), die mit 300 Mio. Dollar Herstellungskosten zu einer der bislang teuersten Amazon-Produktionen gehört, wurde noch vor Streamingstart im April 2023 eine zweite Staffel bestellt. Hier sind Game-of-Thrones-Star Richard Madden, die Bollywood-Schauspielerin Priyanka Chopra Jonas und Hollywood-Sidekick Stanley Tucci (Der Teufel trägt Prada, Die Tribute von Panem) die schauspielerischen Aushängeschilder einer Serie, deren Plot wiederum nach altbekanntem Muster konstruiert ist. Wieder gibt es eine länderübergreifende Geheimorganisation, diesmal mit dem Namen „Citadel“. Und wieder ist die Geheimorganisation bedroht, diesmal durch eine gegnerische Agentenagentur namens „Manticore“. Die Ex-Agenten Mason Kane (Madden) und Nadia Sinh (Chopra Jonas), die acht Jahre vor Beginn der Handlung mittels einer Amnesiespritze und neuer Identitäten außer Dienst gestellt wurden, werden von ihrem Ex-Kollegen Bernard Orlick (Tucci) zurückgeholt, um es mit den feindlichen Agenten aufzunehmen. Da sie sich nur langsam und bruchstückhaft an ihre Vergangenheit erinnern, wissen sie oft nicht, wer im Schattenspiel der Geheimdienste Freund und wer Feind ist.
Auch hier bilden die psychologischen Momente zwischen den Figuren nur einen Vorwand, um sowohl auf der Gegenwartsebene des Films als auch in Rückblenden actiongeladene Szenen zu präsentieren. Die Effekte und formalen Mittel der Actionfilme bei Amazon wie bei Netflix sind hierbei mittlerweile so ausgereift, dass sie den ästhetischen Standards von Actionfilmen im Kino kaum mehr nachstehen – ja, manche Agenten-Action wie das traditionsreiche James-Bond-Franchise wirkt mittlerweile fast behäbig, zumal sich der langjährige Bond-Darsteller mittlerweile auch den Streamern zugewandt hat.
Daniel Craig modernisiert den „screwball“-Typus als Detektiv
Schon als der Brite die Rolle, die ihn berühmt und reich machen sollte, 2006 annahm, erwies sich Daniel Craig als überaus intelligenter Schauspieler. Anders als seine Vorgänger setzte er das Gentleman-Image des Doppelnull-Agenten nicht fort, sondern erfand gemeinsam mit Regisseuren wie Martin Campbell, Marc Forster oder Sam Mendes sowie Drehbuchautor Paul Haggis und Produzentin Barbara Broccoli eine realistischere Version des Agenten mit Mordlizenz. Craig machte James Bond zum Bluthund seiner Majestät, zeigte den Frauenheld als unglücklich Verliebten, brutal mordend, schließlich desillusioniert und dem Tode geweiht – eine letztlich tragische Figur. Schon 2018 hatte Craig begonnen, sich von seinem Bond-Image abzunabeln. Er nahm noch vor den Dreharbeiten zu seinem letzten Bond-Film die Hauptrolle in Knives Out: Mord ist Familiensache an. Craig spielte in Rian Johnsons Krimikomödie den skurrilen Privatdetektiv Benoit Blanc. Diese Figur rekurriert einerseits auf literarische Kriminalfiguren wie Agatha Christies Meisterdetektiv Hercule Poirot, stellt andererseits aber eine originelle Variante des „screwball“ als Detektiv dar.
Die „screwball“-Figur tauchte zuerst in der Romantischen Komödie auf (vgl. Born 2020). Zumeist handelte es sich um etwas begriffsstutzige Männer, vergeistigte Professoren, liebenswerte Trottel, die die Signale der Frauen, die in sie verliebt waren, nicht erkannten. Die Frau übernahm die Initiative, um das Beziehungsglück doch noch zu retten. Cary Grant (Leoparden küßt man nicht, USA 1938) oder Jerry Lewis (Der verrückte Professor, USA 1963) waren in der Genregeschichte der „romantic comedy“ Prototypen der „screwball“-Figur. Stars wie Katharine Hepburn oder Stella Stevens verhalfen ihren männlichen Widerparten zum Glück. Regisseur Blake Edwards übernahm das Rollenmuster des „screwball“ für die Figur des Inspektor Clouseau in seiner zum Klassiker gewordenen Heist-Komödie Der rosarote Panther (USA 1963). Für Peter Sellers wurde der trottelige Inspektor zu einer Paraderolle, die er bis 1978 in noch vier weiteren Pink-Panther-Filmen verkörperte, wobei die Plots immer mehr zur Klamotte verkamen.
Trailer Leoparden küsst man nicht (Trailer World, 24.02.2021)
Für das Fernsehen übernahmen die Drehbuchautoren Richard Levinson und William Link das Figurenkonzept für ihre Serie Columbo. Nach dem Pilotfilm Mord nach Rezept (USA 1968), in der Regie von Richard Irving, inszenierte 1971 der junge Steven Spielberg die erste Folge der Serie um einen Polizeiinspektor in L. A., der auf den ersten Blick schusselig, zerfahren und unkonzentriert wirkt. Doch der Mann im verwaschenen Trenchcoat, den Peter Falk bis 2003 verkörperte, nutzte sein „screwball“-Image stets geschickt, um die Täter zu täuschen und sie schließlich mit seiner genialen Kombinationsgabe zur Strecke zu bringen.
In Daniel Craigs Figur des Benoit Blanc verbindet sich nun die Exzentrik und die kriminalistische Kombinationsgabe eines Hercule Poirot mit der Schrulligkeit von Clouseau und Columbo zu einer schillernden Detektivfigur, die selbst die kniffligsten Fälle aufzuklären versteht. Und auch der Aspekt des „screwball“ als unbeabsichtigter Liebling der Frauen wird durch Benoit Blanc aktualisiert: Zahlreiche Anspielungen in den Filmen verweisen auf seine Homosexualität. Knives Out kam 2020 mitten in der Pandemie ins Kino und landete sehr bald bei Netflix. Als Rian Johnson Glass Onion, das zweite Benoit-Blanc-Abenteuer, verschiedenen Streamingdiensten anbot, schlug erneut Netflix zu und bestellte für 450 Mio. Dollar gleich zwei Fortsetzungen. Rians Erfolg ist ein weiterer Beleg für das Bemühen der Streamingdienste, nicht nur TV-Serien, sondern verstärkt auch Filmserien als Franchises einzukaufen, um so die Zuschauerbindung zu erhöhen.
Kevin Costner kehrt mit Neo-Western-Serie ins Genre zurück
Es sei auf einen weiteren Trend in der Renaissance des Genrekinos im Stream hingewiesen: Der Western ist wieder da. Nicht unbedingt im historischen Gewand des „amerikanische[n] Kino[s] par excellence“ (Bazin 2004), vielmehr als Neo-Western. Etwa in Jane Campions oscarprämiertem Drama The Power of the Dog (2021), der Männer- und Beziehungsbilder unter Viehranchern im ländlichen Montana der 1920er-Jahre ausleuchtet. Bei RTL+ ermittelt der Ranger Walker in Texas unter heutigen Cowboys und Viehbaronen, und in Yellowstone auf Paramount+ kämpft eine Viehzüchterfamilie von heute gegen den Verlust ihres Besitzes.
Die Hauptrolle in Yellowstone (seit 2018) spielt Kevin Costner, der 1990 als Regisseur und Hauptdarsteller des epischen Western Der mit dem Wolf tanzt einen Meilenstein des Genres schuf. Nun verkörpert er John Dutton, den Besitzer der größten Viehranch in Montana. Sein Besitz ist durch den Bau eines Flughafens, durch Immobilien-, Tourismus- und Casinoprojekte bedroht. Gemeinsam mit seiner Tochter Beth (Kelly Reilly), einer skrupellosen Managerin, und seinem Sohn Kayce (Luke Grimes), einem Ex-Elitesoldaten, schreckt er vor keiner Gewalttat und keinem politischen und ökonomischen Winkelzug zurück. Dabei muss er sich auch gegen seinen abtrünnigen Ziehsohn Jamie (Wes Bentley) und dessen Ambitionen, Gouverneur zu werden, zur Wehr setzen. Als Mann fürs Grobe fungiert Vorarbeiter Rip (Cole Hauser). Der Rancherfamilie treu ergeben, geht er mit seinen Cowboys, die er vornehmlich aus Ex-Sträflingen rekrutiert, auch schon mal über Leichen, um die Pläne der Duttons zu verwirklichen.
Costner, politisch eher der Demokratischen Partei zugeneigt, spielt seine Figur des Patriarchen aus jener beängstigend stoischen Ruhe heraus, mit der einst schon Marlon Brando seinen Charakter des Mafiabosses Corleone in Der Pate (USA 1973) angelegt hatte. Costner zeigt mit seiner Spielweise, dass es für Figuren wie John Dutton selbstverständlich ist, Gewalt und Selbstjustiz auszuüben, um den gesellschaftlichen Status quo und damit ihren eigenen Reichtum zu bewahren. Diese aggressiv konservative Weltsicht seiner Figur lässt das Publikum der Serie tief in die Seele der reaktionären Anhänger Donald Trumps blicken. Und Kelly Reilly als Tochter Beth ist so bösartig und zugleich so verletzlich, dass man zwischen Abscheu, Staunen und Empathie hin- und hergerissen ist. Da kein US-Film und keine US-Serie es bislang wagte, die Realität der „red necks“, der weißen Landarbeiter, als so brutal darzustellen wie in Yellowstone, löste die Serie in den USA ein breites und sehr kontroverses Medienecho aus (vgl. Havertz 2023).
Fazit
Die Beispiele belegen den Trend der Streamingdienste zum populären Film, bilden aber nur einen kleinen Ausschnitt der Genrefilm-Explosion ab, die derzeit weltweit in den Streamingdiensten stattfindet. Dabei sind die Streaminganbieter zunehmend bemüht, nicht nur Serien, sondern auch ganze Filmserien zu entwickeln oder einzukaufen, um Abonnenten langfristig an ihr Portal zu binden. In der Fülle der Produktionen werden viele konventionelle Genremuster reproduziert, aber – so wurde zu zeigen versucht – es sind auch Ansätze der Weiterentwicklung von Genres zu erkennen. Man darf gespannt sein, wie der Stream einzelne (Sub-)Genres in Zukunft erweitert oder gar neu erfindet.
Quellen:
Barg, W.: THE IRISHMAN – Cinema Goes Streaming? In: mediendiskurs, 10.12.2019. Abrufbar unter: mediendiskurs.online (letzter Zugriff: 30.11.2023)
Bazin, A.: Der Western – oder: Das amerikanische Kino par excellence. In: R. Fischer: Was ist Film? Berlin 2004, S. 255–266
Born, S.: Die Komödie. In: M. Stiglegger: Handbuch Filmgenre. Geschichte – Ästhetik – Theorie. Wiesbaden 2020, S. 557-589
DER SPIEGEL (online) / AP / REUTERS: Verhandlung über Vertragsbruch. Woody Allen und Amazon beenden Rechtsstreit. In: SPIEGEL Kultur, 10.11.2019. Abrufbar unter: www.spiegel.de (letzter Zugriff: 30.11.2023)
Dath, D.: Sei ein Gutmensch, aber kein Weichei. Keven Costner wird 60. In: FAZ Feuilleton, 18.01.2015. Abrufbar unter: www.faz.net (letzter Zugriff 01.12.2023)
Döring, M.: „Red Notice 2" Bei Netflix: Gal Gadot äussert sich zur Action-Fortsetzung. In: FILM.TV, 26.06.2023. Abrufbar unter: m.film.tv (letzter Zugriff: 30.11.2023)
Havertz, R.: „Yellowstone“. Der Western, dem die Republikaner vertrauen. In: ZEIT ONLINE, 23.03.23. Abrufbar unter: www.zeit.de (letzter Zugriff: 30.11.2023)
Pakalski, I.: Amazon. Woody Allen bereut Vertrag für Streaming-Serie. In: golem.de, 17.05.2015. Abrufbar unter: www.golem.de (letzter Zugriff: 30.11.2023)
statista: Netflix-Nutzer in Deutschland nach Altersverteilung im Vergleich mit der Bevölkerung im Jahr 2021. In: statista, 16.11.2023. Abrufbar unter: de.statista.com (letzter Zugriff: 30.11.2023)
W&V: Netflix & Co: So verschieden sind die Zielgruppen. In: W&V, 27.03.2020. Abrufbar unter: www.wuv.de (letzter Zugriff: 30.11.2023)