Kurz, prägnant und vielgestaltig

Die Kurzfilmprogramme bei „Generation Kplus“ und „14plus“

Barbara Felsmann

Barbara Felsmann ist freie Journalistin mit dem Schwerpunkt „Kinder- und Jugendfilm“ sowie Autorin von dokumentarischer Literatur und Rundfunk-Features.

Die Berlinale 2023 ist vorbei, was bleibt sind die Eindrücke eines vielfältigen und spannenden Programms. Dieser Beitrag wirft einen Blick auf das Programm­ ­„Generation“. Welche Filme haben das Publikum und die Jury besonders begeistert?

Online seit 10.03.2023: https://mediendiskurs.online/beitrag/kurz-praegnant-und-vielgestaltig-beitrag-772/

 

 

1983, in der sechsten Ausgabe des „Kinderfilmfests“, wie die Sektion bei der Berlinale damals hieß, wurden zum ersten Mal Kurzfilme präsentiert. Programmiert wurden sie jeweils als Vorfilm vor einem Langfilm. Zwei Jahre später bildeten sie einen eigenen Wettbewerb, und ab 1991 stellte sie die damalige Sektionsleiterin Renate Zylla in eigenständigen Kurzfilmprogrammen zusammen. Seitdem sind Kurzfilme – ob Spiel-, Dokumentar- oder Animationsfilme – nicht mehr aus dem Programm von Generation wegzudenken.

In der Berlinale-Berichterstattung werden Kurzfilme eher stiefmütterlich behandelt, obwohl diese Kunstform ganz eigene ästhetische Qualitäten aufweist und sich beim Publikum immer größerer Beliebtheit erfreut – wenn es denn Kurzfilme im Kino zu sehen bekommt!

Bei „Generation Kplus“ wie „14plus“ haben sich die Kurzfilmprogramme schon lange etabliert und werden besonders von Kita-Gruppen und Grundschulklassen bis hin zur gymnasialen Oberstufe gern besucht.

Wie üblich waren auch in diesem Jahr bei „Kplus“ drei Programme zu sehen – für Kinder ab 5, ab 9 und ab 12 Jahren. Präsentiert wurden darin jeweils fünf oder sechs Produktionen. Auch bei „14plus“ gab es drei Programme mit jeweils fünf Filmen, allerdings ohne Altersempfehlung. In den einzelnen Programmen wechselten sich Animationen mit Kurzspielfilmen, dokumentarischen Formen und auch Experimentalfilmen ab. „Generell überlegen wir uns relativ genau, welche Filme wir in welcher Dramaturgie in den Programmen aufnehmen“, sagte Sebastian Markt, der neue Leiter von „Generation“,

damit da vielleicht etwas entsteht, das größer ist als die Summe der einzelnen Beiträge.“

Die „Kplus“-Vorstellungen fanden fast durchgängig an den Vormittagen statt und waren dementsprechend ausgebucht, die Vorstellungen für das jugendliche Publikum waren auch für nachmittags bzw. abends terminiert – eine schwierige Zeitschiene für Schulklassen. Trotzdem waren die Kinos gut gefüllt, und am Ende gab es spannende Filmgespräche.
 

Breites Spektrum an filmischen Erzählweisen und Themen

Insgesamt hatte das Auswahlgremium für „Kplus“ 16 Filme aus 13 verschiedenen Ländern, darunter eine Produktion aus Senegal, ausgesucht. Für „14plus“ stellte das Gremium 15 Filme aus aller Welt zusammen. Schon allein die geografische Vielfalt war bemerkenswert, aber auch das breite Spektrum an filmischen Erzählweisen wie an Themen.

So fanden sich in dem Programm für die 5-Jährigen der US-amerikanische Kurzspielfilm Closing Dynasty (Queenie) und vier künstlerisch ganz unterschiedlich gestaltete Animationsfilme: In der Schweizer Produktion Tümpel erzählen Lena von Döhren und Eva Rust mit großflächigen, klaren Figuren und satten Farben, wie der Pups eines Fisches freundschaftsstiftend wirken kann, oder es erinnert sich Anne-Sophie Gousset zusammen mit Clément Céard in Entre deux Sœurs (Unter Schwestern) aus Frankreich mit schnellen, pastellfarbenen Pinselstrichen an die Spiele mit ihrer jüngeren Schwester, die an den Rollstuhl gebunden ist. In der belgischen Produktion Spin & Ella (Spinne & Ella) müssen die witzig gestalteten Figuren, Fee Ella und ihre Spinne, zusammenhalten, um fantasievolle Netzgebilde spinnen zu können, denn wenn jedes Wesen nur seine Idee durchsetzen will, entsteht ein entsetzlicher Fadensalat. Ganz ruhig kommt dagegen der Animationsfilm Somni von der Berliner Regisseurin Sonja Rohleder daher, der ein kleines Äffchen auf dem Baum beim Einschlafen von Blatt zu Blatt gleiten lässt – vorbei an geheimnisvollen Traumgewächsen und ‑kreaturen.
 


Trailer Queenie (Closing Dynasty) (Berlinale, 15.02.2023)



Alle Filme wurden zu Beginn der Vorstellung angesagt und die Filmgäste kurz vorgestellt. Dann liefen die einzelnen Wettbewerbsfilme hintereinander, getrennt durch eine kurze Pause. Erst am Schluss erhielten die jungen Festivalbesucher*innen die Möglichkeit, im sogenannten Q & A ihre Fragen und Eindrücke loszuwerden. Erstaunlicherweise hatten die Kinder noch genau die Bilder der verschiedenen Programmbeiträge im Kopf, konnten einzelne Details, die wir Erwachsenen vielleicht noch nicht einmal bemerkt hatten, beschreiben und bei Unklarheiten nachfragen.

Besonders stark hatte der Kurzspielfilm von Lloyd Lee Choi Closing Dynasty (Queenie) auf die Kinder wie auch auf das erwachsene Publikum gewirkt. Darin geht es um die 7‑jährige Queenie, die in den Straßen von New York zwischen riesigen Wolkenkratzern umherstreunt, um Geld zu besorgen. Das braucht sie nicht für sich, sondern für ihre Eltern, die aus falscher Rücksicht verheimlichen, dass sie ihr Restaurant schließen müssen. Dieser Film erhielt dann auch von der Kinderjury den Gläsernen Bären für den Besten Kurzfilm mit der Begründung:

Ein eindrucksvoller Film, sowohl von den Kulissen als auch den Emotionen, mit einer tollen Schauspielerin. Wir wurden dazu angeregt über Armut und Reichtum nachzudenken.“

Eine Lobende Erwähnung sprachen die sieben Mitglieder der Kinderjury dem tschechischen Animationsfilm Deniska umřela (Dede ist tot) von Philippe Kastner aus. Ohne Worte und mit fließenden Linien zeichnet der Animationsstudent der Prager FAMU seine Erlebnisse mit seinem Dackel Dede nach, bis er sich eines Tages von ihm verabschieden muss. In Schwarz-Weiß gehalten, wird die Trauer um seinen tierischen Freund und Begleiter dann durch farbige, tröstende Traumbilder gebrochen.
 

Ausgezeichnet von der Internationalen Jury von „Generation Kplus“

Dass die kurze filmische Form im Vergleich zum Langfilm andere ästhetische wie erzählerische Möglichkeiten hat, zeigt auch die eindrückliche deutsch-ukrainische Koproduktion Waking Up in Silence (Im Stillen erwachen) von Mila Zhluktenko und Daniel Asadi Faezi. Ihr Dokumentarfilm begleitet geflüchtete Kinder aus der Ukraine in ihrem Alltag und beim Spielen. Die Kinder leben in einer ehemaligen Militärkaserne in Schweinfurth, die bis 1945 von der Wehrmacht genutzt wurde. Nach dem Krieg wurde sie umbenannt in Ledward Barracks und diente bis 2014 der dortigen US-Heeresgarnison als Stützpunkt. All diese Informationen werden verbal nicht gegeben. Aber das Filmemacherduo setzt idyllische Bilder, wo die Kinder Blumenkränze auf einer wilden Wiese flechten, gegen Aufnahmen von wuchtigen, kalten Häuserfronten, an den verwitterte Wehrmachtssymbole, aber auch amerikanische Zeichen zu entdecken sind. Außerdem begleitet die Kamera die Kinder bei ihren Erkundungen durch leerstehende Räume und Flure, wo sie die Symbole der Vergangenheit kommentieren und sie mit ihren Erfahrungen verknüpfen. 18 Minuten reichen aus, damit dieser stille Film tief unter die Haut geht und uns zum Nachdenken über die Frage von Krieg und Frieden zwingt.
 


Trailer Waking Up in Silence (Berlinale, 15.02.2023)



Waking Up in Silence (Im Stillen erwachen) wurde von der Internationalen Jury, zu der die philippinische Dokumentarfilmerin Venice Atienza, der Regisseur Marco Alessi aus dem Vereinigten Königreich und die Festivalleiterin von DOXS RUHR, Gudrun Sommer, gehörten, mit dem Spezialpreis für den Besten Kurzfilm ausgezeichnet. In ihrer Begründung hoben sie u. a. hervor, dass der Film

kraftvoll ein Bewusstsein für Orte und Geschichte in Erinnerung ruft und unseren Blick für die Politiken dokumentarischer Bilder der Gegenwart schärft“.

Eine lobende Erwähnung sprach die Jury dem chinesischen Kurzspielfilm Xiaohui he ta de niu (Xiaohui und seine Kühe) aus. Darin lebt ein Junge während der Corona-Zeit bei seinem Großvater auf dem Land. Selbst unter großem Heimweh leidend, versucht er verzweifelt zu verhindern, dass ein Kalb von seiner Mutter getrennt und verkauft wird. „Atemberaubende Cinematografie, tief berührende Charaktere und sicheres Storytelling kommen in diesem bewegenden Kurzfilm zusammen“, heißt es in ihrer Begründung – und dem ist in der Tat nichts hinzuzufügen.
 

Junge Protagonist*innen im Mittelpunkt

Angelehnt an die Berlinale-Sektionen „Panorama“ und „Forum“ wird das Programm von „14plus“ seit seiner Gründung 2004 auf Englisch präsentiert. Das heißt, die Filme werden in Originalsprache bzw. mit englischen Untertiteln gezeigt, und die Anmoderation wie auch die Q & A finden auf Englisch statt. In den Vorstellungen selbst wird diese Praxis von dem jungen Publikum gut angenommen. Ob sich dadurch aber auch Jugendliche ausgeschlossen fühlen und deshalb gar nicht erst ins Kino kommen, ist nach wie vor fraglich.

Das Publikum vor Ort allerdings hat sich auf jeden Fall an den Q & A im Anschluss an die Kurzfilmvorführungen rege beteiligt, besonders nach dem Programmblock „Kurzfilme 3“, in dem alle diesjährigen Preisträger vertreten waren.

Die Vorstellung begann mit dem brasilianischen Kurzspielfilm Infantaria (Infantry) von Regisseurin Laís Santos Araújo. Während der Vorbereitungen von Joanas zehntem Geburtstag werden in ihrer Familie weibliche Themen wie die Sehnsucht nach der ersten Periode und dem ersten Kuss oder die Angst vor einer Schwangerschaft verhandelt, aber auch die Trauer von Bruder Dudu über die Abwesenheit des Vaters. Der atmosphärisch unglaublich dichte Film wurde von Kameramann und Medienpädagoge Fion Mutert, der kolumbianischen Filmemacherin und Künstlerin Juanita Onzaga sowie der ukrainischen Regisseurin und Drehbuchautorin Kateryna Gornostai aus der Internationalen Jury mit dem Spezialpreis für den Besten Kurzfilm ausgezeichnet. Sie lobten diesen 24-Minüter als einen

Film voller Schichten, deren gemäldeartigen Frames, leuchtende Farben und faszinierende Welten die Bedeutung der gegenseitigen Unterstützung zwischen Frauen beleuchtet“.


Trailer Infantaria (Berlinale, 15.02.2023)



Diesem Wettbewerbsbeitrag folgte im Programm der comicartig, frech gezeichnete Animationsfilm Szemem Sarka (From the Corner of My Eyes), der ohne ein Wort auskommt und poetisch einen Moment beschreibt, in dem sich in der Spieglung eines Busfensters die Blicke eines Jungen und eines Mädchens treffen. Völlig anders von der künstlerischen Handschrift her verstärkte er die Stimmung, die schon durch Infantaria (Infantry) im Kinosaal Einzug gehalten hatte. Dieser Film aus Ungarn erhielt eine Lobende Erwähnung von der Jugendjury.

Den Gläsernen Bären vergaben die fünf jungen Jurorinnen und Juroren dagegen an die iranisch-deutsch-tschechische Koproduktion Man khod, man ham miraghsam (And Me, I’m Dancing Too). In einer Mischung aus dokumentarischen und inszenierten Elementen porträtiert Regisseur Mohammad Valizadegan eine junge, rebellische Tänzerin im Iran, für die Tanz auch eine Art Befreiung, Selbstverwirklichung und – da verboten – Protest ist. Der Film war als Abschluss dieses aufregenden, spannenden Kurzfilmprogramms gesetzt und erntete einen Riesenapplaus. Die Jugendjury formulierte in der Preisbegründung ihren Eindruck:

Der Film hat uns nicht nur bewegt und berührt, sondern auch nachdenklich und vor allem kämpferisch gestimmt.“

Zwischen diesem Film und dem stillen, gefühlvollen Animationsfilm Szemem Sarka (From the Corner of My Eyes) war der spritzige, freche Kurzspielfilm Mirror Mirror aus Südafrika über ein 17-jähriges Mädchen, das nun endlich einmal einen Orgasmus erleben will, platziert sowie der mit ruhigen, langen Einstellungen inszenierte Kurzspielfilm Incroci von Francesca de Fusco. Diese US-amerikanisch-italienische Koproduktion lässt vor allem Blicke sprechen und erzählt von ungekannten Gefühlen, die bei Fede aufkommen, als sie die neue Internatsbewohnerin Valentina heimlich beobachtet. Auch dieser Film wurde ausgezeichnet, und zwar mit einer lobenden Erwähnung durch die Internationale Jury.

Ein Programm mit fünf starken Kurzfilmen – davon vier mit Auszeichnungen bedacht – und sie alle in einem der schönsten Kinos in Berlin, dem Zoopalast, präsentiert, das hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen!
 

Weiterlesen:

> Barbara Felsmann im Gespräch mit Melika Gothe und Sebastian Markt:
Der Kurzfilm – ein Experimentierfeld filmischer Erzählweisen(10.03.2023)

> Preise und Begründungen der Jurys