Das ambivalente Verhältnis von Politik und Medien

Vor 60 Jahren wurden sieben Journalisten des Nachrichtenmagazins „DER SPIEGEL“ verhaftet

Joachim von Gottberg

Prof. Joachim von Gottberg ist Chefredakteur der Fachzeitschrift MEDIENDISKURS.

Das Verhältnis von Politik und Medien ist vor allem dann getrübt, wenn sich Politiker*innen kritisiert und in ein negatives Licht gestellt fühlen. Das ist aber eine der Aufgaben der Medien, die einerseits informieren, andererseits aber auch Missstände aufzeigen sollen. In der „Spiegel-Affäre“ hatte die Politik 1962 den Kampf gegen das Nachrichtenmagazin aufgenommen – und zum Glück verloren.

Online seit 03.11.2022: https://mediendiskurs.online/beitrag/das-ambivalente-verhaeltnis-von-politik-und-medien-beitrag-772/

 

 

Ein Bundeswehrmanöver und ein „SPIEGEL“-Artikel

Ein Artikel über die Abwehrbereitschaft der neu gegründeten Bundeswehr, der am 10. Oktober 1962 im „SPIEGEL“ erschien, fand zunächst wenig Beachtung. Mit der Überschrift Bedingt abwehrbereit zeichneten die Autoren Conrad Ahlers und Hans Schmelz eine desaströse Lage der Bundeswehr, die weit hinter den Verabredungen mit der NATO zurückblieb. Ausgangspunkt war das Manöver „Fallex 62“ (Herbstübung 1962) am 21. September 1962, zu dem der amerikanische Verteidigungsminister Robert McNamara extra aus den USA angereist war, während Bundeskanzler Konrad Adenauer in seinem Urlaubsort Cadenabbia am Comer See Boccia spielte. Auch Verteidigungsminister Franz Josef Strauß nahm – zur Verwunderung seiner Mitarbeiter*innen – nicht daran teil.

1962 war das Jahr der Kubakrise, eine militärische Auseinandersetzung im Kalten Krieg zwischen Ost und West – auch mit Atomwaffen – war selten so realistisch wie zu dem Zeitpunkt. In der Bevölkerung und der Politik herrschte äußerste Nervosität. (vgl. DER SPIEGEL [1] 1962, vgl. auch Bock/Biermann 2022)

Das Manöver spielte vor diesem Hintergrund das Szenario eines dritten Weltkriegs durch, und das Ergebnis war niederschmetternd: „Die an dem Manöver teilnehmenden Beamten und Zuschauer, darunter der Bonner Historiker Professor Walther Hubatsch sowie Vertreter des Bundesverbandes der Industrie, waren von dem Manöververlauf erschüttert. Bundesinnenminister Hermann Höcherl gewann die Erkenntnis, in einer solchen Katastrophe könne nur helfen, was vorher vorbereitet sei. Er zog das Fazit der mangelhaften Vorbereitungen: ‚Unter den gegenwärtigen Umständen hat fast keiner eine Chance.‘“ (DER SPIEGEL [1] 1962) Angesichts des schlechten Zustands der Bundeswehr hatte Strauß vorgeschlagen, diese Schwäche durch den Einsatz atomarer Kleinstkampfmittel, sogenannter Atomgranatwerfer, ausgleichen zu wollen. „Einen ‚Taschenspielertrick‘ nennt Conrad Ahlers das in seinem Artikel und zudem ‚extrem gefährlich‘.“ (Bock/Biermann 2022)
 

Die Reaktion der Politik

Verteidigungsminister Strauß, der in Rudolf Augstein, dem damaligen Herausgeber des „SPIEGEL“, schon immer einen Intimfeind sah, weil er eine Kanzlerschaft des Bayern verhindern wollte, fühlte sich blamiert. Bald ermittelte die Bundesstaatsanwaltschaft gegen den „SPIEGEL“ wegen Landesverrat. Der Gutachter, Oberregierungsrat Heinrich Wunder ausgerechnet aus dem Verteidigungsministerium, fand 41 Stellen, in denen angeblich Staatsgeheimnisse verraten worden seien – allerdings wusste keiner so genau, was ein Staatsgeheimnis ist. (vgl. DER SPIEGEL [2] 2012)

Als Franz Josef Strauß am 15. Oktober aus dem Urlaub zurückkehrte, forcierte er die Untersuchungen gegen seinen Erzfeind Rudolf Augstein. Am 23. und 24. Oktober begaben sich Staatsanwalt Siegfried Buback, der spätere Generalbundesanwalt, und Kriminalpolizisten der Sicherungsgruppe Bonn zusammen mit Mitarbeitern des militärischen Abschirmdienstes (MAD) konspirativ nach Hamburg. Die Telefonleitungen des „SPIEGEL“ wurden abgehört. Am 26. Oktober um 21 Uhr tauchten Beamte der Sicherungsgruppe Bonn in den Räumen des „SPIEGEL“ im Hamburger Pressehaus auf und beschlagnahmten Dokumente, räumten das Gebäude und verhafteten Mitarbeiter des Nachrichtenmagazins. Rudolf Augstein war zunächst nicht dabei, er saß in seiner Privatwohnung, stellte sich am selben Tag den Behörden und wurde ebenfalls verhaftet. Einsatzleiter Buback musste allerdings noch drei Überfallkommandos und 20 Kripobeamte der Hamburger Polizei zur Verstärkung holen, um den Eingriff wie geplant durchzuführen. In derselben Nacht wurden Conrad Ahlers, der Autor des Artikels, und seine Frau während eines Spanienurlaubs verhaftet. Die Räume der Redaktion des „SPIEGEL“ wurden besetzt, andere Hamburger stellten der Redaktion aus Solidarität Arbeitsplätze zur Verfügung. (ebd.)
 

Öffentliche Proteste und Konsequenzen

In mehreren Städten gab es Proteste gegen das Vorgehen des Staates gegen den „SPIEGEL“. Am 2. November erklärte Strauß öffentlich:

Ich habe mit der Sache nichts zu tun. Im wahrsten Sinne des Wortes nichts zu tun.“ (DER SPIEGEL [2] 2012)

In Bonn drohte die FDP – damals Koalitionspartner Adenauers –, ihre Minister aus dem Kabinett zurückzuziehen. Hamburgs Innensenator, der spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt, bezeichnete am 6. November die Aktion gegen den „SPIEGEL“ als „zweifelhafte Angelegenheit“ (ebd.), was ein Ermittlungsverfahren wegen Beihilfe zum Landesverrat gegen ihn zur Folge hatte. Noch vor Abschluss der Untersuchungen fällte Konrad Adenauer am 7. November im Bundestag das klare Urteil: „Wir haben einen Abgrund von Landesverrat im Lande“ (SWR2 Archivradio 1962) – und ignorierte damit die übliche Unschuldsvermutung.

Am 9. November musste Strauß nach einer Befragung in einer dreitätigen Bundestagsdebatte zugeben, dass er doch an der Verhaftung des Journalisten Ahlers mitgewirkt hatte – das Parlament fühlte sich belogen. Die FDP verließ die Koalition, am 14. Dezember bildete Adenauer ein neues Kabinett – ohne Strauß und mit dem Versprechen, im Herbst 1963 als Bundeskanzler zurückzutreten. Erst am 7. Februar 1963 wurde Rudolf Augstein nach 104 Tagen aus der Haft entlassen. Am 13. Mai 1965 verkündete der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs, kein Hauptverfahren gegen Augstein und Ahlers zu eröffnen. Am 23. Dezember 1965 stellte ein neues unabhängiges Militärgutachten fest, dass in dem Artikel keine Staatsgeheimnisse veröffentlicht wurden (vgl. DER SPIEGEL [2] 2012, vgl. auch Bock/Biermann 2022).
 

Sieg der Presse

Die „Spiegel-Affäre“ gilt als eines der wichtigsten Medienereignisse in der deutschen Geschichte, in der Politiker versuchten, unangenehme Nachrichten über die eigenen Fehler durch vorgeschobene, offensichtlich nicht zutreffende Rechtsverstöße mundtot zu machen – ein Verfahren, das in totalitären Regimen wie beispielsweise in Russland oder im Iran an der Tagesordnung ist.

Für die Freiheit der Presse in Deutschland war sehr wichtig, dass nicht die Politik, sondern der „SPIEGEL“ als eindeutiger Gewinner aus der Affäre hervorging: „Es war eher ein Abgrund von Machtmissbrauch. Und in diesen Abgrund stürzte Adenauer fast selbst, als die Vorwürfe sich als haltlos erwiesen. Die FDP, deren Bundesjustizminister in der Affäre von Strauß übergangen worden war, erzwang den Rücktritt des CSU-Mannes. Strauß musste zugeben, persönlich auf die nächtliche Verhaftung von Conrad Ahlers, Hauptautor des umstrittenen ‚SPIEGEL‘-Textes, gedrängt zu haben. Adenauer ließ Strauß fallen. Der bereits 86-jährige Bundeskanzler hatte grundsätzlich zugesagt, im Laufe der Legislaturperiode zurückzutreten – nun musste er einen verbindlichen Termin dafür nennen.“ (Gunkel 2022) Augstein selbst sah den „SPIEGEL“ als sogenanntes „Sturmgeschütz der Demokratie“ (Bock/Biermann 2022), und der „SPIEGEL“ wurde nicht zuletzt aufgrund dieser Affäre zur Institution in der Medienlandschaft der Bundesrepublik.
 

Zeitzeugen-Gespräch: Helmut Schmidt und die SPIEGEL-Affäre (DER SPIEGEL, 24.09.2012)




Die traditionelle Rolle der Medien

„Die ‚Spiegel-Affäre‘ ist ein brutaler Einschüchterungsversuch eines kritischen Nachrichtenmagazins, und Sie sehen daran: hier hat Politik mit aller Macht versucht, Presse zu kontrollieren, und es hat, und das ist die gute Nachricht, nicht funktioniert“ (Bock/Biermann 2022), so der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen in der WDR-Sendung ZeitZeichen. Und weiter: „Medien und Journalisten haben gewiss nicht die Aufgabe, nun permanent die Politik zu streicheln und ihr zu sagen, wie wunderbar alles funktioniert. Sie haben die Aufgabe, Kritik zu üben, Kontrolle auszuüben, eben, indem sie auch von politischer Seite aus Unerwünschtes publizieren. Und Politiker sehen für sich völlig zu Recht die Aufgabe, nun ein möglichst breites Publikum zu erreichen und um Zustimmungsbereitschaft zu werben.“ (ebd.)

Dabei ist das Verhältnis von Politik und Medien ambivalent: Auf der einen Seite verbreiten Medien Informationen, sie üben die Kontrolle der Politik aus und üben Kritik, auf der anderen Seite werden sie von der Politik gebraucht und für die eigene politische Agenda instrumentalisiert. Politiker*innen brauchen die Medien, sie streuen Nachrichten und versuchen, Medien für ihre Zwecke einzusetzen: Es handelt sich um eine wechselseitige Instrumentalisierung. Dabei gibt es bei den klassischen Medien immer auch Schonräume, es gibt verlässliche Absprachen, man lädt gezielt wohlgesonnene Medien ein.

Die Medien haben traditionell eine Wächterfunktion, die heute durch das Internet auf viele verteilt wird: „Weil wir permanent gesehen, gefilmt, fotografiert werden, weil alle senden, weil alle posten, weil alle permanent die Archive der Gegenwart mit frischem Material versorgen. Und die Macht der Medien sitzt heute überall, sie sitzt im Publikum, das seine Smartphones hat, sie sitzt in den sozialen Netzwerken und sie sitzt in den klassischen Medienhäusern.“ (ebd.) Neben der vierten Gewalt der Medien sei die fünfte Gewalt der „vernetzten Vielen“ (ebd.) entstanden, so Pörksen.
 

Die fünfte Gewalt im Staat

Auch auf den Plattformen wird heute Politik verhandelt, News wechseln rasant mit Werbung, Witzen, Pornos und Entertainment. Es geht vor allem um Aufmerksamkeit in dieser Masse, Menschen wollen schnell in Echtzeit informiert werden. Es ist ein Kampf zwischen zwei Prinzipien: „Auf der einen Seite das Prinzip der Relevanz, was ist tatsächlich bedeutsam, was ist tatsächlich wirksam; und auf der anderen Seite das Prinzip der Interessantheit, was funktioniert in einem immer härter werdenden Kampf um Aufmerksamkeit. Und viel zu oft gilt: Interessantheit schlägt Relevanz.“ (ebd.)

Wohin das führen kann, hat der Fall des Fake-Journalisten Claas Relotius beim „SPIEGEL“ gezeigt: Seine Geschichten waren zwar zum Großteil erfunden, erzeugten aber hohe Aufmerksamkeit. Allerdings sei der Fake immerhin von einem Journalisten aufgedeckt worden – das System funktioniere also.

Wir leben in einer Zeit der mentalen Pubertät im Umgang mit diesen neuen Medienmöglichkeiten. Wir alle sind in der gegenwärtigen Situation herausgefordert, uns die Fragen zu stellen, die sich früher nur Journalistinnen oder Journalisten stellen mussten: nämlich was ist glaubwürdige, relevante, überhaupt veröffentlichungswürdige Information? Diese Fragen muss sich heute jeder stellen, der mit diesen neuen Medienmöglichkeiten umgeht, der postet und sendet – und wer ist das nicht.“ (ebd.)

 
 
Literatur:

Bock, V. /Biermann, U.: Polizeiaktion gegen das Magazin „Der Spiegel“ (am 26.10.1962). In: WDR ZeitZeichen, 26.10.2022. Abrufbar unter: www1.wdr.de

DER SPIEGEL (1): Bundeswehr –Bedingt abwehrbereit. In: DER SPIEGEL 41/1962, 09.10.1962. Abrufbar unter: www.spiegel.de. Vgl. auch Bundeswehr – Bedingt abwehrbereit (Originalabdruck). Abrufbar unter: https://magazin.spiegel.de

DER SPIEGEL (2): Chronologie –Die SPIEGEL-Affäre. In: DER SPIEGEL online, 17.09.2012. Abrufbar unter: www.spiegel.de

Gunkel, C.: 60 Jahre SPIEGEL-Affäre – Ein Abgrund von Machtmissbrauch. In: DER SPIEGEL online, 26.10.2022. Abrufbar unter: www.spiegel.de

SWR2 Archivradio: Konrad Adenauer sieht „Abgrund von Landesverrat“. In: SWR.de, 07.11.1962. Abrufbar unter: www.swr.de