Verdachtsjournalismus

Die Abwägung zwischen Pressefreiheit und Persönlichkeitsschutz

Joachim von Gottberg

Prof. Joachim von Gottberg war bis 2024 Chefredakteur der Fachzeitschrift „mediendiskurs“ und schreibt jetzt als freier Autor.

Hass in sozialen Netzwerken reicht von Hassbotschaften, sexuellen Anzüglichkeiten, gefakten Meldungen und Bildern bis hin zu Morddrohungen: All das generiert Aufmerksamkeit, die man im bürgerlichen Diskurs, wie Habermas ihn sich gewünscht hätte, so nicht bekäme. Ähnliches erleben wir aber auch im Journalismus: Skandale werden oft mit einem Verdacht begründet, der nicht immer bis ins Letzte stichhaltig zu beweisen ist. Ziel ist es, beim Rezipienten ein möglichst großes Interesse zu generieren, um einen besseren Absatz des eigenen Mediums zu erreichen. Darf man Menschen aber die berufliche Basis mit Vorwürfen zerstören, die auf Mutmaßungen beruhen?

Online seit 27.03.2024: https://mediendiskurs.online/beitrag/verdachtsjournalismus-beitrag-772/

 

 

Julian Reichelt, einst Chefredakteur der „Bild“-Zeitung und wohl eher dem sehr konservativen Lager zuzuordnen, gibt seit einiger Zeit das rechtspopulistische Medium Nius heraus. Und weil er vielleicht liberale und weniger konservative Zeitschriften in ein schlechtes Licht rücken wollte, warf er der Vizechefredakteurin der „Süddeutschen Zeitung“ („SZ“), Alexandra Föderl-Schmid, unsaubere journalistische Arbeit vor: „Bei der Süddeutschen Zeitung herrscht redaktionsintern derzeit dicke Luft. Hat die stellvertretende Chefredakteurin Alexandra Föderl-Schmid in ihren Artikeln bei anderen Autoren abgeschrieben? NIUS liegen weitere Textstellen vor, die offenbar nicht aus der Feder der österreichischen Journalistin stammen, aber unter ihrem Namen veröffentlicht wurden, und die die Vorwürfe erhärten“ (Redaktion Nius 2024). Zudem gab Reichelt bei dem als Plagiatsjäger bekannten Stefan Weber den Auftrag, sich die Doktorarbeit von Föderl-Schmid genauer anzuschauen. Der Kommunikationswissenschaftler Weber hat sich einen Namen damit gemacht, Promotionen von meist prominenten Personen des öffentlichen Lebens auf Abgeschriebenes zu untersuchen. Für die von Reichelt beauftragte Tätigkeit kassierte er eigenen Angaben zufolge 2.000 Euro.
 

Vom Angeklagten zum Ankläger

Reichelt selbst musste 2021 seinen Posten als Chefredakteur der „Bild“-Zeitung räumen. Ihm wurden sexuelle Übergriffe und ein autoritärer Führungsstil vorgeworfen. Der Spiegel (online) berichtete damals: „Dass einige der Frauen, mit denen er zeitweilig sein Privatleben geteilt haben soll, beruflich von ihm abhängig waren, störte Reichelt offenbar nicht. Dabei ist das die entscheidende Grenze. Das Privatleben auch eines ‚Bild‘-Chefs geht die Öffentlichkeit nichts an – solange er es nicht unzulässig mit Beruflichem vermischt. War das bei Reichelt der Fall? Und: Lässt sich die Sache überhaupt aufklären?“ (Hülsen et al. 2021).
 

Wer im Glashaus sitzt wirft trotzdem mit Steinen

Gegen Reichelt wurde zunächst intern im Rahmen eines Compliance-Verfahrens ermittelt, er ließ sich befristet freistellen. Reichelt, der auch Vorsitzender der „Bild“-Chefredaktion und Sprecher der Geschäftsführung war, wies die Vorwürfe zurück. Im Herbst 2021 musste er dann seinen Posten räumen und den Konzern verlassen. Der Journalist selbst sprach von einer „Schmutzkampagne“ (Grahn, dpa 2023) gegen ihn und wies die Vorwürfe zurück. Schließlich gründete er das Nachrichtenmagazin Nius. Auch in diesem Job verbreitete er Anschuldigungen, die ihm später gerichtlich untersagt wurden, die er aber auf seinem YouTube-Kanal Achtung, Reichelt! weiterhin erhob. Daraufhin verhängte das Gericht eine Strafe von 5.000 Euro oder zehn Tagen Haft (vgl. Wienand 2024).

Ausgerechnet dieser Mann lässt nun also die Doktorarbeit der Vizechefredakteurin der „SZ“ auf Fehler untersuchen. Der Branchendienst Medieninsider (Schade 2023) meldete im Dezember 2023, die Journalistin hätte in ihrer Doktorarbeit Quellennachweise nicht klar gekennzeichnet. Die Nius-Redaktion schreibt: „Nach einer NIUS-Anfrage zu Plagiatsvorwürfen in ihrer Doktorarbeit (‚Vom Monopol zum Markt: zehn [sic!] Jahre duales Rundfunksystem in Deutschland‘) zog die SZ ihre stellvertretende Chefredakteurin vom Tagesgeschäft ab“ (2024).
 

Hasskommentare und spekulative Berichterstattung

Die „SZ“ hat nun eine externe Untersuchung unter Leitung des ehemaligen „Spiegel“-Chefredakteurs Steffen Klusmann in Auftrag gegeben, die den Vorwürfen nachgehen werde (vgl. Hanfeld 2024). Außerdem habe Föderl-Schmid die Universität Salzburg gebeten, ihre Dissertation zu prüfen (vgl. Nius 2024.). In den sozialen Netzwerken wurde sie derweil zum Opfer von Hasskommentaren.

Dramatisch wurde der Fall, als die Journalistin im deutsch-österreichischen Grenzgebiet vermisst wurde und der Verdacht aufkam, sie habe Suizid begangen, was sich zum Glück nicht bestätigte. Über die Berichterstattung zu dem Fall gab es fünf Beanstandungen beim Deutschen Presserat, die sich auf zwei Artikel bezogen, wie das Journalistenportal newsroom berichtet: „Den Redaktionen wird vorgeworfen, die im Pressekodex geforderte Zurückhaltung bei der Berichterstattung über Suizide nicht beachtet zu haben, da sie den Namen der Vermissten genannt und auf Details der Situation hingewiesen habe. Der Presserat prüft derzeit noch, ob er ein Verfahren gegen die beiden Medien einleitet. Im Fokus stehe dabei die Frage, ob die identifizierende Berichterstattung den Persönlichkeitsschutz von Föderl-Schmid verletzt oder ob ein öffentliches Interesse an ihrer Identität bestanden habe“ (Bartl 2024).
 

Bild: Erstellt mit Midjourney


 

Die Arbeit hätte gegengecheckt werden müssen

Die Wiener Journalistin und Dozentin Barbara Tóth kritisiert an dem Fall, dass die Plagiatsvorwürfe nicht gegengecheckt wurden und meint, „dass man als Journalist nicht nur die Botschaft, sondern auch den Absender sich genau anschauen muss. Wir haben hier in Österreich mit dem Plagiatsjäger Weber schon die eine oder andere nicht ganz kohärente Erfahrung gemacht. Das war vielleicht auch der Grund, dass ich mir gedacht habe, das schaue ich mir jetzt sicherheitshalber noch mal genauer an, was da jetzt wirklich stimmt an seinen Vorwürfen. Und ich denke mir, wenn eben Personen oder Portale, […] wo wir einfach schon wissen, dass man da ein bisschen vorsichtiger sein muss, Dinge in den Raum stellen, dann gehört es einfach dazu, als Journalist, dass man […] einen Double-Check, einen Re-Check macht. […] Also man darf, glaube ich, diese Portale und deren Nachrichten nicht so einschätzen, wie wenn das von einer Agentur oder von einem seriösen Mitbewerber am Markt kommt, sondern das muss man einfach doppelt prüfen, weil die haben eigentlich immer eine Agenda dahinter“ ( Lüring 2024).
 

Die Beschuldigte räumt Fehler ein

Föderl-Schmid selbst hat Ende vergangenen Jahres eingeräumt, dass sie vielleicht zu viel wörtlich übernommen habe. Barbara Tóth zufolge ist es Alltag, dass Journalisten auf Quellen zurückgreifen, ohne dies explizit zu kennzeichnen (vgl. ebd.). „Online geht das ja leicht, da kann man ja einen Link setzen, aber wenn man für ein Printprodukt arbeitet, passiert es, glaube ich, relativ oft, dass man einen Satz, eine Formulierung übernimmt und das halt nicht zitiert in dem Sinne. Da vielleicht genauer zu sein und die Eigenleistung und die Quelle genauer auszuschildern, würde uns im Qualitätsjournalismus guttun“ ( ebd.).
 

Wie sollen betroffene Medien reagieren?

Tóth schlägt den betroffenen Medien vor, für solche Plagiatsvorwürfe ein Krisenmanagement einzuführen, so etwas gebe es in Österreich bereits. Es gehe darum, den oder die Betroffene von belastenden Interaktionen abzuschirmen, etwa indem Kollegen die Social-Media-Kanäle der Betroffenen zeitweise übernähmen. Bei der Wochenzeitung, bei der Tóth arbeitet, zeige man sich wehrhaft. Man mache Screenshots von bestimmten Postings und mahne mithilfe eines Anwalts ab, wenn Dinge strafrechtlich relevant seien (vgl. ebd.). Die Journalistin ist der Meinung, dass die „SZ“ gelassener hätte reagieren sollen: „Was ich ein bisschen schwierig fand, ist, dass man so eingegangen ist auf all diese Vorwürfe. Frau Föderl-Schmid zieht sich aus dem Tagesgeschäft zurück, man benennt eine Kommission, die das prüfen wird. Man hat dadurch die Vorwürfe auf Augenhöhe ernst genommen, ohne, finde ich, genau zu überlegen, warum kommen diese Vorwürfe und vor allem:

wer spricht sie aus. […] Aber wenn das einfach öfters passiert und wenn man das System dahinter erkennt, muss man sich, glaube ich, auch öffentlich als Verlag und als Redaktion wahrscheinlich stärker positionieren und wehren“ (ebd.).

Ähnlich äußert sich in der gleichen Sendung Dr. Wiebke Möhring, Professorin für Online- und Printjournalismus an der TU Dortmund: „Also ich glaube, gesamtgesellschaftlich hat sich der Umgang mit Fehlern insofern geändert, dass Fehler ja heute viel schneller, viel öffentlicher werden. Also allein aus privateren Kontexten, kleine Patzer, kleine Anekdoten werden über Social Media entweder in Eigenregie oder in Fremdregie transportiert und tragen zur allgemeinen Belustigung oder aber eben auch zur allgemeinen Demontierung und Demontage einzelner Personen auch bei. Das überträgt sich natürlich auch auf die Beobachtung von Journalismus“ (ebd.). Trotz eines relativ hohen Medienvertrauens im Vergleich zu anderen europäischen Ländern, sei auch in Deutschland eine Zunahme an Medienskepsis und Zynismus zu verzeichnen (vgl. ebd.). Personen, die skeptischer oder zynischer gegenüber den Nachrichten sind, neigten eher dazu, Fehler zu kritisieren und sie aus dem Kontext zu reißen, „um sie dann genüsslich in Öffentlichkeit zu sezieren“ (ebd.).
 

Berechtigter Skandal oder Skandalisierung?

Daniela Kraus, Generalsekretärin des renommierten Presseclubs Concordia in Wien, sieht durch solche Attacken auf Journalisten auch die Pressefreiheit in Gefahr: „Ich halte das für ganz wichtig, dass wir das wirklich in einem größeren Kontext sehen […]. Also ich halte die Vorwürfe für vollkommen unhaltbar, aber das ist ein anderes Thema. Das, was danach passiert ist, nämlich diese wirkliche Hetze, […] die auch instrumentalisiert wird politisch, vor allem im Netz, das ist ein richtiges Problem für unsere Pressefreiheit. Weil hier sollen erstens Journalisten und Journalistinnen eingeschüchtert werden. Ich glaube nicht, dass das bei Frau Föderl-Schmid gelingen wird, aber das ist ja das Ziel.

Und zweitens sollen ganze Medien, etablierte Medienhäuser wie die ‚Süddeutsche‘, unglaubwürdig gemacht werden. Und das ist einer der Kernpunkte, der dahinter liegt. Und wenn wir damit den Vertrauensverlust noch erhöhen, dann haben wir ein demokratiepolitisches Problem“ (ebd.).

Im Medienmagazin von radioeins wirft Tóth dem „Plagiatsjäger“ Weber vor, dass die Beschuldigten vor einer Veröffentlichung nicht angehört würden. Er erstelle ein Gutachten, verschicke es an Medien oder gebe es an Presseagenturen weiter und klage damit an, wer plagiiere und wer nicht (vgl. Wagner 2024). Auch bekannte Politgrößen wie Annalena Baerbock und Armin Laschet standen bereits im Fokus seiner Prüfungen. Tóth habe die zwölf Stellen in Frau Föderl-Schmids Dissertation untersucht, die als Plagiatsfragmente identifiziert worden waren. Nach der Durchsicht der fast dreihundert Seiten sei sie zu dem Schluss gekommen, dass es sich möglicherweise um Plagiatsfragmente handelt, jedoch nicht in dem Ausmaß, wie es dargestellt wurde. Die Schwere der Vorwürfe sei übertrieben, letztlich gebe es nur zwei Stellen, an denen Frau Föderl-Schmid vergessen habe, Quellen zu zitieren, und einmal habe sie der Quelle das Jahr falsch zugeordnet (vgl. ebd.). „So was ärgert jeden, der dissertiert, weil da will man alles perfekt haben. Aber das hat jetzt die Arbeit an sich noch nicht entwertet. Im Gegenteil. Also wenn man die Arbeit sozusagen als Ganzes sich anschaut, dann ist das eine sehr umfangreiche, verdienstvolle und ganz sicher nicht negativ zu bewertende Arbeit gewesen. Mit halt zwei ärgerlichen Fehlern. […] Also in Summe fand ich sein Urteil anmaßend und sachlich überschießend und nicht in Ordnung“ (ebd.).
 

Zitieren allgemein bekannter Theorien

Barbara Tóth hält fest, dass Föderl-Schmid in der Einleitung ihrer Doktorarbeit auf die einzelnen Kapitel verweise, innerhalb derer sie ein journalistisches Standardwerk zitiere. Anders als in den Kapiteln habe sie die aus diesem Werk entnommenen Gedanken in der Einleitung nicht als Zitate gekennzeichnet (vgl. ebd.). Dabei gehe es um wissenschaftliche Standardaussagen aus Standardwerken, die jeder im entsprechenden Fachgebiet gelesen habe. Außerdem verwies Tóth auf die Rolle der jeweiligen Betreuer der Doktorarbeit. Es sei mitentscheidend, ob diese Wert darauf legten, dass man penibel jedes Mal alles belege, oder ob es ihnen reiche, wenn der Verweis dort gesetzt würde, wo man tatsächlich ins Detail gehe (vgl. ebd.). „Also ich fand das jetzt nicht so gravierend, dass man sagt, das ist jetzt ein schweres Plagiat im Sinne von ‚man übernimmt einen fremden Gedanken‘ […]. Das war auch keine fremde Idee, die sie sich angeeignet hat, sondern man hätte einen Verweis setzen können aufs damalige Standardwerk. Sie hat es halt ein paar Seiten weiter hinten gemacht“ (ebd.).
 

Wann ist Verdachtsournalismus ethisch vertretbar?

Seit der Affäre um die Doktorarbeit des früheren Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg ist es in Mode, Doktorarbeiten genauestens unter die Lupe zu nehmen, um den Autoren mögliche Plagiate oder vergessene Quellenangaben gegen sie zu verwenden. Viele sind solchen Veröffentlichungen zum Opfer gefallen, darunter die frühere Ministerin für Bildung und Forschung, Annette Schavan, oder die jetzige Vorsitzende der SPD-Landtagsfraktion in Berlin, Franziska Giffey. Während Giffey den Vorwurf einigermaßen überstanden hat, musste Schavan zurücktreten. Hier zeigt sich, dass die Sympathie der Bevölkerung gegenüber einer Person sowie die Art und Weise, wie diese mit den Vorwürfen umgeht, entscheidend für den Ausgang des Skandals ist: Schavan hat die Plagiatsvorwürfe bestritten, obwohl ihr der Doktortitel von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf offiziell aberkannt wurde. Giffey hat dagegen einfach auf ihren Doktortitel verzichtet, nachdem ihr die Freie Universität Berlin den Titel aberkannt hat. Sie akzeptierte das Urteil, und das, obwohl eine erste Prüfung lediglich eine Rüge, keine Aberkennung ergeben hatte (vgl. Der Spiegel (online) et al. 2021).
 

Skandale stärken oder schwächen die ethischen Norm

Der Effekt von Skandalen kann auch positiv sein: Die Arbeitsweise in der Wissenschaft ist erheblich präziser geworden, niemand möchte wie zu Guttenberg und Co. gedemütigt werden. Wenn die Empörung so groß ist, dass die betroffene Person Job und Reputation verliert, stärkt das die Einhaltung der Regel. Reicht aber die gesellschaftliche Empörung nicht aus und das Opfer des Skandals kommt letztlich ohne Konsequenzen davon, wird die Norm geschwächt. Ein Beispiel dafür ist der Vorwurf gegen den früheren CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer, er habe mit einer Angestellten des Bundestages ein uneheliches Kind. Seehofer stritt das nicht ab und obwohl er Vorsitzender einer christlich orientierten Partei werden wollte, hat man ihm verziehen: Das sei Privatsache. Damit ist die Norm geschwächt und wird in Zukunft als Maßstab für Skandalisierungen unbrauchbar werden.

Für die Medien schaffen Skandalisierungen Aufmerksamkeit und erhöhen dadurch den Gewinn, so der Kommunikationswissenschaftler André Haller: „Der Mensch ist gierig nach aufsehenerregenden Neuigkeiten, nach Verhaltensweisen und Ereignissen, die noch nie da gewesen sind. Gleichzeitig ist damit eine Art Freude am Scheitern von anderen verbunden, vor allem, wenn es sich um höhergestellte Persönlichkeiten handelt. Als Kommunikationswissenschaftler würden wir das hinsichtlich der Medienrezeption z.B. mit dem Uses-and-Gratifications-Ansatz erklären:

Menschen nutzen Medien und andere Mittel, um bestimmte Bedürfnisse zu befriedigen. Und bei medialen Skandalen werden mehrere Bedürfnisse gleichzeitig befriedigt, nämlich vor allem die Gier nach neuen Informationen und die Suche nach Unterhaltung“ (Gottberg 2019).

Die Fallhöhe war bei Karl-Theodor zu Guttenberg, der als gefeierter Verteidigungsminister sein Amt aufgeben musste und zum Spott der Satire wurde, besonders hoch. Allerdings: „Bei diesem Fall ist interessant, dass einige Medien relativ lange zu ihm gehalten und auch versucht haben, zu relativieren und das anders zu framen. Das zeigen auch Rezipientenanalysen. In unserem neuen Sammelband zum Thema ‚Skandale‘ werden wir einen Beitrag von einer Kollegin veröffentlichen, die an das Thema ‚Guttenberg‘ psychologisch herangegangen ist. Sie hat Tiefeninterviews mit Anhängern von Guttenberg geführt. Und da kam immer wieder heraus: Er wurde zum einen wie eine Art ‚gefallener Held‘ gesehen. Dabei schwang aber über das Verhalten Guttenbergs zum anderen immer eine gewisse Enttäuschung mit, aber gleichzeitig gab es dann auch den Wunsch, dass er nach dieser Krise wieder auferstehen möge. […] Der eigentliche Skandalkern wird anhand des Falles öffentlich ausdiskutiert: Abschreiben ist in der Wissenschaft Betrug – und auf der anderen Seite hört man Argumente wie: ‚Es hat ja jeder schon einmal abgeschrieben in der Mathearbeit‘ und dergleichen. Auf jeden Fall sind seit dieser Affäre an den Universitäten die Sorgfalt und die Ansprüche an den Umgang mit Zitaten erheblich gestiegen“ (ebd.).
 

Entschuldigen statt abstreiten

Wer einen solchen Skandal überstehen will, sollte alles vermeiden, was die Medien dazu einlädt, nachzubohren, etwa das Bestreiten von Fakten. Dann entstehen gegebenenfalls gleich zwei Skandale. Neben dem, was einem vorgeworfen wird, kommt die Lüge hinzu: „Wenn er zugegeben hätte, dass er bewusst betrogen hat und fahrlässig mit den Texten anderer umgegangen ist, dann hätte er das überstehen können. Umso skurriler ist es, dass Annette Schavan bei der Skandalisierung stark gegen Guttenberg mitgewirkt und sauberes wissenschaftliches Arbeiten als Wert hochstilisiert hat und dann später selbst wegen Abschreibens bei ihrer Doktorarbeit zurücktreten musste. […] Es handelt sich ja im Fall Guttenberg nicht um ein paar Quellen, die er vergessen hat, anzugeben, sondern um komplette Passagen, die wortwörtlich übernommen wurden“ (ebd.).
 

Ethische Bewertung

Generell sollte man fair gegenüber den Opfern einer Skandalisierung sein. Dabei ist die Schwere der Verfehlung zu berücksichtigen. Zwischen den Fehlern bei der Doktorarbeit von Karl-Theodor zu Guttenberg, der wohl ganze Passagen fast wörtlich übernommen hat, und den Versäumnissen von Alexandra Föderl-Schmid liegen Welten. Hier ist eine stärkere Abwägung und größere Verhältnismäßigkeit gefordert. Wichtig ist die Orientierung an Fakten. Die Anwaltskanzlei Christian Schertz und Simon Bergmann, die Till Lindemann, Sänger der Gruppe Rammstein, vertritt, hat der Presse mit der Androhung rechtlicher Konsequenzen gedroht „soweit gegen die Grundsätze der Verdachtsberichterstattung verstoßen wurde“ (newsroom.de 2023).

Dagegen verwehrte sich der damalige Vorsitzende des Deutschen Journalistenverbands (DJV), Frank Überall und forderte Journalisten in einer Presseerklärung auf, sich nicht einschüchtern zu lassen: „Der DJV-Vorsitzende weist in dem Zusammenhang darauf hin, dass Verdachtsberichterstattung durchaus zulässig sei, so lange [sic!] sie sich an Spielregeln halte: ‚Dazu gehören unbedingt Fakten.‘ Dass sich der Rammstein-Sänger in Schweigen hülle, verhindere bekanntlich Berichterstattung nicht, so lange [sic!] weitere glaubwürdige Informationen vorlägen. Medien sollten sich von der Presseerklärung des Lindemann-Anwalts nicht einschüchtern lassen: ‚Die Vorwürfe gegen den Frontmann einer der bekanntesten deutschen Bands sind so schwerwiegend, dass sie recherchiert und berichtet werden müssen‘“(ebd.).
 

Fazit

Es ist eine wichtige Aufgabe der Presse, Missstände aufzudecken und zu veröffentlichen. Dies dient letztlich der Stärkung und der Entwicklung gesellschaftlicher Normen und Wertvorstellungen. Allerdings sollten Journalisten dabei immer bedenken, dass sie mit Vorwürfen, die sich möglicherweise als falsch herausstellen, Menschen beruflich und psychisch sehr stark schädigen können – stellen sich die Vorwürfe als falsch heraus, ist die Berichterstattung meist weniger laut. Deshalb ist es ethisch geboten, die Fakten so gut wie möglich zu prüfen, bevor man damit an die Öffentlichkeit geht. Darüber hinaus muss die Dimension des Vorwurfs abgewogen werden: Es ist durchaus sinnvoll, auf Fehler aufmerksam zu machen, damit daraus gelernt werden kann. Aber die Art der Kampagne gegen Föderl-Schmid, die durch Nius betrieben wurde – etwa der Vorwurf, außer dem Gendern sei in den Texten nichts selbst gemacht worden – ist bösartig und völlig übertrieben. Die Vorwürfe von sexuellen Übergriffen mit untergebenen Mitarbeiterinnen wie bei Reichelt wiegen da schon erheblich schwerer.

Dieses Abwägen hält der Jurist Felix Zimmermann für entscheidend: „Damit ist diese Form des Journalismus eine Gratwanderung: Dem öffentlichen Interesse steht das Persönlichkeitsrecht entgegen, das genauso wie die Pressefreiheit verfassungsrechtlich geschützt ist. Im Zweifel müssen Medienhäuser die Zulässigkeit ihrer Berichterstattung auch vor Gericht verteidigen, das dann klärt: Haben Journalistinnen und Journalisten alle Regeln der Verdachtsberichterstattung beachtet?“ (Ries 2023). Allerdings:

Wenn Medien nie im Verdachtsstadium berichten dürften, hätten viele Skandale nie das Tageslicht erblickt“, so Zimmermann (ebd.).

Auch der Medienethiker Alexander Filipovic hält es für richtig, Fehler offenzulegen, gerade bei der „Süddeutschen Zeitung“, die ein hohes Ansehen genieße – schließlich geht es um Vertrauen in die seriöse Arbeit des Mediums (vgl. Riedel 2024). Filipovic glaubt nicht, dass wir im Verdachtsjournalismus mehr Zurückhaltung sehen werden: „Ich bin mir nicht sicher, ob wir eine mitmenschliche Fehlerkultur von öffentlicher Kommunikation überhaupt erwarten können. Natürlich bräuchten wir da mehr Anstand, aber der ganze öffentliche Bereich ist so polarisiert und wird so sehr zur persönlichen Profilschärfung genutzt, dass ich mir nicht vorstellen kann, wie wir mehr Anstand hervorrufen können“ (ebd.). Die Berichterstattung im Fall der Vizechefin der „Süddeutschen Zeitung“ sieht Filipovic aber als überzogen: „Nach allem, was wir wissen, hat sie an der einen oder anderen Stelle handwerkliche Fehler gemacht. Gleichzeitig weiß jeder, dass sie eine hervorragende Journalistin ist. Das Buch, das man über ihre Leistungen schreiben könnte, wäre ungleich größer und dicker als das, was man über ihre Fehler schreiben könnte. Ihre Dissertation muss nun die Universität Salzburg untersuchen. Aber klar ist doch: Die Fehler rechtfertigen in keiner Weise, dass da ein Mensch unmöglich gemacht wird“ (ebd.).

Juristisch fällt das meiste wohl unter die Meinungs- und Pressefreiheit, solange die verbreiteten Fakten sich nicht als falsch herausstellen. Ausführliche Informationen zu rechtlichen Kriterien zum Verdachtsjournalismus finden sich im Podcast Holger ruft an, veröffentlicht bei Übermedien (2023).
 

Quellen:

Bartl, M.: Mehrere Beschwerden über Föderl-Schmid-Berichte beim Presserat. In: newsroom.de, 16.02.2024. Abrufbar unter: www.newsroom.de (letzter Zugriff: 21.03.2024)

Der Spiegel (online), AFP, dpa: Plagiate. Giffey verliert den Doktortitel. In: Spiegel Politik, 10.06.2021. Abrufbar unter: www.spiegel.de (letzter Zugriff: 21.03.2024)

Gottberg, J. v., im Gespräch mit Haller, A.: Am besten gleich die Wahrheit. Skandalisierung, Werteentwicklung und Krisenmanagement. In: tv diskurs, Ausgabe 88, 2/2019, S. 74-79. Abrufbar unter: https://mediendiskurs.online (letzter Zugriff: 21.03.2024)

Grahn, S. L./dpa: Ex-„Bild“-Chefredakteur. Staatsanwaltschaft nimmt Ermittlungen gegen Julian Reichelt auf. In: Zeit Online, 08.05.2023. Abrufbar unter: www.zeit.de (letzter Zugriff: 21.03.2024)

Hanfeld, M.: Affäre Föderl-Schmid. „Süddeutsche“ engagiert Ex-„Spiegel“-Chef Klusmann als Plagiatsprüfer. In: faz.net, 07.02.2024. Abrufbar unter: www.faz.net (letzter Zugriff: 21.03.2024)

Hülsen, I./Kühn, A./Müller, M. U./Rainer, A.: Interne Ermittlungen gegen „Bild“-Chefredakteur Reichelt. „Vögeln, fördern, feuern“. In: Spiegel Wirtschaft, 12.03.2021. Abrufbar unter: www.spiegel.de (letzter Zugriff: 21.03.2024)

Lüring, L.: Was sollten wir aus dem Fall Föderl-Schmid lernen?In: BR24 Medien, 18.02.2024. Abrufbar unter: www.br.de (letzter Zugriff: 21.03.2024)

Schade, M.:  Schreibt die Vize-Chefin der Süddeutschen ohne Kennzeichnung ab? In: Medien Insider, 18.12.2024. Abrufbar unter: medieninsider.com (Letzter Zugriff: 21.03.2024)

newsroom.de: Journalisten sollen sich von Lindemann-Anwalt nicht einschüchtern lassen. In: newsroom.de, 09.06.2023. Abrufbar unter: www.newsroom.de (letzter Zugriff: 21.03.2024)

Nius: Plagiats-Skandal bei der SZ: In manchen Absätzen stammt nur das Gendern von Vize-Chefin Föderl-Schmid. In: Nius, 05.02.2024. Abrufbar unter: www.nius.de (letzter Zugriff: 21.03.2024)

Riedel, A.: Medienethiker kritisiert Umgang mit SZ-Vize Föderl-Schmid. In: newsroom.de, 15.02.2024. Abrufbar unter: www.newsroom.de (letzter Zugriff: 21.03.2024)

Schade, M: Schreibt die Vize-Chefin der Süddeutschen ohne Kennzeichnung ab?In: MEDIENINSIDER, 18.12.2023, Abrufbar unter: medieninsider.com (Letzter Zugriff: 21.03.2024)

Ries, E.: Von Voigt bis Lindemann. Was darf Verdachtsberichterstattung?In: Medien360G, 17.11.2023. Abrufbar unter: www.mdr.de (letzter Zugriff: 21.03.2024)

Übermedien: Müssen Böhmermann und das ZDF dem ehemaligen BSI-Chef Schmerzensgeld zahlen?In: Holger ruft an, 14.09.2023. Abrufbar unter: https://uebermedien.de (letzter Zugriff: 21.03.2024)

Wagner, J.: Die Grenzen des Plagiats-Checks. In: Medienmagazin, 10.02.2024. Abrufbar unter: www.ardaudiothek.de (letzter Zugriff: 21.03.2024)

Wienand, L.: Ex-„Bild“-Chef. Reichelt verbreitete Lüge – Gericht verhängt Zwangsgeld. In: t-online, 09.03.2024. Abrufbar unter: www.t-online.de (letzter Zugriff: 21.03.2024)