Das Fernseharchiv. Der Fall: „Erwachsen auf Probe“

Christian Richter

Dr. Christian Richter ist Fernseh- und Medienwissenschaftler und Bildungsreferent für digitale Kompetenzen. Er beschäftigt sich mit der Theorie und Programmgeschichte des Fernsehens, den Mechanismen und Ästhetiken von On-demand-Angeboten sowie mit Medienbildung und digitaler Bildung.

Quälte RTL Babys für die Quote? Selten hat ein Format so viele Proteste ausgelöst. Über 60 Institutionen und Politiker:innen forderten noch vor dem Start seine Einstellung. Dutzende Anzeigen gingen bei der Polizei ein. Zu Recht? Das Fernseharchiv schaut dieses Mal zurück auf ein umstrittenes TV-Experiment und wirft einen Blick in das dazugehörige Prüfgutachten der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).

Printausgabe mediendiskurs: 28. Jg., 3/2024 (Ausgabe 109), S. 4-5

Vollständiger Beitrag als:

„Das hat mich persönlich relativ betroffen gemacht.“1

Der Unterhaltungschef von RTL, Tom Sänger, zeigte sich am 22. Mai 2009 über das Ausmaß der Kritik an der neuen Reihe seines Senders überrascht. Schließlich war bis dahin noch gar keine Ausgabe von Erwachsen auf Probe (RTL 2009) zu sehen gewesen. Trotzdem forderten schon unzählige Institutionen den sofortigen Stopp der Sendung – darunter der deutsche Kinderschutzbund, die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK), der Deutsche Hebammenverband, pro familia, die SOS-Kinderdörfer, der Deutsche Lehrerverband (DL), der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) sowie über 50 weitere Fachverbände der Kinder- und Jugendhilfe. Hinzu kamen die Kinderkommission des Deutschen Bundestages und die damalige Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen. Sie alle warfen den Verantwortlichen eine Instrumentalisierung von Kindern, die Verletzung der Menschenwürde oder sogar eine „neue Form der Prostitution“ (Welt online 2009) vor. Allein bei der Kölner Oberstaatsanwaltschaft gingen gegen die geplante Sendung rund 60 Strafanzeigen – meist wegen Kindeswohlgefährdung oder Verdacht auf Körperverletzung – ein.
 


Im Rahmen der achtteiligen Dokusoap unterzogen sich vier Teenagerpärchen mit Kinderwunsch laut Pressetext einem „Crashkurs zum Erwachsenen-Dasein“ (RTL 2009).



Im Rahmen der achtteiligen Dokusoap unterzogen sich vier Teenagerpärchen mit Kinderwunsch laut Pressetext einem „Crashkurs zum Erwachsenen-Dasein“ (RTL 2009). Hierbei stand insbesondere die Frage im Vordergrund, ob sie reif sind „für den härtesten Job der Welt – eigene Kinder?“ (ebd.). Um dies zu überprüfen, erhielten sie erst ein Neugeborenes, dann ein Kleinkind, ein Schulkind und letztlich einen Teenager für jeweils vier Tage in Obhut ausgehändigt. Dabei handelte es sich um echte Babys und Kinder, die von ihren Eltern für die Aufnahmen zur Verfügung gestellt worden waren. Die Idee hatte man vom britischen BBC-Format The Baby Borrowers (GB 2007) adaptiert.
 

Erwachsen auf Probe (© RTL)


 

Dass die Kritik bereits vor der Ausstrahlung derart lautstark ausfiel, lag für Tom Sänger vor allem an der Ankündigung: „Wir hätten die Rahmenbedingungen und Hintergründe transparenter machen müssen“ (Sänger 2010, S. 251). Zwar hatte man vorab versichert, die Dreharbeiten würden von Erzieherinnen, einer Kinderpsychologin und einer Ärztin begleitet, verkürzte jedoch die Einbindung der leiblichen Eltern. Dazu hieß es nämlich nur, diese „könn[t]en ihre Babys 24 Stunden am Tag aus dem gegenüber liegenden [sic!] Haus beobachten und das Experiment jederzeit abbrechen“ (RTL 2009). Aus dieser Formulierung wurde geschlussfolgert, dass die ausgeliehenen Kinder tagelang ohne jeglichen Kontakt zu ihren Eltern in der wildfremden Fürsorge belassen wurden. Vor allem Säuglinge würden – so der Tenor der nachfolgenden Kritik – durch eine solche Trennung von ihren Eltern existenziellen Ängsten ausgesetzt.

Die damalige RTL-Geschäftsführerin Anke Schäferkordt versuchte, diesen Eindruck nachträglich zu korrigieren: „Die Mütter waren fester Bestandteil des Produktionsablaufs und die ganze Zeit in unmittelbarer Reichweite ihrer Kinder“ (SZ 2010). Dazu versicherte RTL-Sprecher Frank Rendez: „Einige Mütter haben ihre Babys nachts zu sich geholt“ (Welt online 2009). Zudem hätten sie Ausflüge zum Spielplatz oder zum Einkaufen hinter der Kamera begleitet. Inwieweit diese wichtigen Informationen in der Vorankündigung versehentlich oder für eine kalkulierte Skandalisierung bewusst ausgelassen wurden, blieb offen. Dadurch aber hatte man die Kinderschutz-Initiativen geradezu herausgefordert, sich mit der Show zu befassen.
 


Dass die Kritik bereits vor der Ausstrahlung derart lautstark ausfiel, lag für Tom Sänger vor allem an der Ankündigung: „Wir hätten die Rahmenbedingungen und Hintergründe transparenter machen müssen“ (Sänger 2010, S. 251).



In der anschließenden Diskussion prallten zwei schwer miteinander zu vereinbarende Sichtweisen aufeinander: auf der einen Seite Menschen, die sich engagiert für den Schutz von Kindern und Familien einsetzten, dem (Privat-)Fernsehen generell kritisch gegenüberstanden und weder Kenntnis von noch Verständnis für die Gesetzmäßigkeiten des TV-Marktes hatten; auf der anderen Seite ein kommerzielles Medienunternehmen, das im Wettstreit um Aufmerksamkeit in seinem Programm auf überzeichnete Erzählungen und zugespitzte Dramatisierungen setzte. Es half dem Kanal auch nicht, dass man behauptete, mit dem Experiment zur Prävention von jugendlichen Schwangerschaften einen Beitrag leisten zu wollen. Ein durchschaubares Schutzargument, denn die abgefilmte Beaufsichtigung der fremden Kinder hatte mit dem Elternsein genauso viel gemein wie das Kümmern um ein Tamagotchi. Daher zielte das Konzept eigentlich darauf ab, die Überforderung der Teenager zu exponieren.

Um all den Kritiken begegnen zu können, veranstaltete RTL wenige Tage vor der Premiere ein Vorab- Screening der ersten anderthalb Folgen, an dem viele Vertreter:innen der genannten Organisationen teilnahmen. Eine Lösung des Konflikts konnte bei diesem Treffen nicht erreicht werden. Dafür waren die Fronten durch öffentliche Äußerungen zu verhärtet. Und dafür war RTL zu wenig zu Zugeständnissen bereit.

Formal war dies gar nicht nötig, da man die Sendung bereits von der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) hatte prüfen lassen und von dort eine Freigabe für eine Ausstrahlung am Abend ausgesprochen worden war. Das entsprechende Gutachten erkannte in den gesichteten Folgen insgesamt eine „positive pädagogische Absicht“ und hob hervor, dass die Babys und Kleinkinder als Persönlichkeiten mit sozialen Bedürfnissen dargestellt und hierdurch „verzerrte Vorstellungen bei den Teenagern zurechtgerückt“ würden (FSF 2009). Zugleich wurden die Herabwürdigung der Teilnehmenden und eine mangelnde Sicherheit für die Kinder verneint.
 


Das entsprechende Gutachten erkannte in den gesichteten Folgen insgesamt eine „positive pädagogische Absicht“ und hob hervor, dass die Babys und Kleinkinder als Persönlichkeiten mit sozialen Bedürfnissen dargestellt und hierdurch „verzerrte Vorstellungen bei den Teenagern zurechtgerückt“ würden (FSF 2009).



Aber der Prüfausschuss sah diese Unbedenklichkeit lediglich für Kinder über 12 Jahre. Für jüngere Kinder erkannte man hinsichtlich einer „Angstdimension [...] erhebliche Risiken bei einer Rezeption der Sendung“ (ebd.). Weil sie die zahlreichen Sicherungssysteme der Produktion nicht durchgehend erkennen würden, könnten sie nicht immer überblicken, „dass den Kindern, denen sie altersmäßig noch sehr nahestehen, nichts passiert“ (ebd.). Dieses Urteil schloss eine Wiederholung der Ausgaben im Tagesprogramm aus. Ganz ohne war das TV-Experiment also doch nicht.

Diese Bedenken reichten allerdings nicht für strafrechtliche Konsequenzen. Entsprechend stellte die Kölner Oberstaatsanwaltschaft schnell fest: Die Kinder wurden „keinen erheblichen, also über ein normales alltägliches Lebensrisiko hinausgehenden, Gefahren“ (FR 2009) ausgesetzt. Inwieweit sich die befürchteten Traumata bei den Neugeborenen und Kindern längerfristig gezeigt haben, ist nicht dokumentiert.

Bleibt noch die Frage, ob Erwachsen auf Probe jenseits aller Kontroversen gutes Fernsehen war. Der Kritiker Peer Schader verneint. Für ihn waren die Episoden „konfus geschnitten“ und von „Künstlichkeit“ geprägt (Schader 2009). Thomas Gehringer urteilte sie derweil als „miese Unterhaltung“ ab (Gehringer 2009). Vielleicht lag darin der Grund, weshalb die Reihe trotz des medialen Echos lediglich mäßigen Publikumszuspruch fand und über die erste Staffel hinaus keine Fortsetzung erfuhr.
 

Anmerkung:

1 Tom Sänger, zitiert nach: Niggemeier, S.: A. a. O.

Literatur:

Frankfurter Rundschau (FR): Kein Kinderspiel. In: Frankfurter Rundschau, 20.07.2009, S. 16

Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF): Prüfgutachten | 13581-N | ERWACHSEN AUF PROBE/Episode 1 und 2 (Doppelfolge), 15.04.2009

Gehringer, T.: „Erwachsen auf Probe“: Chaos in der Kinderstube. In: tagesspiegel.de, 22.07.2009. Abrufbar unter: www.tagesspiegel.de (letzter Zugriff: 20.06.2024)

Niggemeier, S.: Erwachsen auf Probe. In: stefan- niggemeier.de, 24.05.2009 (ursprünglich erschienen in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung). Abrufbar unter: www.stefan-niggemeier.de (letzter Zugriff: 20.06.2024)

RTL: Pressetext zur Sendung. In: RTL.de, 2009. Abrufbar unter: web.archive.org (archiviert, letzter Zugriff: 19.06.2024)

Sänger, T.: Brennen für die Quote. In: B. Pörksen/W. Krischke (Hrsg.): Die Casting-Gesellschaft. Die Sucht nach Aufmerksamkeit und das Tribunal der Medien. Köln 2010, S. 242–255

Schader, P.: Erwachsen auf Probe“: Platte Debatte. In: spiegel.de, 03.06.2009. Abrufbar unter: www.spiegel.de (letzter Zugriff: 20.06.2024)

Süddeutsche Zeitung (SZ): RTL-Serie „Erwachsen auf Probe“: Gebündelte Entrüstung. In: sueddeutsche. de, 17.05.2010. Abrufbar unter: www.sueddeutsche.de (letzter Zugriff: 19.06.2024)

Welt online: RTL-Sendung als „Form von Prostitution“ verurteilt. In: welt.de, 14.05.2009. Abrufbar unter: www.welt.de (letzter Zugriff: 19.06.2024)