Das Fernseharchiv. Der Fall: „MTV Freakshow“

Christian Richter

Dr. Christian Richter ist Fernseh- und Medienwissenschaftler und Bildungsreferent für digitale Kompetenzen. Er beschäftigt sich mit der Theorie und Programmgeschichte des Fernsehens, den Mechanismen und Ästhetiken von On-demand-Angeboten sowie mit Medienbildung und digitaler Bildung.

Mit einer eigenen Version der US-Serie Jackass wollte der deutsche Musiksender MTV bewusst provozieren. Das gelang. Die Show führte zu einem Rechtsstreit über transplantierte Gesäßhaare und Spielzeugautos mit Dartpfeilen. Letztlich ging es nicht um die Frage, ob die Sendung jugendgefährdend war, sondern wie schwer die Gefährdung ausfiel.

Printausgabe mediendiskurs: 28. Jg., 2/2024 (Ausgabe 108), S. 20-21

Vollständiger Beitrag als:

 

Eine solche Totalzensur einer Sendung hat es im deutschen Fernsehen noch nicht gegeben.“1

Die damalige Chefin des Musiksenders MTV, Catherine Mühlemann, zeigte kein Verständnis für die Entscheidung der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien (BLM), die im Juni 2002 jegliche (Wieder)Ausstrahlungen der neuen Reihe MTV Freakshow gänzlich untersagte.

Erst am 15. Mai 2002 war sie als deutsche Antwort auf den amerikanischen Hit Jackass (USA, 2000– 2002) unter großer medialer Aufmerksamkeit bei MTV Germany gestartet. Wie schon beim Original stand darin eine Gruppe junger Männer im Zentrum, die sich mit geschmacklich grenzwertigen Stunts, Mutproben und Streichen vor laufenden Kameras gegenseitig herausforderten. Hierbei lag ein entscheidendes ästhetisches Merkmal darin, dass sämtliche Szenen in alltäglichen Umgebungen mit simplen Videokameras und ohne großen Aufwand inszeniert waren. Auf diese Weise versprachen sie einen hohen Grad an Realismus und Authentizität.
 

Ben Tewaag (Bild: © MTV Freak Show)


 

In den Ankündigungen zur Freakshow sprach der Kanal noch von harmlosen „Bubenstreichen“ (Drews 2002), in denen sich Ben Tewaag und seine Freunde Matze, Freddy und Klaus in „ausgefallenen Verkleidungen unter Prominente, aber auch unters ‚normale‘ Volk“ mischen und diese mit „Überraschungseffekten“ konfrontieren würden (Der Spiegel 2002). Das klang zunächst nach einer braven Variante der „Versteckten Kamera“. Und ja, einige Beiträge passten zu dieser Beschreibung – beispielsweise als Ben in einem Hundekostüm vor einer Polizeiwache kiffte oder die Jungen ein Schwein dazu brachten, auf einem Polizeiwagen abzukoten.

In den meisten Szenen bestand das Konzept allerdings schlicht darin, sich gegenseitig zu verletzen. So fällte die Gang einen Baum, auf dem Matze saß und sich beim Sturz die Rippe brach. Sie ärgerten eine Vogelspinne so lange, bis diese endlich zubiss, sie stopften Metall und Feuerwerkskörper in eine Mikrowelle, verpflanzten mithilfe eines Skalpells ein Gesäßhaar auf die Stirn und schlugen einen Mitspieler wie einen Rammbock gegen eine Autoscheibe. Als sie dann Dartpfeile auf ferngesteuerten Autos befestigten und sich mit ihnen gegenseitig in die Füße fuhren, zog sich Ben eine Nervenverletzung und eine Blutvergiftung zu.

Während Journalist:innen der amerikanischen Vorlage immerhin eine gewisse Komik zusprachen, ließen sie an der deutschen Version kein gutes (Gesäß‑)Haar. So beschrieb Christian Seidl in der „Süddeutschen Zeitung“ Tewaag und sein Team als „unangenehme Nobeldisko-Nasen, deren einziger Antrieb die Langeweile“ sei und deren Scherze „bemüht, peinlich und abgeschmackt“ wirkten (Seidl 2002).

Die kalkulierten Tabubrüche ließen den zuständigen Institutionen des deutschen Jugendmedienschutzes keine Wahl – insbesondere weil die Serie bereits um 17:00 Uhr und nicht wie das US-Original erst nachts lief. Im Schulterschluss mit der Gemeinsamen Stelle Jugendschutz und Programm (GSJP) der Landesmedienanstalten sah die BLM in den einzelnen Filmen „Anreize für Verhaltensweisen gegeben, die schwere körperliche Beeinträchtigungen zur Folge“ haben könnten. Insbesondere beklagten sie bei zahlreichen Aktionen ein „hohes Nachahmungspotential“ wegen einer „großen Alltagsnähe“ und einer wiederkehrenden Verharmlosung der möglichen Gefahren (Zecher 2002). In der Gesamtbewertung stufte die BLM die Ausgaben als „offensichtlich schwer jugendgefährdend“ ein, woraus sich „unmittelbar aus dem Rundfunkstaatsvertrag“ ein Verbot weiterer Ausstrahlungen ergab. Zusätzlich ordnete sie eine Sendezeitbeschränkung für eventuelle weitere Folgen erst nach 23:00 Uhr an (BLM 2002).
 


Tatsächlich hob das Verwaltungsgericht München das Sendungsverbot in einem Eilverfahren auf. Man erkannte in der Produktion zwar durchaus eine Jugendgefährdung, hielt diese aber nicht für „offensichtlich schwer“. Damit durfte MTV die umstrittenen Episoden weiterhin im Programm behalten.“



Obwohl die Leitung von MTV einräumte, die „Grenzen sicher ein bisschen überschritten“ zu haben (Mühlemann 2002), legte das Unternehmen gegen diese vermeintliche „Total­zensur“ Widerspruch ein. Tatsächlich hob das Verwaltungsgericht München das Sendungsverbot in einem Eilverfahren auf. Man erkannte in der Produktion zwar durchaus eine Jugendgefährdung, hielt diese aber nicht für „offensichtlich schwer“. Damit durfte MTV die umstrittenen Episoden weiterhin im Programm behalten. Das Gericht bestätigte jedoch die angeordnete Sendezeitbeschränkung, wodurch die Wiederholungen erst am späten Abend laufen durften. Mit diesem Teilerfolg gab sich die BLM nicht zufrieden. Sie hielt ein generelles Verbot weiterhin für angebracht und legte Klage ein. In einer ordentlichen Verhandlung stellte das Verwaltungsgericht München schließlich abermals fest, dass die meisten Szenen der MTV Freakshow zwar unsinnig, abstoßend oder dümmlich waren und das Format offenkundig die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen nicht positiv beeinflusste, eine „offensichtlich schwere Jugendgefährdung“ sei in den meisten Fällen trotzdem nicht zu erkennen. Die ausführliche Urteilsbegründung kann in tv diskurs nachgelesen werden (vgl. tv diskurs 2005).

Demzufolge wurde eine Nachahmungsgefahr dann verneint, wenn das Nachstellen der Aktionen entweder erhebliche Anstrengungen voraussetzte (wie das Fällen eines Baumes) oder wenn dafür besondere Gegenstände nötig waren, die Jugendlichen in der Regel nicht zur Verfügung stehen (z. B. schweres Gerät, um ein Auto zu demolieren). Die Szene mit der Vogelspinne war in den Augen des Gerichts ebenso wenig problematisch, denn die Notwendigkeit des sehr langen Ärgerns des Tieres zeige ja, dass es gar nicht habe zubeißen wollen und eine echte Gefahr eigentlich nicht bestanden habe. Bei anderen Beiträgen – etwa beim Montieren der Dartpfeile auf den Spielzeugautos – sah man zwar eine Nachahmungsgefahr vorliegen, aber die Grenze zur offensichtlich schweren Gefährdung nicht überschritten. Dafür seien die betreffenden Filme zu kurz oder unbeteiligte Dritte nicht gefährdet gewesen. Interessanterweise erklärte das Urteil zudem, dass die Einflussmöglichkeit der Sendung deswegen beschränkt sei, weil sie technisch und gestalterisch von mäßiger Qualität sei.

Einzig die fünfte Folge beinhaltete Teile, für die das Gericht die „offensichtliche schwere Jugendgefährdung“ tatsächlich bejahte. Darunter war eine Szene, in der ein Mann einen anderen auf offener Straße mit einer laufenden Kettensäge verfolgte, ein Boxkampf, bei dem die beiden Duellanten mit verbundenen Augen aufeinander einprügelten, und eine Sequenz, in der ein Freak gegen seinen Willen ein Branding verpasst bekam. Aufgrund der hohen Verletzungsgefahr diesmal auch für Dritte war die Untersagung dieser Ausgabe also rechtmäßig.

Zur Urteilsverkündung im November 2004 war das allerdings längst egal. Da die deutsche Version inhaltlich und quotenmäßig nicht mit ihrer Vorlage mithalten konnte, hatte MTV schnell das Interesse verloren und nie mehr als die ursprünglichen sechs Episoden produzieren lassen.
 

Anmerkung:

1 Mühlemann, C.: A. a. O.
 

Literatur:

Bayerische Landeszentrale für neue Medien (BLM): BLM stellt Presseinformation von MTV zur „Freakshow“ richtig. In: blm.de, 29.08.2002. Abrufbar unter: www.blm.de

Der Spiegel: Uschi Glas’ Sohn wird zum Freak. In: Spiegel Online, 28.03.2002. Abrufbar unter: www.spiegel.de

Drews, S.: Tabubruch,verzweifeltgesucht. In: Der Tagesspiegel, 19.05.2002, S. 34.
Abrufbar unter: www.tagesspiegel.de

Mühlemann, C.: „Grenzen überschritten“. Interview mit Catherine Mühlemann. In: Der Spiegel, 31/2002, 29.07.2002, S. 76

Seidl, C.: Volle Pulle in die Hose. In: Süddeutsche Zeitung, 17.05.2002, S. 19

tv diskurs (Redaktion Rechtsreport): Entscheidung VG München, Urteil vom 4.11.2004, – M 17 K 02.5297 – (zum Sendeverbot der Freakshow). In: tv diskurs, Ausgabe 32, 2/2005, S. 94–99. Abrufbar unter: https://mediendiskurs.online

Zecher, J.: USA: Nachahmer von MTVs umstrittener „Jackass“-Serie zündet sich selbst an. In: Institut für Urheber- und Medienrecht, 12.11.2002. Abrufbar unter: www.urheberrecht.org