„Das Persönliche und Politische kraftvoll vereint.“

Berlinale-Sektion „Generation“ im Jahr 2019

Barbara Felsmann

Barbara Felsmann ist freie Journalistin mit dem Schwerpunkt „Kinder- und Jugendfilm“ sowie Autorin von dokumentarischer Literatur und Rundfunk-Features.

2017 war für „Generation“ ein Jahr der „dokumentarischen Form“. Insgesamt konnten damals sieben lange Dokumentarfilme, hauptsächlich für das „14plus“-Publikum, präsentiert werden. In diesem Jahr sind es – sage und schreibe! – zehn Dokumentarfilme, fünf für Kinder und fünf für Jugendliche, von insgesamt 29 Langfilmen. Die künstlerische Herangehensweise ist dabei sehr unterschiedlich, sie reicht von einer rein dokumentarischen Erzählweise bis hin zu einer Mischung von dokumentarischen Elementen und Inszenierung.

Printausgabe tv diskurs: 23. Jg., 2/2019 (Ausgabe 88), S. 4-7

Vollständiger Beitrag als:

Die Dokumentarfilme aus dem „Kplus“-Wettbewerb wenden sich einem breit gefächerten Themenspektrum zu. So beschreibt Nina Wesemann in ihrem Hochschulabschlussfilm Kinder den Alltag von vier Heranwachsenden aus Berlin. Ein Jahr lang hat sie die vier, die sich untereinander nicht kannten, mit der Kamera begleitet. Ihr Blick ist ein beobachtender, ein spezielles Thema, beispielsweise, wie die Kinder die Vorteile, aber auch die Ein- und Begrenzungen ihres Großstadtlebens empfinden, scheint die Regisseurin nicht verfolgt bzw. hinterfragt zu haben. So wie sie von der S-Bahn aus beeindruckend atmosphärische, flüchtige Berlin-Bilder einfängt, zeigt sie bei den Kindern ähnlich flüchtige Stimmungen. Sicher ein gutes Konzept für einen Kurzfilm, einen Langfilm trägt es nicht.

Vergleichbar beobachtend gehen auch Pablo Briones, Jace Freeman und Sean Clark in ihrem Film Baracoa vor. Sie begleiten zwei sehr verschiedene Freunde aus Kuba: den 13-jährigen Antuán und den 9-jährigen, mindestens einen Kopf kleineren Leonel, die ihre Sommerferien zu Hause verbringen müssen. In den Urlaub fahren mit der Familie oder in ein Feriencamp – das scheint schon allein aus finanziellen Gründen nicht möglich zu sein. Auch hier finden sich lange (und manchmal zu lange) Einstellungen, in denen die Jungen spielen, gefährliche Erkundungen in Bauruinen machen oder einfach ihrer Zerstörungswut freien Lauf lassen. Doch im Gegensatz zu dem deutschen Wettbewerbsbeitrag nehmen die Filmemacher hier – wie nebenbei und doch hauptsächlich – die besonders innige Freundschaft der beiden Jungen unter die Lupe, zeigen auf ganz stille, sensible Weise, wie sich der jüngere Leonel in diesem Sommer emanzipiert, selbstbewusst und erwachsen wird.

Der Zusammenprall von alten und neuen Welten

Die Schweizer Filmemacherin Jacqueline Zünd wiederum porträtiert in Where We Belong fünf Mädchen und Jungen, deren Eltern sich getrennt haben. Sie erzählen, wie sich ihre Lebensverhältnisse nach der Trennung verändert haben, was es bedeutet, sich zwischen zwei Elternteilen entscheiden und mit dem Gefühl des Verlassenwerdens fertigwerden zu müssen.

In dem australischen Dokumentarfilm 2040 von Damon Gameau dagegen geht es um die Zukunft unseres Planeten. Damon Gameau wartet mit starken Bildern und spannenden Vergleichen auf, wirkt aber im Kommentar zu agitatorisch und belehrend.

Einer der für mich stärksten Wettbewerbsbeiträge in diesem Jahr bei „Kplus“ war der Dokumentarfilm Anbessa von der US-amerikanischen Regisseurin und Kamerafrau Mo Scarpelli. Sie erzählt die Geschichte eines Jungen in Äthiopien, der hautnah den Zusammenprall einer alten traditionellen Lebensweise mit der neuen technisierten Welt erlebt. Asalif und seine Mutter leben in einer Lehmhütte ohne Strom und fließend Wasser am Rande eines neu errichteten Stadtviertels. Während die riesige Planstadt wächst und wächst, wird den Menschen, die hier früher lebten, das Land genommen und so deren Existenzgrundlage zerstört. Asalif wandert zwischen beiden Welten, lauscht den Legenden und Erinnerungen seiner Mutter, holt Wasser an der Wasserstelle, streift im kleinen Wald auf der Anhöhe umher. In der neuen Stadt sucht er nach Elektroschrott, um Licht in die Hütte zu bringen und Spielzeuge mit Motor zu bauen, und hofft gleichzeitig, neue Freunde zu finden. Mit beeindruckenden Dokumentaraufnahmen porträtiert Mo Scarpelli diese unterschiedlichen Welten, stellt sie nebeneinander, ohne sie zu bewerten. Sie begleitet den Jungen auf seinen Erkundungen und zeigt dessen innere Verfassung in einem inszenierten Spiel, nämlich wie Asalif allmählich die Angst vor der Hyäne verliert und sich zum kleinen, aber starken Löwen mausert.

Dieses Aufeinandertreffen der alten und neuen, sprich industrialisierten Welt spielt in verschiedenen „Generation“-Beiträgen eine Rolle und vereint so beispielsweise das Persönliche kraftvoll mit dem Politischen, wie es die Sektionsleiterin Maryanne Redpath so treffend in einem ihrer Vorworte im Programmheft formuliert hat.

Eine ganz persönliche Geschichte, die aber gesellschaftliche Verhältnisse genau beschreibt, erzählt auch der in langen Einstellungen gedrehte „Kplus“-Beitrag aus der Volksrepublik China, Di yi ci de li bie (Ein erster Abschied). Hier steht der Junge Isa im Mittelpunkt, der in einer uigurischen Dorfgemeinschaft abseits der Moderne lebt. Jetzt schon deuten sich große Veränderungen, schmerzhafte Abschiede an. Isas Bruder zieht weg, will studieren und Karriere machen, die schwer kranke, pflegebedürftige Mutter wird in ein Pflegeheim in der Stadt eingewiesen und selbst seine beste Freundin Kalbinur soll das Dorf verlassen, um eine chinesische Schule zu besuchen. Wie wird die Zukunft für Isa aussehen in Zeiten des Wandels? Der bewegende Film, der diese Frage engagiert aufgreift, ohne sie zu beantworten, erhielt den Großen Preis der Internationalen Jury von Generation „Kplus“.
 


Bei „14plus“ wenden sich der Spielfilm The Red Phallus1 des bhutanischen Regisseurs und Drehbuchautors Tashi Gyeltshen und der Schweizer Kurzspielfilm Soeurs Jarariju (The Jarariju Sisters) von Jorge Cadena dieser Problematik zu. Letzterer spielt in Kolumbien am Rande einer Kohlemine. Hier, in einer völlig zerstörten Landschaft, wachsen die Wayuu-Schwestern auf. Ihr traditionelles Leben weiterzuführen, bleibt ihnen verwehrt. Sie müssen aufgrund der immensen Umweltverschmutzung ihre Heimat verlassen. Dieses „panoramaartige Filmerlebnis“, wie es in der Begründung hieß, bedachte die Internationale Jury mit einer lobenden Erwähnung.
 

Große Fragen des Lebens, erste Liebe und fantasievolle Abenteuer

Die für „Kplus“ nominierten Spielfilme zeichneten sich durch eine formale wie inhaltliche Vielfalt aus. So überraschte der Eröffnungsfilm Cleo, das Langfilmdebüt von Erik Schmitt, der sich bereits mit seinen schrägen Berlin-Kurzfilmen Nashorn im Galopp und Berlin Metanoia international einen Namen gemacht hat, mit seiner unkonventionellen Erzählung einer Liebes- und Kindheitsgeschichte, zwei wunderbaren Hauptdarstellerinnen (Gwendolyn Göbel als junge und Marleen Lohse als erwachsene Cleo) und einzigartigen, manchmal bonbonbunten Berlin-Bildern. Ein Spaß voller Gefühle, der Medienpädagoginnen und -pädagogen und auch Verleihfirmen Schweißperlen auf die Stirn treibt ob der Frage: Kinderfilm ja oder nein.

Ähnlich bunt und anarchisch kommt die niederländisch-deutsche Koproduktion Mijn bijzonder rare week met Tess (Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess) von Steven Wouterlood daher. Innerhalb einer Ferienwoche klären Sam und Tess jeweils eine lebenswichtige Frage für sich. Während Sam sich damit auseinandersetzt, was wird, wenn er als Jüngster der Familie übrig bleibt, befindet sich die ideenreiche Tess auf der Suche nach ihrem Vater.Um den schwierigen Weg der Selbstfindung und um die erste Liebe geht es in dem Gewinner des Gläsernen Bären, Une colonie (Eine Kolonie) aus Kanada. Die in sich gekehrte Mylia und ihre wilde, unbefangene jüngere Schwester Camille sind das genaue Gegenteil. Während Camille keine Hemmungen hat, fremde Menschen anzusprechen und verbotene Dinge zu tun, kommt Mylia mit ihrer Pubertät und der Oberflächlichkeit ihrer Mitschülerinnen nur schwer zurecht. Bis ihr neuer Mitschüler Jimmy aus dem Abenaki-Reservat ihr dabei hilft, nach ihren ureigensten Maßstäben zu leben und ihre Außenseiterrolle anzunehmen.
 


Für die jüngsten Kinogänger wurden in diesem Jahr zwei witzige, fantasievolle und liebevoll gestaltete Animationsfilme präsentiert: die estnisch-lettische Koproduktion Lotte ja kadunud lohed (Lotte und die verschwundenen Drachen) von Heiki Ernits und Janno Põldma sowie Månelyst i Flåklypa (Solan und Ludvig – Auf zum Mond) von Rasmus A. Sivertsen aus Norwegen. Alle drei Filmemacher waren bereits früher zu Gast bei der Berlinale.
 

Starkes und facettenreiches Programm auch bei „14plus“

Zu den Favoriten der Jugendjury gehörte in diesem Jahr Hölmö nuori sydän (Stupid Young Heart) von Selma Vilhunen. Die Koproduktion aus Finnland, den Niederlanden und Schweden beschreibt sehr genau, wie der noch nicht volljährige Lenni verzweifelt Halt sucht, als er erfährt, dass er Vater werden wird. Der Film wurde mit dem Gläsernen Bären ausgezeichnet, u.a. weil er „Themen aufgreift, die vor allem für unsere Altersklasse von großer Relevanz sind.“ Und weiter heißt es in der Begründung der Jugendlichen: „Er ergründet Motivationen des aktuellen politischen Rechtsruckes und Fremdenfeindlichkeit in unserer Gesellschaft.“
 


Der Große Preis der Internationalen Jury dagegen ging an die koreanische Produktion von Kim Bo-ra, Beol-sae (House of Hummingbird). In ihrem berührenden, bemerkenswert gefühlvoll gestalteten Spielfilmdebüt wird die Suche einer Achtklässlerin, die in einer dysfunktionalen Familie aufwächst, nach ihrem Platz im Leben beschrieben. Die innige Beziehung zu ihrer neuen Chinesischlehrerin gibt ihr dabei Kraft und Halt.

Ganz anders, aber ähnlich ergreifend erzählen die Regisseurinnen Elle-Máijá Tailfeathers und Kathleen Hepburn die Begegnung zweier Frauen in Vancouver in The Body Remembers When the World Broke Open. Sie haben ihren Film, der hauptsächlich aus Nahaufnahmen besteht, in nur drei Einstellungen und nahezu in Echtzeit gedreht. Im Mittelpunkt stehen Áila und Rosie aus einem Stadtviertel in Vancouver. Die gut situierte Áila lebt in einem geschmackvoll eingerichteten Apartment, die indigene Rosie mit ihrem gewalttätigen Freund und dessen Mutter in einer Sozialwohnung. Áila hat gerade einen Schwangerschaftsabbruch hinter sich, Rosie ist hochschwanger und vor den Schlägen ihres Freundes geflüchtet. Unter Schock im Regen stehend wird sie von Áila entdeckt. Áila nimmt die verstörte Frau mit zu sich nach Hause, lässt sie dort duschen und zur Ruhe kommen. Später will sie Rosie in ein Frauenhaus bringen, damit sie vor ihrem Mann geschützt ist. Der Versuch scheitert, aber zwischen den Frauen hat sich eine vertrauensvolle, enge Beziehung entwickelt, die Rosie die Kraft geben wird, für sich selbst zu sorgen.
 

Last, but not least: die dokumentarischen Formen bei „14plus“

Wie erwähnt, waren in diesem Jahr fast ein Drittel der Langfilme bei „14plus“ Dokumentarfilme. So begleitete André Hörmann in seiner aufwühlenden Arbeit Ringside (Im Ring) acht Jahre lang zwei Jugendliche aus Chicago, die im Boxen die einzige Chance sehen, der Gewalt und Kriminalität ihres Stadtviertels zu entkommen. Doch der Weg zum Profiboxer ist steinig und nicht ohne Rückschläge.

Die unter die Haut gehende, skandinavische Produktion von Carl Javér, Rekonstruktion Utøya (Reconstructing Utøya), lässt vier Überlebende des Amoklaufs von 2011 auf der Insel Utøya zu Wort kommen, indem sie ihre Erlebnisse zusammen mit anderen Jugendlichen am Ort des Geschehens und auf der Bühne nachspielen.
 


Von der Kraft und politischen Entschlossenheit junger Menschen erzählt die brasilianische Dokumentation Espero tua (re)volta (Your Turn), die sich anhand von Originaldokumenten mit den Schüler- und Studentenprotesten seit 2015 auseinandersetzt.

Bénédicte Liénard und Mary Jiménez dagegen verweben in ihrer Arbeit By the Name of Tania dokumentarische mit fiktionalen Elementen. Sie schildern das Leben einer jungen Peruanerin vom Lande, die zur Prostitution gezwungen wurde. Im O-Ton erzählt die junge Frau, die für viele andere Schicksale steht, wie das System der Zwangsprostitution funktioniert, wie die jungen Frauen Schritt für Schritt in Abhängigkeit gebracht werden und dabei ihre Naivität ausgenutzt wird und wie schwer es ist, sich aus dieser Abhängigkeit zu befreien. Die Bilder, die die beiden Filmemacherinnen finden, verstehen sich deutlich als Metapher bzw. als Visualisierung der Erzählung, was diesem Film eine unglaubliche emotionale Wucht verleiht.
 

Anmerkung:

1) Eine ausführliche Kritik zu The Red Phallus findet sich auf tvdiskurs.de: Felsmann, B.: „The Red Phallus“. Bewegender Debütfilm aus Bhutan bei Generation „14plus“. In: tv diskurs online, 18.02.2019. Abrufbar unter: https://tvdiskurs.de/beitrag/the-red-phallus/

 

Die Gläsernen Bären gingen an …

 

„Kplus“


KINDERJURY

Gläserner Bär für den Besten Film
Une colonie (Eine Kolonie) von Geneviève Dulude-De Celles (Kanada 2018)

Lobende Erwähnung
Daniel fait face (Daniel) von Marine Atlan (Frankreich 2018)

Gläserner Bär für den Besten Kurzfilm
Juste moi et toi (Nur ich und du) von Sandrine Brodeur-Desrosiers (Kanada 2019)

Lobende Erwähnung
#pestverhaal (#mobbinggeschichte) von Eef Hilgers (Niederlande 2018)

 

INTERNATIONALE JURY

Großer Preis der Internationalen Jury von Generation „Kplus“ für den Besten Film
Di yi ci de li bie (Ein erster Abschied) von Wang Lina (Volksrepublik China 2018)

Lobende Erwähnung
Mijn bijzonder rare week met Tess (Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess) von Steven Wouterlood (Niederlande/Deutschland 2019)

Spezialpreis der Internationalen Jury von Generation „Kplus“ für den Besten Kurzfilm
El tamaño de las cosas (Das Maß der Dinge) von Carlos Felipe Montoya (Kolumbien 2019)

Lobende Erwähnung
Pappa (Dad) von Atle S. Blakseth/Einar Dunsæd (Norwegen 2019)

 

„14plus“


JUGENDJURY

Gläserner Bär für den Besten Film
Hölmö nuori sydän (Stupid Young Heart) von Selma Vilhunen (Finnland/Niederlande/Schweden 2018)

Lobende Erwähnung
We Are Little Zombies von Makoto Nagahisa (Japan 2019)

Gläserner Bär für den Besten Kurzfilm
Tattoo von Farhad Delaram (Iran 2019)

Lobende Erwähnung
Four Quartets von Marco Alessi (Großbritannien 2018)

 

INTERNATIONALE JURY

Großer Preis der Internationalen Jury von Generation „14plus“ für den Besten Film
Beol-sae (House of Hummingbird) von Kim Bo-ra (Republik Korea 2018)

Lobende Erwähnung
Bulbul Can Sing von Rima Das (Indien 2018)

Spezialpreis der Internationalen Jury von Generation „14plus“ für den Besten Kurzfilm
Liberty von Faren Humes (USA 2018)

Lobende Erwähnung
Soeurs Jarariju (The Jarariju Sisters) von Jorge Cadena (Schweiz 2018)