Demokratie oder Diktatur
Gesellschaftsentwürfe der Zukunft in Film und Serie
Das Glücksversprechen
Das Glücksversprechen, das die diktatorischen Systeme des 20. Jahrhunderts verband, war die Behauptung, dass der Mensch nur in der Masse – sei es die „Volksgemeinschaft“ oder das „Kollektiv“ – glücklich werden könne. Die Klassiker dystopischer Literatur und ihre Verfilmungen hinterfragen dieses Glücksversprechen kritisch und zeigen, dass die Ideale der Französischen Revolution – Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit – in der politischen Praxis einer glücksversprechenden Einparteienherrschaft gewaltsam pervertiert werden und in Terror und Folter gegenüber Individuen münden, die sich die Freiheit nehmen, ihre unveräußerlichen Menschenrechte wahrnehmen zu wollen.
Verbotene Liebe
In George Orwells Roman 1984 ist die Welt nach einem vernichtenden Atomkrieg in die drei diktatorische Staaten Eurasien, Ostasien und Ozeanien aufgeteilt. In Ozeanien lebt Winston unter der Herrschaft des „Großen Bruders“ und seiner „Inneren Partei“. Winston, ein Rädchen im System, arbeitet im Wahrheitsministerium und ist dort dafür zuständig, die Geschichte entsprechend den gerade aktuellen Wünschen der Partei umzuschreiben. Aus Wahrheit wird Lüge, die stets als aktuelle Wahrheit gilt.
Alle Menschen werden über Teleschirme überwacht, nicht nur in den heruntergekommenen Mietswohnungen der Metropole, sondern überall in der Stadt und selbst auf dem Land. Die Überwachungsmöglichkeiten von „Augmented Reality“ hat Orwell hier schon vorgedacht. Auch das „Public Viewing“ gibt es bei Orwell schon. Die Menschen müssen öffentlich Propagandafilme ansehen, ihre Liebe zum „Großen Bruder“ bekennen und ihren Hass gegen dessen angeblichen Widersacher Goldstein herausschreien.
Individuelle Liebe gilt als „Sexverbrechen“. Doch Winston verliebt sich in Julia und führt heimlich Tagebuch, dem er seine Gefühle anvertraut. Kurzzeitig sind beide glücklich. Aber die beiden werden verraten und mittels Folter einer Umerziehung unterzogen. In der Verfilmung des dystopischen Klassikers von Michael Radford aus dem Jahr 1984 bleibt am Ende offen, ob die gewaltsam erzwungene Umerziehung bei Winston wirklich funktioniert hat.
Radikaler ist das Ende der Erstverfilmung von 1956 in der Regie von Michael Anderson. Bei einer letzten Begegnung des Ex-Liebespaares stellt Julia fest: „Sie bringen einen so weit, dass man nichts mehr für den anderen empfindet“. Winston: „Julia, glaubst du wirklich, dass ihnen das bei uns gelungen ist!? Julia: „Glaubst du nicht!?“ Winston: „Nein! Sie sind nicht allmächtig“. Doch Julia entgegnet resigniert: „Wozu noch reden. Wir sind tot!“ Daraufhin entschließt sich Winston (Edmond O’Brien) spontan zu einem letzten Widerstandsakt, wohl wissend, dass er erschossen wird. Julia (Jan Sterling) wird bei dem Versuch, ihm zur Hilfe zu eilen, ebenfalls ermordet.
1984 Directed by Michael Andersen 1956 (CSTONEUK, 30.10.2012)
Das Versprechen auf individuelles Glück, das dem demokratischen System zumindest als Option innewohnt, muss – so die Botschaft von Orwells Roman und seiner Verfilmungen – in Diktaturen zerstört werden, um einerseits umgelenkt zu werden in eine libidinöse Bindung des in der Masse aufgehenden Individuums an eine Führerfigur (Freud 1977) und um andererseits eine „chronische Verhärtung der Charakterstruktur“ der Gesellschaftsmitglieder zu erzeugen, „eine ‚emotionale Panzerung‘, mit der sie das ursprünglich Lebendige und Liebevolle in sich verschütten.“ (Senf 2003, S. 1)
Teile und herrsche
Was in 1984 als Verbrechen gilt, ist in Aldous Huxleys Fantasie einer Schönen neuen Welt eines der zentralen Herrschaftsprinzipien eines Wohlfahrtsstaates, in dem jeder jedem gehört, Sexorgien erlaubt sind und Monogamie verboten ist. Gleichwohl gilt auch in dieser Zukunftsgesellschaft Privatsphäre als „Laster, das sich der Gesellschaftskörper nicht leisten kann“. Mit diesen Worten ermahnt der Direktor schon in der ersten Folge der vom NBCUniversal-Streamingdienst Peacock produzierten Serienverfilmung Schöne neue Welt (USA 2020) seinen Untergebenen Bernard Marx (Harry Lloyd). Marx, einer der Hauptfiguren, ist ein Alpha. Er gehört zur Führungselite und soll dafür sorgen, dass immer alle genug Soma haben, eine Droge, die den Mitgliedern der herrschenden Klasse stets ein Glücksgefühl vermittelt. In Huxleys Zukunftsgesellschaft sind die Klassen im Rahmen eines Kastensystems klar geregelt und getrennt. In den Führungsetagen sitzen die Alphas, während die Kaste der Epsilons am unteren Ende der Klassenkaskade die Dreckarbeit macht. Rebellion, Revolte, Widerstand der versklavten Unterschicht sind ausgeschlossen. Im Gegenteil: Die Epsilons lieben, was sie tun. Sie sind wie alle Wesen in Huxleys Zukunftswelt Retortenmenschen, nicht natürlich gezeugt, sondern im Brutkasten gezüchtet und mit den für jede Kaste vorgesehenen Eigenschaften genetisch programmiert. Alle negativen Gefühle werden wegkonditioniert. Und die Soma-Droge tut ihr Übriges.
Trailer Brave New World (Peacock, 25.06.2020)
Allerdings gibt es einen Raketenflug von der Hauptstadt New London entfernt ein Reservat, in dem die Primitiven, die Wilden leben: echte Menschen mit echten Gefühlen, impulsiv und empathisch, aber manchmal auch wütend und gewaltbereit. So wie Automechaniker John (Alden Ehrenreich). Nach einem Aufstand im Reservat flieht er zusammen mit seiner Mutter (Demi Moore), einer Beta, die bei den Wilden lebte, weil sie eine natürliche Geburt hatte, sowie mit Bernard und dessen Freundin Lenina (Jessica Brown-Findlay) nach New London. Dort eigentlich als exotischer Wilder ausgestellt und vorgeführt, wirbelt John das herrschende System bald ziemlich durcheinander. Besonders Lenina gerät in eine Sinnkrise. Sie lernt durch John jenseits des herrschenden Hedonismus Liebe, Intimität und Geborgenheit, aber auch negative und verwirrende Gefühle kennen. Sie beginnt, ihre Rolle als brave folgsame Beta zu hinterfragen. Als John dann auch noch anfängt, den Epsilons ihre Lage bewusst zu machen, droht ein Aufstand das System zum Kippen zu bringen.
Individualität als Rettung
Neben diesen beiden dystopischen Klassikern ist es besonders der 1953 erschienene Science-Fiction-Roman Fahrenheit 451 des US-Autors Ray Bradbury, der auf spezifische Weise die Rolle des Individuums in der modernen Massen-, Konsum- und Mediengesellschaft auslotet. François Truffaut hat sich in seiner ersten internationalen Produktion der Verfilmung dieses Stoffs 1966 angenommen. Die Bilder, in denen für einen SciFi-Film etwas altmodisch wirkende rote Feuerwehrwagen durch die Landschaft flitzen, prägen sich ein. Sie bilden das wiederkehrende Leitmotiv des Films.
Die Feuerwehr rückt in dieser Zukunftsgesellschaft der USA nicht zum Feuerlöschen, sondern zum Bücherverbrennen aus. Bücher sind verboten, werden gesucht, gefunden und vernichtet. Wer heimlich noch eine Bibliothek zu Hause hat, muss in diesem von Bradbury erdachten Staat mit dem Schlimmsten rechnen. Warum? Lesen bringt Menschen auf „dumme Gedanken“, erklärt Captain Beatty (Cyril Cusack) dem Feuerwehrmann Guy Montag (Oskar Werner) den Sinn seiner Aufgabe. „Alle müssen gleich sein“, führt Beatty die Staatsdoktrin in einer Szene des Truffaut-Films weiter aus. „Freundschaft zu allen Menschen“ kann nur erreicht werden, wenn Lesen verboten ist. Es regt zum eigenständigen Denken an. Doch ein Nachdenken über den Weltenzustand schafft Konflikte. Konflikte schaffen Ungleichheit. Deshalb müssen die Bücher nach Beattys staatstragender Ansicht von den Menschen ferngehalten werden.
Trailer Fahrenheit 451 (Trailer Chan, 02.06.2017)
Auch in Bradburys Dystopie wird deutlich: Das Glücksversprechen, das sich auf individuelle Freiheit gründet, wird in diesem diktatorischen Feuerwehrstaat desavouiert, weil es gewaltsam und zu Lasten persönlicher Freiheitsrechte erzwungen wird. Und wie bei Orwell und Huxley gibt es auch bei Bradbury eine Hauptfigur, die sich auflehnt und rebellisch wird: Feuerwehrmann Montag lernt eine junge Frau kennen, die seiner fernsehsüchtigen und – ähnlich wie bei Huxley – auch durch Drogen völlig an das System angepassten Ehefrau (Julie Christie) perfekt ähnelt, ihn allerdings auf die subversive Idee bringt, auf die Inhalte der Bücher, die er verbrennt, neugierig zu werden.
In Fahrenheit 451, der Temperatur, bei der Bücherpapier Feuer fängt, löst sich der Konflikt zwischen Individualität und Anpassung an die diktatorische Staatsdoktrin am Ende allerdings weder durch die Liquidierung der Rebellen noch durch die Zerstörung des Systems, sondern durch die Errettung des Individuums mittels seiner eigenen Individualität. Montag flieht zu einer Widerstandsgruppe im Wald, in der jedes Mitglied sein eigenes Buch ist. Die Widerständler lernen ihr Lieblingsbuch auswendig. So können die Individuen jeder für sich das literarische Erbe der Welt bewahren und an ihre Nachkommen weitergeben.
Zeitgebundene Produktion
Die Zukunftsperspektiven, die alle drei Autoren in ihren negativen Gesellschaftsutopien entwickeln, bleiben stark zeitgeschichtlich und biografisch gebunden. So verarbeitet etwa Orwell seine Erfahrungen als politischer Aktivist mit den stalinistischen Praktiken der kommunistischen Partei und verknüpft sie in seinem 1949 erschienenen Weltbestseller mit den Erkenntnissen über die Gewaltherrschaft faschistischer Systeme in den 1930er- und 1940er‑Jahren. Huxleys Roman erschien schon 1932, konnte auf die diktatorischen Entwicklungen in Europa kaum Bezug nehmen und rekurriert vielmehr stark auf die gesellschaftliche Debatte, die zu jener Zeit um Eugenik und genetische Auslese geführt wurde.1 Bradburys Roman erschien in den frühen Zeiten des „Kalten Krieges“. Überall witterten manche US-Bürger kommunistische Verschwörungen und Unterwanderungen. Der Ruf nach einem starken Staat wurde lauter. Und ein Senator namens McCarthy leitete ein Komitee, das im US-Kapitol Schauprozesse gegen Künstler und Intellektuelle durchführte, die in Verdacht standen, Parteigänger oder Sympathisanten der politischen Linken zu sein. Bradbury wollte mit seinem Roman dem „nach rechts drehenden Wind“ (vgl. getAbstract o.J.) etwas entgegensetzen.
Auch heute ist eine weltweite Rechtsdrehung des politischen Windes wieder deutlicher spürbar. Der Trumpismus in den USA, das autoritäre System Putins und dessen Angriffskrieg auf die um Demokratie ringende Ukraine, die immer deutlicher Gestalt annehmende digitale Diktatur in der Volksrepublik China, Erdoğans nationalistischer Autokratismus, das Erstarken des italienischen Neofaschismus, schließlich die überkommene kommunistische Gewaltherrschaft in Nordkorea und das Mullah-Regime im Iran – der Kampf um demokratische Verfasstheit, Rechtsstaatlichkeit und Bürgerrechte gegen autokratische und diktatorische Systeme ist aktuell in vollem Gange. Da verwundert es kaum, dass im letzten Jahrzehnt immer mehr negative Gesellschaftsutopien in Kinofilmen und Serien dargestellt wurden, die an die klassischen Dystopien der 1950er- und 1960er-Jahre anknüpfen und den Konflikt zwischen individueller Freiheit und erzwungener Massenanpassung, zwischen Demokratie und Diktatur, weiterentwickeln und modernisieren.
So kann etwa die Serienneuauflage The Handmaid’s Tale – Report der Magd (5 Staffeln, seit 2017) des gleichnamigen Romans von Margaret Atwood und deren Kinoverfilmung Geschichte einer Dienerin (D/USA 1990) von Volker Schlöndorff durchaus als Kommentar zum Kampf um Frauenrechte gegen islamischen, aber auch gegen christlichen Fundamentalismus, etwa in den USA, gesehen werden. Auch die Serie Schöne neue Welt modernisiert ihre Vorlage, in dem sie den erzählerischen Fokus stark auf die Emanzipationsbestrebungen von Hauptfigur Lenina legt und das Thema der künstlichen Intelligenz als Konstruktionsinstanz der „Brave New World“ deutlicher akzentuiert als es Huxleys Roman tat.
Trailer The Handmaid's Tale (KinoCheck Heimkino, 08.12.2020)
Bürgerkrieg um Demokratie
Den diktatorischen Zukunftsstaat Panem, zu dem die USA nach einem verheerenden Bürgerkrieg geworden ist und den die Verfilmungen der Die Tribute von Panem-Romane zeigen, hätte sich Autorin Suzanne Collins möglicherweise auch so nicht ausgedacht, gäbe es nicht die reale politische Spaltung des Landes, forciert in der Trump-Ära und eskaliert im Sturm auf das Kapitol in Washington am 6. Januar 2021.
Auf den ersten Blick trägt Panem deutliche Züge der Diktatur des „Großen Bruders“, die Orwell beschrieben hatte. Zugleich gleicht die multikulturelle Wohlstandsgesellschaft in der Hauptstadt Kapitol aber eher der von Huxley erdachten hedonistischen Zukunftsgesellschaft. In der Staatsmetropole herrscht Wohlstand und Vergnügungssucht, zu der auch die Belustigung an den mörderischen Hungerspielen gehört, an denen jährlich Jugendliche aus allen 13 Distrikten teilnehmen müssen und die auf allen möglichen Bildschirmen im ganzen Land übertragen werden. Der Reichtum im Zentrum des Staates speist sich aus der bedingungslosen Ausbeutung der Unterschicht, die in den Randdistrikten des Landes unter erbärmlichen Umständen lebt.
Doch im Unterschied zu Huxleys Retortenwesen findet die Unterschicht in Panem keineswegs gut, was sie tun muss und was ihr angetan wird. In Collins Romanen und deren Verfilmungen steht daher auch von Anbeginn nicht so sehr die Beschreibung der Diktatur, sondern der Kampf der Hauptfigur Katniss, die aus der Unterschicht kommt, gegen die Unterdrückung im Zentrum der Handlung. In Mockingjay (USA 2014–2015), in dem Regisseur Francis Lawrence die Handlung des dritten Bandes der Roman-Trilogie in zwei abendfüllenden Kinofilmen erzählt, wird Katniss zur Gallionsfigur eines Bürgerkriegs für die Demokratie. Sie folgt dabei einerseits ihrem Gefühl, Peeta (Josh Hutcherson), in den sie sich während der ersten Hungerspiele verliebt hat und den „Big Brother“ Präsident Snow (Donald Sutherland) unter Folter und Gehirnwäsche gefangen hält, befreien zu wollen, kämpft aber zugleich entlang ihres moralischen Kompasses für das gesellschaftliche Ziel, Snow zu stürzen, freie Wahlen zu ermöglichen und eine neue demokratische Ordnung für die Panem-Distrikte aufzubauen.
Zwiespältige Botschaften
Regisseur Lawrence‘ Darstellung dieses Kampfes ist allerdings zwiespältig, denn mit der Figur der Rebellen-Präsidentin Alma Coin (Julianne Moore) und ihrem intrigant-zwielichtigen Berater Plutarch Heavensbee (Philip Seymour-Hoffman) bedient er durchaus auch demokratiekritische Sichtweisen, die etablierte Politik ausschließlich an Machterwerb und Machterhalt interessiert sehen wollen. Zugleich enttäuscht der Schluss des Films ungemein, da er mit dem harmonischen Familienbild im milden Southern-Comfort-Abendlicht mit Kate als treusorgender Mutter und Peeta als Farmer gänzlich naive, völlig tradierte und überholte Rollenbilder als Idealvorstellung des Zusammenlebens in einer zukünftigen Demokratie präsentiert.
Solch zwiespältige Botschaften ans vornehmlich junge Publikum lassen sich auch in der zweiten großen Kinodystopie der 2010er-Jahre finden, die von den Regisseuren Neil Burger und Robert Schwentke auf Grundlage der Romantrilogie Die Bestimmung von Veronica Roth realisiert wurde. Die Welt, die Regisseur Neil Burger im ersten Teil, Divergent (USA 2014), darstellt, zeigt deutliche Bezüge zu Huxleys dystopischer Erzählung. Film wie Roman spielen in der von Kriegsschäden gezeichneten Stadt Chicago. Um für immer Frieden und Harmonie zu schaffen, wurde die Gesellschaft gleichfalls wie bei Huxley in ein Kastensystem verwandelt. Im Unterschied zu Huxleys Schöne neue Welt sind die Kasten, bei Roth „Fraktionen“ genannt, aber nicht nach „oben“ und „unten“ organisiert, sondern erfüllen ohne strikte Hierarchisierung die wesentlichen sozialen Funktionen des Staates. Mit 16 werden alle Gesellschaftsmitglieder mittels einer Droge auf ihre persönlichen Merkmale getestet. Anhand dieses Tests legt man ihnen nahe, welche Kaste sie wählen sollten. Hauptfigur Tris (Shailene Woodley) vereint die Eigenschaften mehrerer Kasten in sich. Sie ist eine „Unbestimmte“ und wird als Bedrohung des Systems angesehen. Sie beginnt, das System zu hinterfragen und es schließlich mit Gleichgesinnten anzugreifen.
Trailer DIE BESTIMMUNG - Divergent (KinoCheck, 20.11.2013)
In den von Robert Schwentke inszenierten Teilen 2, Insurgent (USA 2015), und 3, Allegiant (USA 2016), wird Tris’ Kampf um Individualität und persönliche Freiheit gezeigt und das System der Fraktionen sehr deutlich als rassentheoretisches Herrschaftsmodell gebrandmarkt. Das System um Anführer David (Jeff Daniels) betreibt soziale Auslese, löscht unter dem Vorwand einer Impfung die Erinnerungen von Kindern, trennt sie von ihren Eltern und entführt sie anschließend aus der sogenannten Randzone ins Zentrum, um sie dort unter experimentellen Bedingungen aufwachsen zu lassen. Obwohl dieses Handeln als negativ dargestellt wird, bleibt die Darstellung zweifelhaft, da sie sowohl auf Impfangst und ‑skepsis beim Publikum rekurriert als auch Versatzstücke der Verschwörungserzählungen der QAnon-Sekte aufgreift und bedient.
Das Militär als Ordnungsfaktor
Aktuell nutzen besonders einige Serienproduktionen dystopische Szenarien, um das Militär als Ordnungsmacht darzustellen, wenn die Welt nach einer globalen Katastrophe in Chaos und Anarchie versinkt. Die von Michael Bay produzierte Serie The Last Ship (USA 2014–2018) zeigt deutliche ideologische Implikationen, wenn Captain Chandler (Eric Dane) mit seiner Crew nach einer weltweiten Pandemie, bei der ein Großteil der Weltbevölkerung verstarb, auf dem letzten verbliebenen Schlachtschiff der US-Navy die Rolle des „Weltpolizisten“ übernimmt, während im Bauch des Schiffes die Virologin Dr. Scott (Rhonda Mitra) verzweifelt nach einem Impfstoff forscht.
Interessanterweise erfüllt auch in der russischen Serie The Blackout (2019) das Militär die Funktion der Ordnungsmacht, nachdem die Welt durch einen globalen Stromausfall im Chaos versinkt und Plünderungen und Morde an der Tagesordnung sind. Die Serie, die wie The Last Ship in ihren Einzelgeschichten eher simpel gestrickt ist, singt nicht nur das Hohelied auf alles Militärische, sondern suggeriert nicht ohne propagandistische Absicht in Figurendarstellung und Filmlook, dass Russland den westlichen Staaten ähnlich und eine offene Gesellschaft sei. Kritische Seitenhiebe auf das System Putin gibt es, doch da muss man in dieser von Amazon produzierten Serie schon genau hinschauen.
Gespaltene Gesellschaft
Da das Phänomen der gesellschaftlichen Spaltung nicht allein die USA betrifft, taucht es im internationalen Seriengeschehen immer häufiger als Ausgangspunkt dystopischer Geschichten auf. In der brasilianischen Netflix-Serie 3% (2016–2020) müssen sich in einem südamerikanischen Zukunftsstaat alle 20‑Jährigen einem Test unterziehen, um angeblich in die Elite jener der Prozent der Bevölkerung aufsteigen zu können, die ein sorgenfreies Leben in Wohlstand führen. In der südkoreanischen Serie Squid Game (2021) ist die gesellschaftliche Spaltung ökonomischer Natur. Hochverschuldete erhalten die Chance, sich durch die Teilnahme an grausamen Spielen zu entschulden.
Trailer The Blackout (KinoCheck Heimkino, 06.11.2020)
Der dystopische Moment
Die geradezu inflationäre Produktion filmischer Dystopien im Kino, aber in den letzten Jahren besonders in den Serien der Streamingdienste korrespondiert mit einem gesteigerten Publikumsinteresse an Filmen und Serien, die dystopische Welten darstellen. Die 2019 verstorbene ungarische Philosophin Ágnes Heller sah in einem ihrer letzten Veröffentlichungen den Grund für die gesteigerte Rezeption dystopischer Geschichten darin, dass „das utopische Moment den Glauben an sozialen und historischen Fortschritt voraus[setzt], … – das dystopische Moment bringt den Verlust dieses Glaubens zum Ausdruck.“ (Heller 2016, S. 54)
Angesichts von Kriegen, Pandemie und drohender Weltzerstörung durch die Klimakatastrophe bedient die Dystopie das Gefühl vieler Menschen, nicht mehr an einen guten Ausgang der Menschheitsgeschichte glauben zu können. So reflektiert Dystopie nicht nur zu Orwells oder Huxleys Zeiten, sondern auch heute immer ein Stück ihrer eigenen Gegenwart.
Trailer 3% (Netflix, 27.10.2016)
1) Zum Vergleich der dystopischen Stoffe beider Autoren siehe die Dokumentation George Orwell, Aldous Huxley. 1984 oder Schöne neue Welt auf ARTE (verfügbar bis 27.03.2023)
Literatur:
Freud, S.: Massenpsychologie und Ich-Analyse. Frankfurt am Main 1977
getAbstract: Fahrenheit 451. In: getAbstract, o.J. Abrufbar unter: www.getabstract.com
Heller, Á.: Von der Utopie zur Dystopie: Was können wir uns wünschen? Wien 2016
Senf, B.: Die Massenpsychologie des Faschismus (1998). Ein Hinweis auf das richtungweisende Werk von Wilhelm Reich. In: Bernd Senf, 2003. Abrufbar unter www.berndsenf.de