Der Besuch im Fußballstadion

Ein sinnlich-emotionales Gemeinschaftserlebnis

Clemens Schwender

Dr. Clemens Schwender ist Professor für Medienpsychologie und Mediengeschichte.

In der Saison 2017/2018 kamen im Schnitt über 500.000 Besucher in die Stadien, um ein Spiel der Ersten oder Zweiten Bundesliga zu sehen. An jedem Spieltag. Freiwillig. Bei Wind und Wetter. Kritisch betrachtet ist das nicht leicht zu verstehen. Zu Hause werden die Spiele übertragen. Live. Mit Kommentar. Die Kamera dicht am Spieler. In Zeitlupe. Es muss also schon etwas ganz Besonderes sein, wenn man ins Stadion geht. Was man bekommt, ist ein Erlebnis. Alle Sinne werden bedient, viele Emotionen angesprochen. Die Zuschauer bekommen, was es zu Hause auch auf dem großen Bildschirm nicht gibt: ein umfassendes Erlebnis, was die Besucher bewegt.

Printausgabe tv diskurs: 22. Jg., 4/2018 (Ausgabe 86), S. 48-51

Vollständiger Beitrag als:

Mit allen Sinnen erleben

Vom Spiel selbst kann man nicht viel sehen, wenn man im Oberrang in einer Kurve sitzt. Und verpassen darf man auch nichts, denn eine Wiederholung in Zeitlupe wird nicht geboten. Fernsehfußball und Stadionbesuch sind nicht zu vergleichen. Es sind unterschiedliche Events. Statt Hackentrick und Abseitsstellung sieht man ein ganzes Stadion voller Eindrücke: die Fans mit Shirts, Schals und Fahnen in den Farben der Heimmannschaft, was das Gefühl der Gemeinschaft gibt. Man erkennt die gegnerischen Fans. Selten ist es einfacher, Gut und Böse zu unterscheiden.

Zu Hause vor dem Fernseher hört man von all den Geräuschen im Stadion hauptsächlich den Kommentator, der kompetent alle Namen der Spieler nennt, auch Tricks und Abseits besser sieht als die Schiedsrichter. Im Stadion werden die Fouls auch erkannt, wenn auch subjektiv und parteiisch. Und eine ganze Kurve weist die Verantwortlichen darauf hin, wenn sie wie aus einem Mund „Foul!“ ruft. Neben dem Sehsinn ist das Gehör live dabei. Die Ultras brüllen, klatschen und singen während der gesamten Spieldauer. Und das ist laut. Und wenn es mal leise werden sollte, greift der Capo – der Vorsänger im Ultra-Block – ein und animiert, er gibt Rhythmen vor und stimmt Lieder an. Lautstärke ist ein Zeichen von Stärke. Nur wer laut ist, kann einschüchtern. Und darum geht es. Sowohl die gegnerischen Spieler als auch deren Fans sollen sich schwach fühlen im Heimstadion und verunsichert werden. Dafür gibt es Schmählieder. „Zieht den Bayern die Lederhosen aus!“ Das hallt durch jedes Stadion, in dem der FC Bayern München auswärts antreten muss.

Im Stadion kann es im Sommer nach Schweiß riechen, wenn einige Tausend Fans auf der Stelle hüpfen. Und darüber der Geruch von Bratwurst, Senf und Bier. Diese spezifische Mischung kommt nicht ins Wohnzimmer. Es vermittelt aber das Gefühl von Dazugehören und von Geborgenheit in einer Gruppe, die sich körperlich nahekommt. Und wer sich eine überteuerte Wurst oder ein Kaltgetränk gönnt, reizt auch den Geschmackssinn. Bratwürste werden auch in der VIP-Lounge am meisten nachgefragt und nicht etwa Lachs-Canapés. Das verbindet mit dem Fan im weiten Rund. An den Toiletten hat man über die Jahre gearbeitet. Sie riechen heute nicht mehr penetrant.

Bringt die eigene Mannschaft den Ball ins gegnerische Tor, wird nicht nur lautstark gejubelt, man liegt dem Nachbarn in den Armen. Damit kommt der Tastsinn zum Einsatz und man fühlt sich den anderen Fans ganz nah. Fast hautnah, was wiederum das Gemeinschaftsgefühl im Wir befördert. In den Ultra-Kurven gibt es bei den Bundesligaspielen keine Sitzplätze. Als man bei Werder Bremen den Neubau des Stadions plante und nur noch bequeme Sitze anbieten wollte, rumorten die Fans mit dem Slogan: „Sitzen ist für’n Arsch“. Dies war auch ein Protest gegen die Kommerzialisierung in den Stadien. Die echten Fans wollen dicht dabei sein und ein Spiel erleben und nicht nur dasitzen und brav klatschen. Sitzen kann man zu Hause vorm Fernseher. So muss man in den Rängen stehen, hüpfen, schunkeln, weil man nicht anders kann, da es alle tun. Und dazu braucht es auch noch den Gleichgewichtssinn.

Damit ist das sinnliche Empfinden noch nicht erschöpft. Körperempfindungen aus dem Innern melden sich. Durch das stundenlange Singen und Grölen wird der Hals trocken. Ein Getränk könnte den Durst stillen und dann meldet sich die Blase. Im Winter wie im Sommer spüren die Stadionbesucher die angenehmen wie die unangenehmen Seiten des Wetters. Auch das ist etwas, das gemeinsam erlebt und durchlitten wird. In diesem Fall sind es Fans und die Spieler unten auf dem Feld, die denselben Bedingungen ausgesetzt sind. Hier unterscheiden sich Gelegenheitsbesucher von den echten Fans, sie sind immer dabei und unterstützen die Mannschaft – egal bei welchem Wetter.
 

Viele Emotionen empfinden

Das Wahrnehmen durch die Sinne bleibt nicht ohne Empfindungen. Das Stadion ist der Ort, wo man Gefühlen freien Lauf lassen kann. Da das berufliche wie auch das private Leben meist durch Emotionskontrolle bestimmt ist, können Gefühle im Stadion ungehemmt geäußert werden. Ganz generell lassen diese sich in positive und negative sortieren. Zu den freudigen Ereignissen im Stadion gehören uneingeschränkt die Tore, die gegen die Gastmannschaft gehen. Jubel, Grölen, Hüpfen und Umarmen signalisieren den Moment. Doch Fußballfans müssen auch leiden können. Das Erleben selbst, das Zusammenstehen in Freud und Leid, kann positiv gedeutet werden. Auch in der Niederlage können sie sich als Gruppe erleben und daraus Identität ziehen. Sieg und Niederlage, Freud und Leid, Begeisterung und Trauer sind im Fußball nicht weit voneinander entfernt. In einem Spiel kann man Hoch und Tief mehrfach erleben. Aus den möglichen Wendungen ergibt sich Spannung bis zum Abpfiff. Die Freude zu gewinnen steht der Angst zu verlieren entgegen. Und aus Trauer können Ärger und Wut entstehen. Im Stadion sind Gut und Böse klar erkennbar verteilt. Man erkennt die anderen an den Farben ihrer Shirts, Schals und Fahnen.

Ärger und Wut können sich gegen Spieler oder Trainer der eigenen Mannschaft, gegen das gegnerische Team, gegen dessen Fans oder gegen die Schiedsrichter wenden. Und wenn sich sonst niemand findet, können auch Sicherheitskräfte die Rolle der Hassobjekte leicht füllen. Ekel ist ein Gefühl, das eigentlich vor Infektionen schützen soll. Wird dieses auf Menschen übertragen, wird Abscheu zum Ausdruck gebracht. Es gab mal das Ritual, dass die Namen der Spieler vor dem Anpfiff genannt wurden. Bei den Namen der eigenen Mannschaft nannte der Stadionsprecher den Vornamen und die Fans brüllten synchron den Nachnamen. Bei den gegnerischen Spielern wurde jeder Name mit: „Na und“ kommentiert. Später schrien die Heimfans nach jeder Nennung: „Arschloch“, um der Abneigung Ausdruck zu verleihen. Heute werden die einzelnen Namen der Gegner nicht mehr genannt. Sie sind nur noch auf der Anzeigetafel zu lesen.
 

Alles gemeinsam erleben

Es ist nicht weit hergeholt, wenn man die Rituale im Stadion mit einem Gottesdienst vergleicht. Es gibt immer wiederkehrende Rituale. Man kleidet sich auf besondere und unverwechselbare Weise, so wie es früher beim Kirchgang üblich war, die Sonntagshose oder das Sonntagskleid zu tragen. Im Gottesdienst gibt es während der Wandlung Wein, an dem die gläubigen Protestanten nippen dürfen. Da ist der eigene Becher Bier doch besser. Beim Ritus der Begrüßung der Spieler kommt es zu Vorgaben durch den Stadionsprecher und die Antworten durch die Fans. Vor dem Anpfiff singen die heimischen Anhänger die Vereinshymne, während sie ihre Schals hochhalten. Dabei gibt es durchaus prominente Komponisten und Interpreten: Bei Hertha ist es Frank Zander, bei Union Berlin singt Nina Hagen, die Puhdys in Rostock und die Toten Hosen in Düsseldorf. Und dann gibt es noch „You’ll never walk alone“, das Fußballfans weltweit ein Gänsehautgefühl gibt.
 


Fällt ein Tor für die Heimmannschaft, sagt der Sprecher etwa: „Tor für Werder Bremen durch unsere Nummer neun.“ Wieder nennt er nur den Vornamen des Schützen, der durch die Besucher im Chor ergänzt wird. Die Anzahl der eigenen Tore brüllen die Fans gemeinsam und die Anzahl der gegnerischen Tore wird grundsätzlich mit „Null“ ergänzt. Darauf sagt der Sprecher: „Danke“, das mit: „Bitte“ aus dem Stadion beantwortet wird. Die Fangesänge im Stadion erzeugen analog zu den Wechselgesängen in der Kirche Gemeinschaft zwischen Mannschaft, Stadionsprecher und den übrigen Besuchern. Das kollektive Erleben wird als innere Hingabe tief empfunden. Im Stadion ist es keine Schande, Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Selbst gestandene Männer dürfen ungehemmt weinen, wenn die Mannschaft am Ende der Saison absteigt. Aus Einzelnen werden Mitglieder einer Gruppe, die ihre Individualität für die Dauer eines Stadionbesuchs aufgeben.

Was viele anzieht und begeistert, ist die Gemeinschaft mit Gleichgesinnten, das gemeinsame Fiebern für die eigene Mannschaft und die Spannung, da trotz Favoriten ein Spiel auch schnell eine andere Wendung nehmen kann. Sicher ist die Mannschaft vom FC Bayern München so stark, dass sie auch auf gegnerischem Platz häufig gewinnt, aber doch hoffen die Fans, dass es anders kommt. 2002, als die Bayern Weltpokalsieger wurden, verloren sie ein Spiel bei St. Pauli. Seitdem tragen die St. Pauli-Fans mit Stolz ein Shirt mit der Aufschrift „Weltpokalsiegerbesieger“. All das hat mit großen Gefühlen zu tun. Insbesondere das enorme Gemeinschaftsgefühl ist für den Glauben wichtig. Schließlich sagen manche mit zwinkerndem Auge, dass es einen Fußballgott gibt, der letztendlich für Gerechtigkeit sorgt.

Das Stadion ist eine Kathedrale. Selbst die Akustik wird bei modernen Stadien geplant. Der Raum muss gefüllt sein durch Klang. Groß und erhaben sollen sich die Heimmannschaft und deren Fans fühlen; und dafür sorgen sie selbst durch ihre synchronen Bewegungen und Gesänge. Die Gäste sollen sich klein und schwach fühlen, verunsichert werden und Fehler begehen. Insofern sind die Zuschauer nicht nur neutrale Beobachter. Sie sind Teil des Ereignisses und sie haben einen nachweislichen Einfluss auf das Geschehen und selbst auf den Ausgang des Spiels. Im heimischen Stadion werden signifikant mehr Spiele gewonnen als auswärts.
 

Aus, aus, das Spiel ist aus

Wie lange dauert ein Fußballspiel? „90 Minuten“, sagen die, die es nicht besser wissen. „Bis der Schiedsrichter abpfeift“, sagen Fußballverständige. Doch für die Fans geht es weiter. Die Mannschaft kommt in die Kurve, um sich feiern zu lassen und gemeinsam das Erlebte zu zelebrieren. Die Spieler wissen, wem sie zu danken haben für eine Unterstützung in guten wie in schlechten Zeiten: den Fans, die sie ohne Unterlass anfeuern und emotional unterstützen. Das geht nicht aus dem Wohnzimmer.