Die, die töten
„Lost – Schatten der Vergangenheit“ (Staffel 3)
Die Profilerin und Serienmordexpertin Louise lehnt es ab, sich wegen ihrer posttraumatischen Belastungsstörung behandeln zu lassen, die sie aus ihrem letzten Fall mitgebracht hat. Sie weiß, dass die Dunkelheit nach ihr greifen wird. Dass die Schatten sich zu Tätern manifestieren und sie zu packen und an ihr zu zerren drohen. Dunkelheit in all ihren Abstufungen gibt es in Dänemark allezeit frisch – vor allem in den Monaten mit „r“, wenn der Regen von den kahlen Bäumen tropft, der Sturm um die Häuser tost, die Schatten immer länger reichen. Dann fressen sich die langen Nächte in jeden Winkel, der nicht von künstlichem Licht ausgelotet wird.
Trailer Lost – Schatten der Vergangenheit, Staffel 3 (MagentaTV, 01.08.2023)
Den som dræber – Fanget af mørket heißt die Serie im dänischen Original, „Die, die töten – Gefangen in der Dunkelheit“. Und in der Dunkelheit können sie sich ungehindert fortbewegen, das weiß Louise. Sie hastet vom Auto zur Tür ihres modernen Wohnblocks. Sie läuft an den strammstehenden Neonröhren des Flurs vorbei zur rettenden Wohnungstür. Jedes Zimmer wird nach ungebetenen Gästen durchsucht. Eine Wohnung hoch über der Straße, in der immer die Lichter brennen, wenn sie nicht zu Hause ist. Wenn sie weiß, dass sie wirklich allein und die Tür mit der Kette gesichert ist, löscht sie das Licht und sieht von ihrem gläsernen Hochsitz aus auf die verregnete Welt. Ob sich jemand Gefährliches nähert, sich aus dem nassen Straßenbegleitgrün schält. Ihr fahles Antlitz wirkt wie ein verschwommener Mond irgendwo, umgeben von nichts als Nacht. Höchstens mal ein Regal mit scharfen Messern am gegenüberliegenden Bildrand.
In ihren Träumen hat sie keine Kontrolle mehr über das elektrische Licht und schon gar nicht über „die, die töten“. Sie ergreifen sie vom Rücksitz des Autos aus, stürzen sich von hinten auf sie, um sie zu ertränken oder überwältigen sie sogar im Verhörraum.
Die, die töten könnten wir alle sein
In einer Welt, in der jeder der festen Überzeugung ist, etwas ganz Besonderes zu sein, sind Enttäuschungen vorprogrammiert. Menschliche Beziehungen sind instabil oder sogar missbräuchlich, geprägt von Wortlosigkeit und Schüchternheit. Missverständnisse werden nie geklärt, Verletzungen über den Tod hinaus zelebriert. Als Erinnerung an ihren Vater bleibt Louise nur eine von ihr selbst getöpferte Tasse, auf die sie als Kind das Wort „Vater“ malte. Er hat sie sein Leben lang benutzt.
Innerhalb eines drei Jahre umfassenden Zeitsprunges ist Louise nach Jütland umgezogen. Dort gibt es auch Mörder. Der inzwischen geschiedene Polizist Frederik bittet sie erneut um ein Profiling. Wie im ersten Teil der Staffel führt die Spur zum Hofkollektiv Breidablik. Die dort sozialisierte Pflegerin Alberte entwickelt aus den verschütteten Wünschen ihrer Schutzbefohlenen Exit-Strategien. Sie pflanzt und nährt Glücksversprechen, die sich doch nur als Teil ihrer eigenen Strategie erweisen, ihre Schützlinge nicht unter südliche Sonne, sondern in den freundlich begleiteten Exitus zu führen. Fast tonlos und mit Mikromimik wird gestorben, als hätte man einen Fisch aus dem Aquarium genommen und ihn auf den Wohnzimmertisch gelegt.
In Breidablik ist nichts so hyggelig, wie es scheint. Am Bildrand glitzern Flugscharen wie frisch geschärfte Schwerter. Sogar die dreckigen Kartoffeln wirken irgendwie verdächtig. Die hölzernen Möbel, die Gesänge, die weiß gekalkten Herrenhäuser, die fröhlich spielenden Kinder.
„Niemand will wirklich zu uns. Alle wollen nur von etwas weg“, verrät Jon, der Gründer und Besitzer des Kollektivs, als Louise sich undercover als Stadtflüchtig einzuschleichen versucht. Sie ist bereit, ein jahrzehntelanges Gefüge aus Abhängigkeit, Missbrauch und Mord zu sprengen. Dabei jagt Louise keine kaltblütigen Mörder. Schließlich handelt es sich bei der Nordic-Noir-Serie um ein Whydunnit und nicht um ein Whodunnit. Mörder sind Menschen mit Gefühlen. Menschen, die jederzeit auch hilfsbereit sein können, wenn andere in Not sind. Von Emotionen getrieben und dem Wunsch, alles richtig zu machen. Die noch nicht einmal sich selbst eine Kugel in den Kopf schießen können und umherwandeln müssen, bis ihnen endlich jemand diese Aufgabe abnimmt und sie ins ewige Dunkel fliehen – oder wahlweise liebevoll in den Arm genommen werden –, bevor sie in Gewahrsam kommen.
Freigegeben ab …
Der FSF lagen alle acht Episoden der dritten Staffel zur Prüfung vor. Sie wurden für das Hauptabendprogramm (Ausstrahlung ab 20:00 Uhr), verbunden mit einer Altersfreigabe ab 12 Jahren, freigegeben und vor allem mit Blick auf eine mögliche nachhaltige Ängstigung diskutiert. Einige kurze Gewaltspitzen ragen aus der ruhigen Inszenierung heraus, deren Szenenbild jedoch Alltagsorte suggestiv bedrohlich auflädt. Der ohne Bilder thematisierte sexuelle Missbrauch Minderjähriger kann für unter 12-jährige Kinder anschlussfähig und somit bedrohlich und sozialethisch desorientierend wirken. Eine starke weibliche Heldin, die Verortung des Geschehens in der Vergangenheit, die Verlässlichkeit des Teams sowie die genregerechte Inszenierung bieten hinreichende Distanzierungsmöglichkeiten für ab 12-Jährige im Hauptabendprogramm.
Bitte beachten Sie:
Bei den Altersfreigaben handelt es sich nicht um pädagogische Empfehlungen, sondern um die Angabe der Altersstufe, für die ein Programm nach Einschätzung der Prüferinnen und Prüfer keine entwicklungsbeeinträchtigenden Wirkungsrisiken mehr bedeutet.
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> Sendezeiten und Altersfreigaben
Hinweis:
Pay-TV-Anbieter oder Streamingdienste können eine Jugendschutzsperre aktivieren, die von den Zuschauer:innen mit der Eingabe einer Jugendschutz-PIN freigeschaltet werden muss. In dem Fall gelten nicht die üblichen Sendezeitbeschränkungen und Schnittauflagen. Weitere Informationen zu Vorschriften und Anforderungen an digitale Vorsperren als Alternative zur Vergabe von Sendezeitbeschränkungen sind im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (§ 5 Abs. 3 Nr. 1; § 9 Abs. 2 JMStV) sowie in der Jugendschutzsatzung der Landesmedienanstalten (§ 2 bis § 5 JSS) zu finden.
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> Jugendschutz bei Streamingdiensten