Die Geschichte der Heirats- und Kontaktanzeigen

Von „Spätere Heirat nicht ausgeschlossen“ bis zum One-Night-Stand

Joachim von Gottberg

Prof. Joachim von Gottberg ist Chefredakteur der Fachzeitschrift MEDIENDISKURS.

Friedrich Wilhelm I., König von Preußen, führte 1727 die sogenannten Intelligenzblätter ein, die weniger nach den geistigen Kapazitäten ihrer Autor*innen oder Rezipient*innen benannt waren. Vielmehr war die Bezeichnung angelehnt an die wörtliche Übersetzung des lateinischen Verbs „interlegere“, was so viel bedeutet wie „Einsicht nehmen“. Alle möglichen praktischen Nachrichten des Alltags wurden angezeigt: berufliche und private Angelegenheiten, Geburten, Firmengründungen, Konfirmationen, Taufen oder Todesfälle – und Heiratsgesuche. Von diesen ersten Kontaktanzeigen bis zu den heutigen Dating-Apps reicht der Einsatz von Medien bei der Suche nach der oder dem „Richtigen“ für traute Zweisamkeit.

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Die ersten Heiratsanzeigen

Am 9. Juli 1732 gab es die erste Heiratsanzeige, also eine Nachricht über die vollzogene Trauung, in einer deutschen Zeitung, dem Intelligenzblatt „Frankfurter Wöchentliche Frag- und Anzeigungsnachrichten“:

Wir haben geheiratet. W. Schlüter, Fabrikant zu Schaumburg, Charlotte Schlüter, geborene Fachmann.“ (Meyer 2022)

Bereits am 19. Juli 1695 erschien in der englischen Wochenzeitschrift „Sammlung für den Fortschritt in Handel, Haus- und Landwirtschaft“ die erste Anzeige, in der eine Ehefrau gesucht wurde:

Ein Herr um die 30 Jahre alt, von sehr gutem Stand, würde sich gern mit einer Dame verbinden, die ein Vermögen von ungefähr 3.000 Pfund besitzt.“ (Meyer 2022)

Es ist nicht bekannt, was der Inserent für die Anzeige bezahlt hat oder ob sie erfolgreich war. Aber es gab Leserbriefe, die gegen eine solche Anzeige protestierten, weil sie die Annonce für unseriös hielten. Der Herausgeber der Zeitung gab sich in der nachfolgenden Ausgabe alle Mühe, die ernsthaften Absichten des Inserenten zu beschwören.

Helen Morison suchte als erste Frau 1727 im „Manchester Weekly Journal“ per Annonce den Mann für den Bund des Lebens. Das ziemte sich nicht – die Inserentin landete nach Protesten aufgebrachter Bürger*innen für vier Wochen in einer Anstalt: Eine Frau, die in einer Zeitung offen nach einem Ehemann suchte, entsprach nicht den strengen ethischen Vorstellungen über die Grenzen weiblicher Eigenständigkeit – sie musste verrückt sein (vgl. ebd.).

Nach der damaligen Vorstellung war die Frau von sich aus sexuell neutral, sie reagierte lediglich auf die Werbung des Mannes. Das war auch der Grund, warum gleichgeschlechtliche Beziehungen bei Männern bis zur Reform des Sexualstrafrechts 1971 bestraft wurden, jedoch „jene zwischen Frauen nicht. Das lag daran, dass weibliche Sexualität gar nicht als eigenständige Form gedacht wurde. Die Sexualität der Frau sollte, so die Vorstellung, erst durch den Mann geweckt werden.“ (Herrn in Becker/Thöne 2022)
 

Heiratsinteresse schlägt moralische Kritik

Aller Anfang ist schwer. In den ersten Heiratsanzeigen werden die Ansprüche an die gesuchten Partner*innen formuliert, auch der erwartete wirtschaftliche Stand bleibt selten unerwähnt, über die Inserent*innen selbst erfährt man allerdings wenig: „Gesucht wird eine hochgewachsene und reizvolle Person, mehr eine der eleganten Art als eine der schönen. Mit guten Zähnen, weichen Lippen, reinem Atem. Mit Augen, deren Farbe keine Rolle spielt, wenn sie nur ausdrucksvoll sind. Und einem vollen Busen, prall, fest und weiß.“ (Meyer 2022), so eine Annonce im „Daily Advertiser“ von 1750.

Lange Zeit stießen solche Anzeigen auf Proteste. In der „Berlinischen Zeitung“ veröffentlichen 1793 vier Damen folgenden Protestbrief: „Nicht ohne im Namen der Menschheit zu erröten, sind wir empört, dass der süßeste heiligste aller Verträge, die Ehe, bis zum spekulativen Handlungszweig herabgesunken ist.“ (ebd.) Auch August Bebel, Gründer der Sozialdemokratie, findet noch Mitte des 19. Jahrhunderts Heiratsannoncen unmoralisch: „Man werfe nur einen Blick in die zahlreichen Heiratsanträge der größeren bürgerlichen Zeitungen, und man findet oft Gesuche, die nur einer total verlotterten Gesinnung entsprungen sein können.“ (ebd.)

Doch die Sehnsucht nach dem Liebesglück und die Hoffnung, eine*r unter den zahlreichen Leser*innen könnte diese Wünsche erfüllen, waren stärker als die Kraft der moralischen Verurteilung. Bald nach der ersten Heiratsanzeige gab es die ersten Heiratsgesuche:

Süße, unkomplizierte, hübsche Maus zum Verlieben von großzügigem 38-jährigen Kaufmann gesucht, der seine kostbare Freizeit optimal anlegen möchte. Bitte nur Bildzuschriften. Garantiert zurück.“ (ebd.)

Bald annoncierten auch mehr Frauen:

Kölsches Prachtweib, 43, zurzeit unentdeckt, sucht Helden für Hochzeitstück.“ (ebd.)

Die Veränderung der Sicht auf Heiratsanzeigen steht in Zusammenhang mit dem veränderten Blick auf Sexualität, Partnerschaft und Ehe. Sexuelle Anziehungskraft oder Liebe spielten im 18. Jahrhundert eine untergeordnete Rolle, ausschlaggebend für die Partnerwahl waren ökonomische Faktoren – es ging um das Überleben der Familie. Die Partnerwahl wurde von der Dorfgemeinschaft, allen voran den Eltern, bestimmt.

„In der traditionellen alteuropäischen Ehe haben emotionale Faktoren keine entscheidende Rolle gespielt. Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein sind Ehen weithin auf ökonomischer Grundlage geschlossen worden. Die Partnerwahl war vor allem bestimmt durch Stand, Besitz, Arbeitskraft, Zeugung und Geburt von Erben.“ (Kaiser 1988) Die äußere Erscheinung spielte weniger unter dem Aspekt der sexuellen Attraktivität eine Rolle, sondern war eher ein Indiz für Gesundheit bei Männern und von Zeugungsfähigkeit bei Frauen. „So dürfte etwa die körperliche Attraktivität zwischen Partnern seinerzeit keineswegs jene wichtige oder gar partnerwahl-entscheidende Rolle gespielt haben, die wir ihr heute [...] häufig einräumen.“ (Imhof 1984, S. 60)
 

Liebe statt wirtschaftlichem Pragmatismus

Dass Partnerwahl und Ehe auch mit Emotionen in Zusammenhang stehen, setzte sich erst nach der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert allmählich durch. Gefühle und Liebe füreinander wurden zunehmend als Bindeglied zwischen beiden Eheleuten anerkannt, was „die emotionalen und sexuellen Beziehungen zwischen den Ehegatten deutlich aufgewertet“ hat (Kaiser 1988). Erst mit dem Siegeszug des Bürgertums wurde die „Liebe“ zum wesentlichen Heiratsgrund. Dadurch hat sich im Laufe die letzten 300 Jahre der Blick auf die Partnerwahl und die Ehe erheblich verändert (vgl. Riemann 1999).

Das frühe Bürgertum, das sich als Gegenpol zum Adel etabliert hatte, „setzte sich zusammen aus höheren Beamten, Vertretern freier Berufe und wenigen Großkaufleuten und Unternehmern. Gemeinsam war diesen Angehörigen des mittleren Standes die Trennung des Arbeits- vom Wohnbereich. Ihr Einkommen war nicht besonders hoch, aber relativ gesichert; Frauen und Kinder mußten im allgemeinen nicht oder nur wenig zum Lebensunterhalt beitragen.“ (ebd.) Das vom Bürgertum formulierte Familienbild diente im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts als Vorbild für andere Bevölkerungsgruppen: die Beziehung in der Ehe sollte intensiviert und intimisiert werden, die gegenseitige Liebe spielte eine immer größere Rolle, die Kindererziehung bekam zum ersten Mal einen eigenen Wert, die Kindheit wurde zur eigenen Lebensphase, der Ort der Arbeit und der des Wohnens waren voneinander getrennt.

Gleichzeitig entstand durch das immer größer werdende Eisenbahnnetz eine höhere Mobilität, über die Zeitungen war man in der Lage, mit einer größeren Gruppe von Menschen auch außerhalb der Dorfgemeinschaft oder des Bekanntenkreises in Kontakt zu treten. In diesem Zusammenhang ist auch die Entwicklung der Heiratsannoncen zu sehen: Sie erweiterte den Horizont der potenziellen Partner*innen über das heimische Dorf hinaus.
 

Bedeutender Geschäftszweig trotz moralischer Entrüstung

Trotz moralischer Kritik entwickelte sich die Heiratssuche per Annonce immer mehr zu einem erfolgreichen Geschäft. „Die Epoche des Kaiserreichs kann als ‚Take-off‘ Phase dieser Art der Eheanbahnung gesehen werden. Die Zahl der Heiratsinserate stieg über diesen Zeitraum enorm an und für immer mehr Zeitungen wurden sie zu einem integralen Bestandteil der Anzeigenspalten.“ (Frey 2016, S. 6) Langsam veränderte sich auch die gesellschaftliche Haltung dazu. Mataja fragte noch 1920 in seinem Buch: „Sind sie eine billigenswerte, sich in unsere Lebensordnung überhaupt zwanglos einfügende Erscheinung oder bilden sie etwas Regelwidriges, eine Art Seltsamkeit ohne weiteren Belang?“ (Mataja 1920, S. 6) Der Sexualwissenschaftler Iwan Bloch sprach dagegen schon 1912 in seiner „Englischen Sittengeschichte“ über die ersten Heiratsannoncen in England von einer „glücklichen Geburt“ (Bloch 1912).
 

Vom Kennenlernen bis zur Ehe

Intime Beziehungen zwischen Menschen, die auf eine feste Beziehung oder Ehe hinauslaufen, entwickeln sich nach bestimmbaren Mustern, die in der jeweiligen Kultur vorgegeben sind. Erste Treffen sind von Vorsicht bestimmt, vielleicht dem Gefühl, verliebt zu sein. Lange Zeit gab es eine Art Standardgespräch, bei dem beide Seiten bemüht waren, sich über die Absichten des Gegenübers Klarheit zu verschaffen. Bis ins 20. Jahrhundert hinein war es darüber hinaus wichtig, dass die potenziellen Partner*innen der gleichen Religion oder Nationalität angehörten (vgl. Marfurt 1978). Das hat sich allmählich geändert. Die „Mischehe“, also eine Ehe zwischen Menschen mit unterschiedlicher Konfession oder Religion, wird heute kaum noch thematisiert oder als Problem gesehen.

Diese allmählichen sozialen und gesellschaftlichen Veränderungen haben auch die Art und Weise, wie Menschen ihre Partner*innen zu finden versuchten, verändert (vgl. Böhme 1985). Dadurch entstand eine höhere Selbstbestimmung in der Partnerwahl, der Einfluss von Familie und wirtschaftlichen Zwängen, von Konfession oder Beruf als Kriterium für die Partnerwahl hat sich durch die Industrialisierung abgeschwächt, es gab nun auch in den Städten Berufsmöglichkeiten, allerdings wurden das Leben isolierter und anonymer.
 

Die Suche nach dem persönlichen Glück

„Das Bedürfnis nach Solidarität, nach persönlichem Glück, nach einer Sinngebung des Lebens bilden die Gegenkräfte zur entfremdeten Arbeitssituation in der industrialisierten Gesellschaft. Die allgemeine Anonymität der Großstadtsituation verstärkt das Bedürfnis nach Vertrautheit und Intimität in der Kleinfamilie. Eigenbestimmung und Persönlichkeitsentfaltung werden in der Regel eher in der Familie als im Beruf gesucht.“ (Böhme 1985)

Liebe und das persönliche Glück sowie emotionale Motive ersetzten zunehmend die rein praktischen Motive einer Eheschließung. Mit dem abnehmenden Einfluss kirchlicher restriktiver Normen und der Zunahme der emanzipatorischen Bestrebungen der Frau, auch in sexueller Hinsicht, wurde die gelingende Sexualität zu einem entscheidenden Faktor bei der Partnerwahl (vgl. ebd.).

Die Antibabypille ermöglichte auf sehr einfache und sichere Art Sexualität ohne das Risiko der ungewollten Schwangerschaft: „Ab 1961 dürfen westdeutsche Apotheken die ‚Antibabypille‘ verkaufen. Aber nicht an alle Frauen. Die Bundesregierung legt fest, dass sie lediglich für verheiratete Mütter auf Rezept zu haben ist. Überhaupt wird das neue Verhütungsmittel von den Frauen in der Bundesrepublik mit Zurückhaltung betrachtet. Hintergrund ist die Skepsis der moralisch konservativ eingestellten Politik und Kirche gegenüber dem kleinen Dragee. […] Am 25. Juli 1968 veröffentlichte Papst Paul VI. ein Rundschreiben. ‚Humanae Vitae‘ nannte er es. Darin wies er ausdrücklich auf die Eigenverantwortung von Mann und Frau bezüglich der Verhütung hin. Er lehnte rigoros alle Methoden der künstlichen Verhütung ab.“ (MDR 2021)
 

Partnersuche im Netz: die Erweiterung des Angebots

Die öffentliche Kritik hielt die Menschen nie davon ab, Heiratsanzeigen aufzugeben – aber es wurde lange Zeit kaum offen darüber gesprochen. Viele Frauen wie Männer wollten ihre Suche nach Partner*innen per Annonce geheim halten. Der Bekanntenkreis könnte darin den „letzten Versuch“ wittern, mit der Anzeige endlich das zu erreichen, was im Leben bisher nicht gelungen ist. Verbunden damit waren oft Minderwertigkeitsgefühle und gefühlte übermäßige Schüchternheit, es gab Zweifel, ob man über die gewünschten äußeren Qualitäten für attraktive Partner*innen verfügte, ob man vielleicht zu langweilig war oder einfach zu lange gewartet hatte.

Heiratsanzeigen – heute würde man sie neutraler Kontaktanzeigen nennen – haben sich inzwischen zu einem enormen Markt entwickelt. Es gibt viele Menschen, die sich nach der einen Beziehung, der großen Liebe oder einfach nach sexuellen Kontakten sehnen. So wurde von einigen Zeitungen schon in den 1940er-Jahren für Heiratsanzeigen geworben:
 

 

Diverse Angebote für diverse Nutzer*innen

Dabei spielte die Wahl der Zeitung für Inserent*innen wie Leser*innen eine wichtige Rolle: wer sich intellektuell als hochstehend einschätzte, gab seine Anzeige in der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ auf und versuchte, witzig und gebildet zu klingen. Seit 1972 erscheint die Zeitschrift „Happy Weekend“, eine Art Sexmagazin, in dem sich Paare oder Gruppen zum Sex verabreden und im Heft darüber berichten – inklusive entsprechender Fotos.

Viele Faktoren haben dazu geführt, dass die Kontaktsuche inzwischen vor allem im Internet boomt. Bei Jugendlichen spielen die klassischen Heiratsanzeigen in Zeitungen kaum noch eine Rolle, sie werden vor allem von Älteren genutzt. Für die Jüngeren gehört die Kontaktsuche im Netz dagegen bereits zur Normalität. Das Angebot ist sehr breit gefächert und reicht von der klassischen Partnersuche bis hin zu diskreten Sexpartner*innen parallel zu einer festen Beziehung (z. B. Seitensprung.de). Alle möchten über das Internet ihr Spektrum potenzieller späterer Ehe- oder Sexualpartner*innen vergrößern.

Durch die Wahl des jeweiligen Portals und den Anzeigentext glaubt man beim ersten Treffen zu wissen, was man selbst und was das Gegenüber erwartet. So erspart man sich die Standardgespräche, in denen man herausfinden muss, wie weit die eigenen Interessen und Erwartungen mit denen des*der anderen korrespondieren: Man weiß, was erwartet wird und gewünscht ist, man kennt die sexuellen Vorlieben, wenn diese relevant sind und zum Beispiel von dem abweichen, was man selbst als „normal“ versteht. Anzeigen ohne Bild haben kaum Aussicht auf Erfolg. Das vorsichtige Herantasten an die Frage, ob der*die andere vielleicht schon in festen Händen ist, wird erheblich verkürzt – vorausgesetzt, die Angaben stimmen:
 

Infografik: Jeder Dritte lügt in seinem Datingprofil | Statista

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Bei der Dating-App Tinder bestimmt die Richtung, mit der man zum nächsten „Angebot“ swipt, das Interesse an einem Kontakt: rechts ja, links eher nein. Aber nur, wenn das Gegenüber das eigene Bild ebenfalls nach rechts wischt, hat man ein Match und kann Kontakt mit der Person aufnehmen. Das Spektrum der Interessen ist heute allerdings auch bei Tinder sehr unterschiedlich: Manche suchen nach One-Night-Stands oder längeren, rein sexuellen Beziehungen, andere bevorzugen feste Partnerschaften und schließen One-Night-Stands kategorisch aus.
 

Onlinedating: fast normal

12,7 % der Menschen zwischen 50 und 59 Jahren sind in Deutschland nicht verheiratet, 33,4 % dieser Altersgruppe haben schon einmal ein Onlinedating-Portal genutzt, 38 % können sich vorstellen, erneut zu heiraten. 25 % der Frauen ab 50 könnten sich vorstellen, für neue Partner*innen in eine andere Stadt zu ziehen. Laut einer von Statista veröffentlichten Prognose wird der Markt für Onlinedating in Deutschland im Jahr 2024 auf 96,7 Mio. Euro geschätzt, im ersten Quartal 2022 sind weltweit 10,7 Mio. Abonnent*innen bei Tinder aktiv, alle Partnerbörsen zusammen haben weltweit 278,9 Mio. Kund*innen (vgl. Nier 2017). Auch die klassischen Zeitungen wie „Die Zeit“ oder die „Süddeutsche Zeitung“ bieten Onlineportale für Kontaktsuchende an. Man weiß natürlich nicht, ob immer ein ernsthaftes Interesse dahintersteckt oder ob einige einfach schauen wollen, was theoretisch möglich wäre, ohne es tatsächlich umsetzen zu wollen. Alles ist unverbindlich, man will einfach mal probieren, wie man bei potenziellen Partner*innen ankommt, manche sprechen davon, ihren „Marktwert“ testen zu wollen. Die „spätere Heirat“ ist längst nicht mehr das alleinige Thema, es geht oft um ein kurzfristiges Vergnügen, um One-Night-Stands, um Abwechslung – oder einfach ums Ausprobieren. Auf jeden Fall ist Onlinedating in der Gesellschaft angekommen:
 

Infografik: Jeder Zweite sucht online nach ernsthafter Beziehung | Statista

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Ehen relativ stabil

Das Heiratsverhalten hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert: „Anfang der 1960er Jahre handelte es sich bei fast 84 % aller Eheschließungen (im früheren Bundesgebiet) um Erstehen. Kurz nach der Jahrtausendwende – im Jahr 2001 – haben nur noch bei 61 % aller Ehe­schließungen beide Partner zum ersten Mal geheiratet. Entsprechend war in diesem Jahr bei 39 % aller Eheschließungen mindestens ein Partner beteiligt, der vorher schon mindestens einmal verheiratet war. Mittlerweile ist dieser Anteil wieder zurückgegangen (2018: 31 %).“ (Statistisches Bundesamt o. J.) Seit Oktober 2017 hat sich das Spektrum der Ehe erheblich erweitert: „Bis Ende 2018 haben insgesamt 32 904 gleichgeschlechtliche Paare geheiratet, davon wurden 16 766 Ehen zwischen Männern und 16 138 zwischen Frauen geschlossen. Darunter waren insgesamt 21 477 Umwandlungen von Lebenspartnerschaften.“ (ebd.)

Bei den Scheidungen zeigt sich, dass die Ehen stabiler sind als viele denken: „Im Jahr 2019 wurden insgesamt 149 010 Ehen geschieden. Die durchschnittliche Ehedauer bis zur Scheidung betrug 14,8 Jahre. Das sind etwa drei Jahre und 4 Monate mehr als noch 1990. Über die Zeit gesehen nahm die Scheidungsneigung in Deutschland zunächst zu und erreichte 2004 ihren Höchststand […] Allerdings sinkt diese sogenannte zusammengefasste Scheidungsziffer seit 2005 tendenziell. Im Jahr 2019 betrug sie 320 Scheidungen von 1 000 Ehen. Die oft bemühte Aussage, dass ‚jede zweite Ehe in Deutschland geschieden wird‘, ist ein Mythos.“ (ebd.)
 

Vergnügen mit Suchtpotenzial

Im Großen und Ganzen erleichtern Onlinedating-Portale die Suche nach einem geeigneten Gegenüber. Da man zunächst anonym ist, braucht sich niemand wegen seiner eigenen Angaben zu schämen, man kann ehrlich sein, wenn man will. Natürlich kommt es vor, dass Angaben gefälscht sind, dass also beispielsweise Absichten vorgetäuscht werden, die gar nicht bestehen, oder dass angebliche Singles tatsächlich in einer festen Beziehung leben. Das ist im realen Leben allerdings auch nicht anders.

Beim Onlinedating wird allgemein eine gewisse Suchtgefahr für möglich gehalten: Während man bei realen Begegnungen einen Menschen vor sich hat und ihn in seiner Gesamtpersönlichkeit wahrnimmt, ist beim Onlinedating alles unverbindlicher. Man kann sich einfach dem*der Nächsten zuwenden, wenn eine Anzeige nicht hundertprozentig überzeugt oder wenn die Angesprochenen nicht reagieren. Bekommt man viele positive Resonanzen, so erzeugt das beim Inserierenden Glücksgefühle, bekommt man weniger Resonanzen, kann das aber auch zu Selbstzweifeln bis hin zu Depressionen führen. Aber auch das ist im realen Leben nicht unbedingt anders. Bisher gibt es zu den Risiken noch wenige gesicherte Daten (vgl. Rößner 2020).
 

Literatur:

Becker, T./Thöne, E.: Medizinhistoriker über LGBTQI-Debatten. Warum steigt die Zahl junger Transpersonen, Herr Herrn?. In: Spiegel online, 08.07.2022. Abrufbar unter: www.spiegel.de

Bloch, I. (als E. Dühren): Englische Sittengeschichte. (früher: Das Geschlechtsleben in England). Berlin 1912

Böhme, R.: Kontakt gesucht. Untersuchungen zur Sprache der Alltags-Pornographie. Göttingen 1985

Frey, T.: „Strengste Verschwiegenheit auf Manneswort“ – Eine Analyse von Heiratsannoncen im Kaiserreich. Dissertation. Georg-August-Universität Göttingen 2016. Abrufbar unter: http://dx.doi.org/10.53846/goediss-6595

Imhof, A. E.: Die verlorenen Welten. Alltagsbewältigung durch unsere Vorfahren – und weshalb wir uns heute so schwer damit tun … München 1984

Kaiser, M.: Die Grundlagen der Eheschließung im Wandel der Zeiten. In: W. Beinert (Hrsg.): Braucht Liebe (noch) die Ehe?. Regensburg 1988, S. 41 – 65

Marfurt, B.: Textsorten und Interaktionsmuster. In: Wirkendes Wort 1978, 28, S. 19 – 36

Mataja, V.: Heiratsvermittlung und Heiratsanzeigen. Berlin 1920

MDR: Die Geschichte der Verhütung. In: MDR.DE, 14.10.2021. Abrufbar unter: www.mdr.de

Meine Hochzeit: Partnersuche im Laufe der Jahrzehnte zum Tag der deutschen Sprache. Heiratsanzeigen aus den 40ern bis zu den 2010ern. In: meine-hochzeit.de, 15.09.2021. Abrufbar unter: meine-hochzeit.de

Meyer, W.: 9. Juli 1732 – Erste Heiratsanzeige in einer deutschen Zeitung. Sendung WDR ZeitZeichen. In: wdr.de, 09.07.2022. Abrufbar unter: www1.wdr.de

Nier, H.: Online-Dating. Jeder Zweite sucht online nach ernster Beziehung. In: Statista, 02.01.2017. Abrufbar unter: de.statista.com

Riemann, V.: Kontaktanzeigenim Wandel der Zeit – eine Inhaltsanalyse. Opladen/Wiesbaden 1999

Rößner, S.: Swipe, Match, Love: Kann Online Dating süchtig machen?. In: webcare.plus, 03.09.2020. Abrufbar unter: webcare.plus

Statistisches Bundesamt: Bevölkerung – Ehen im Wandel. In: Statistisches Bundesamt,ohne Jahr. Abrufbar unter: www.destatis.de