„Die mediale Erzählung hinkt progressiven Entwicklungen hinterher.“

Christina Heinen im Gespräch mit Christine Linke

Femizide füllen ganze Sendereihen, und die schöne, auch im Tod noch sexuell attraktive Frauenleiche ist ein ebenso klassischer wie perverser Topos. Obwohl Gewalt gegen Frauen auch im deutschen Fernsehen allgegenwärtig ist, wurde sie bis vor Kurzem noch nie quantifiziert. mediendiskurs sprach mit Dr. Christine Linke, Professorin für Kommunikationswissenschaft am Studiengang Kommunikationsdesign und Medien an der Hochschule Wismar, über die Ergebnisse der Studie Geschlechtsspezifische Gewalt im Deutschen Fernsehen.

Printausgabe mediendiskurs: 26. Jg., 2/2022 (Ausgabe 100), S. 73-75

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Gewalt gegen Frauen ist ein stark marginalisiertes Thema. Wie kam es dazu, dass Sie die Studie durchführen konnten?

Die MaLisa Stiftung, insbesondere Karin Heisecke, die sich seit Jahren gegen Gewalt gegen Frauen und Mädchen engagiert, hat das Thema angeregt. Im Vorfeld habe ich schon zusammen mit Elizabeth Prommer vom Institut für Medienforschung an der Universität Rostock Studien zur audiovisuellen Diversität, zur Sichtbarkeit der Geschlechter und zur Alterssichtbarkeit durchgeführt. Aus der Diversitätsstudie gab es ein repräsentatives Sample, welches wir nutzen konnten und von dem ausgehend wir Sendungen aus der Pre-Primetime und der Primetime aus dem Jahr 2020 im Hinblick auf die Frage der Darstellung geschlechtsspezifischer Gewalt untersucht haben. Im Unterschied zu den gut quantifizierbaren Fragen der Diversität, der Ethnizität und der Sichtbarkeit der Geschlechter ist Gewalt gegen Frauen jedoch komplizierter, man braucht einen stärker qualitativ ausgerichteten Ansatz, muss sich die inhaltliche Ebene der Erzählweise und der Handlung genauer anschauen.

Zunächst einmal muss man definieren, was geschlechtsspezifische Gewalt ist.

Für die Definition haben wir uns sehr stark an der Istanbul-Konvention orientiert, dem Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Die Konvention ist der Dreh- und Angelpunkt für die gesellschaftliche Debatte um Gewalt gegen Frauen. Wir haben uns in Anlehnung daran darauf verständigt, unter geschlechtsspezifischer Gewalt psychische, physische und sexuelle Gewalt zu fassen, welche gegen jemanden gerichtet wird aufgrund des Geschlechts. Dabei bildet Gewalt gegen Frauen und Kinder den Schwerpunkt, aber auch Darstellungen von Gewalt gegen Trans-Menschen und gegen Männer kamen im Sample vor.

In der Istanbul-Konvention wurde erstmals anerkannt, dass Gewalt gegen Frauen als geschlechtsspezifische Gewalt strukturellen Charakter hat und dass Gewalt gegen Frauen einer der entscheidenden sozialen Mechanismen ist, durch den Frauen in eine untergeordnete Position gegenüber Männern gezwungen werden. Das scheint mir der wichtigste Punkt zu sein: Gewalt gegen Frauen wirkt sich auf alle Frauen und auf alle Menschen aus, die aufgrund ihrer Identität oder sexuellen Orientierung davon betroffen sind – nicht nur auf die, die unmittelbar physisch oder psychisch Opfer sind.

Es geht um einen strukturellen Mechanismus, der unterdrückt, marginalisiert, diskriminiert und gewaltvolle Muster fortschreibt. Wenn es Medien gelingt, diese strukturelle Dimension sichtbar zu machen, Gewalt gegen Frauen eben nicht als Einzelfall erscheinen zu lassen, dann können sie einen wichtigen Beitrag zur Überwindung leisten. Leider geschieht das nur sehr selten, da gibt es noch viel Raum für einen besseren Umgang mit der Thematik.

Es geht Ihnen also nicht darum, dass weniger Gewalt gegen Frauen im Fernsehen gezeigt werden sollte, sondern darum, dass die Art der Darstellung sich verändern sollte?

Genau. Dass Gewalt pauschal aus dem Fernsehen verbannt werden soll, halte ich für eine realitätsfremde Forderung. Eine lineare Wirkung – weniger Gewalt im Fernsehen führt zu weniger Gewalt in der Realität – gibt es nicht. Gewalt, Unterdrückung, Machtverhältnisse sind leider Bestandteile von Gesellschaft, und um diese zu beseitigen, muss es darüber Debatten geben, die sich auch in den Medien wiederfinden. Entscheidend ist, wie Gewalt im Fernsehen erzählt wird. Als Wissenschaftler*innen ist es sowieso nicht unser Ansatz, zu sagen: „Die Medien müssen …“ Aber natürlich wollen wir – ausgehend von unserer Analyse – Probleme aufzeigen.

Sie haben im Vorfeld der Studie viele Gespräche geführt mit Menschen, die in der Anti-Gewalt-Arbeit tätig sind, in Frauenhäusern z. B., oder auch mit Journalist*innen, die sich kritisch mit dem Thema auseinandergesetzt haben. Was sagen diese Expert*innen zu der Frage, wie Gewalt gegen Frauen angemessener dargestellt werden könnte?

Vorabhinweise, sogenannte Triggerwarnungen, werden von Expert*innen – im Unterschied zu vielen Medienschaffenden – als sehr sinnvoll und als große Hilfe für Betroffene gesehen, damit diese frei entscheiden können, mit was sie sich beschäftigen – oder eben nicht. Kritisch gesehen wurde auch, wie bestimmte stereotype Handlungsstränge und Erzählweisen dazu beitragen, die strukturelle Dimension geschlechtsspezifischer Gewalt systematisch auszublenden und die Gewalt damit gleichzeitig zu individualisieren und zu normalisieren. Wünschenswert wäre, dass neben der in der Regel sehr weitgehend ausgeblendeten Perspektive der Betroffenen auch Lösungsansätze, Hilfsangebote und Möglichkeiten der Prävention geschlechtsspezifischer Gewalt aufgezeigt werden – das war in den von uns untersuchten Sendungen leider fast gar nicht der Fall, auch nicht bei Informationssendungen.

In welchen Formaten wird Gewalt gegen Frauen am häufigsten gezeigt?

In der Fiktion, vor allem im Krimi. Von den Sendungen, in denen mindestens eine Gewalttat gegen Frauen vorkommt, waren 26 % Krimis. An zweiter Stelle stehen Spielfilme aus der typischen Primetime-Unterhaltung, Agenten- oder Actionfilme. Insgesamt betrachtet haben wir in ca. einem Drittel der untersuchten Sendungen Darstellungen oder Thematisierungen von geschlechtsspezifischer Gewalt gefunden, natürlich auch in Nachrichten und Informationsformaten.
 


Wofür – in dramaturgischer Hinsicht – dient die Erzählung geschlechtsspezifischer Gewalt?



Wie wird geschlechtsspezifische Gewalt dargestellt?

Die Perspektive der Betroffenen wird leider nur sehr selten sichtbar. Darstellungen geschlechtsspezifischer Gewalt werden im Krimi nicht nur auf der Ebene des zu lösenden Falles gezeigt, sondern häufig benutzt, um z. B. die Ermittlerin zu charakterisieren, als gebrochen oder als besonders tough, weil sie von der Gewalt gegen sie scheinbar unbeeindruckt einfach weitermacht. Diese Frage ist uns wichtig: Wofür – in dramaturgischer Hinsicht – dient die Erzählung geschlechtsspezifischer Gewalt? Ist man sich der Verantwortung für ein gesellschaftlich sehr wichtiges Thema bewusst und geht es entsprechend sensibel und differenziert an – oder benutzt man Darstellungen von Gewalt gegen Frauen einfach nur, um den Thrill zu steigern? Wir möchten die Branche dafür sensibilisieren, welche einfachen Möglichkeiten es gibt, geschlechtsspezifische Gewalt angemessener darzustellen. Die Zusammenarbeit der Polizei mit Frauenhäusern wird im Krimi fast nie gezeigt. Die mediale Erzählung hinkt progressiven Entwicklungen in der Gesellschaft deutlich hinterher. Es wird meistens offenbar zu wenig recherchiert, sich zu stark auf eingeschliffene Erzählmuster verlassen.

Wie oft kommt in den Programmen die Perspektive der Betroffenen vor?

Erschreckend selten, nur in 8 % der Fälle, kommen Betroffene selbst zu Wort und wird ihr Erleben für die Zuschauenden nachvollziehbar. In 51 % kommt die Perspektive der Betroffenen nur randständig vor. In 12 % der Fälle kommt geschlechtsspezifische Gewalt vor, wird von den Betroffenen und ihrem Umfeld aber gar nicht als solche identifiziert. Dadurch wird Gewalt gegen Frauen normalisiert, wenn man sie nicht einmal als solche adressiert. Zusammenfassend kann man sagen: In 63 % der Programme wird die Perspektive der Betroffenen nur unzureichend oder gar nicht sichtbar.

Warum wird die strukturelle Dimension von Gewalt gegen Frauen so wenig sichtbar?

Bislang fehlte offenbar in den meisten Produktionen die Sensibilität, diese Ebene überhaupt mitzudenken. Der Blick auf systemische Ursachen jenseits des Einzelfalles kommt selbst in der Mehrzahl der Informationsformate nicht vor. Dabei ist es nicht schwer, diese strukturelle Dimension darzustellen, an journalistische Formate könnte man z. B. eine Statistik anhängen, die deutlich macht, dass das keine Einzelfälle sind. Wir hoffen, dass sich das in Zukunft ändert, auch im Bereich der Fiktion. Dazu müssen etablierte Erzählmuster und Produktionsroutinen durchbrochen werden. Eines der wenigen positiven Beispiele, die wir in unserem Sample gefunden haben, ist Lena Lorenz, eine ZDF-Serie um eine Hebamme. Die Folge Teufelskreis beschäftigt sich mit häuslicher Gewalt – allein, dass dieser Begriff auftaucht, ist schon eine kleine Sensation. Die betroffene Schwangere wird in den Fokus genommen, ihr wird Hilfe angeboten, aber man entscheidet nicht über ihren Kopf hinweg, sondern lässt sie ihren eigenen Weg gehen. Die Beziehungsgeschichte – wie kam es dazu? – wird in den Blick genommen, und es wird eine Perspektive des Umgangs mit häuslicher Gewalt entwickelt. Es wird gezeigt, wie die Betroffene es schafft, aus der Gewaltspirale hinauszukommen. Bei dieser Sendung ist ein guter Umgang mit der Thematik gelungen, weil recherchiert und die Perspektive der Betroffenen in den Mittelpunkt gerückt wurde.

 

Dr. Christine Linke ist Professorin für Kommunikationswissenschaft am Studiengang Kommunikationsdesign und Medien an der Hochschule Wismar.

Christina Heinen ist Hauptamtliche Vorsitzende in den Prüfausschüssen der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).