Geschlechtsspezifische Aspekte bei der Bewertung von True Crime

Christine Linke

Dr. phil. habil. Christine Linke ist Professorin für Kommunikationswissenschaft am Studiengang „Kommunikationsdesign und Medien“ der Fakultät Gestaltung an der Hochschule Wismar. Ihre Schwerpunkte in Lehre und Forschung sind Medienalltag, Digitalisierung und der Wandel sozialer Kommunikation sowie audiovisuelle Medien.

Die Darstellung geschlechtsspezifischer Gewalt in True-Crime-Formaten spiegelt die gesellschaftlichen Verhältnisse. Eine Bewertung solcher Formate unterliegt allerdings verschiedenen Kriterien.

Printausgabe mediendiskurs: 27. Jg., 2/2023 (Ausgabe 104), S. 70-73

Vollständiger Beitrag als:

Geschlechtsspezifische Gewalt bezieht sich auf Gewalt, die aufgrund des Geschlechts einer Person begangen wird.

Diese Art von Gewalt kann sowohl körperlich als auch emotional oder psychologisch sein und in vielen Formen auftreten, einschließlich häuslicher Gewalt, sexualisierter Gewalt, Stalking, sexueller Belästigung und Diskriminierung. Der Begriff wird u. a. in der Istanbul-Konvention zur Definition struktureller Gewalt gegen „Frauen und Mädchen“ genutzt und ist in rechtlichen Diskursen etabliert als „Gewalt, die sich gegen eine Person aufgrund ihres biologischen oder sozialen Geschlechts richtet“ (BMFSFJ 2019). Betroffen sind hauptsächlich Frauen und Mädchen, aber auch Männer und Jungen sowie Menschen, die sich nicht einem binären Geschlecht zuordnen. In vielen Fällen ist geschlechtsspezifische Gewalt Teil einer Kultur von Unterdrückung und Diskriminierung, die das Machtgefälle zwischen den Geschlechtern verstärkt. Geschlechtsspezifische Gewalt ist ein ernstes menschenrechtliches Problem, das Bemühungen zur Bekämpfung und Verhinderung erfordert. Dies beinhaltet die Stärkung gesetzlicher Maßnahmen, die Unterstützung von Überlebenden und die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Auswirkungen und Ursachen von geschlechtsspezifischer Gewalt.
 


Geschlechtsspezifische Gewalt ist ein ernstes menschenrechtliches Problem.


 

Grundsätzlich kann die Darstellung von geschlechtsspezifischer Gewalt in den Medien sowohl positive als auch negative Auswirkungen haben.

Auf der positiven Seite kann die Darstellung von geschlechtsspezifischer Gewalt in den Medien ein Bewusstsein für das Ausmaß und die Auswirkungen dieser Art von Gewalt schaffen. Das kann dazu beitragen, dass Überlebende ihre Geschichten teilen und die öffentliche Debatte anregen und dass Politik und Gesetzgebung handeln, um geschlechtsspezifische Gewalt zu bekämpfen. Die mediale Thematisierung kann zudem über Ursachen und Hilfsangebote aufklären und damit aktiv zur Beendigung geschlechtsspezifischer Gewalt beitragen.

Auf der anderen Seite kann die Darstellung von geschlechtsspezifischer Gewalt auch zu einer Verharmlosung beitragen oder Sensationslust befördern. Wird sexualisierte Gewalt in den Medien nicht als ernstes und verletzendes Verbrechen, sondern als erotisch oder unterhaltend dargestellt, kann dies zu einer Kultur beitragen, die Gewalt gegen Frauen und Mädchen normalisiert und rechtfertigt. An diesem Punkt gilt es, die Kriterien für den Jugendmedienschutz zu aktualisieren und anzupassen.

Die Repräsentation geschlechtsspezifischer Gewalt in True-Crime-Formaten ist im Kontext einer medialen Darstellung von gesellschaftlichen Verhältnissen zu sehen.

Medienproduktion, Medienrezeption und Medienaneignung sind in komplexe Verhandlungen und Prozesse des Sichtbar- und Unsichtbarmachens von sozialen Zusammenhängen eingebunden (Prommer/Linke 2019; Linke/Prommer 2021). Audiovisuelle Medien im Allgemeinen und Genres wie True Crime im Speziellen können strukturelle Ursachen von Gewalt adressieren oder ausblenden und hierbei eine Perspektive auf strukturelle Differenzkategorien wie Geschlecht, Ethnizität, Race, soziale Herkunft, körperliche Beeinträchtigung, sexuelle Orientierung oder Alter sichtbar machen – oder eben nicht (Thiele 2020; Thomas 2020). Die Art und Weise von Gewaltdarstellungen und Erzählweisen in True-Crime-Formaten hat durch deren hohen Realitätsbezug eine besondere Stellung. Der Blick auf die internationale Forschungslandschaft unterstützt die Bedeutung dieses Aspekts und verdeutlicht auch die globale Dimension der Thematik „Gewalt“, die mit Hinblick auf Geschlechterverhältnisse strukturelle Ungleichheitsverhältnisse als Thema der Medienkommunikation adressiert (z. B. Kaya 2019; Nettleton 2011).

Das große Interesse an True-Crime-Formaten zeigt, dass (einige) Menschen sich mit geschlechtsspezifischer Gewalt auseinandersetzen wollen.

Häufig geht es bei den Fällen auch um eine Verhandlung von Geschlechterbeziehungen und von dysfunktionalen bis hin zu schwer gewaltvollen Beziehungsmustern. Um geschlechtsspezifische Gewalt, häusliche Gewalt und Partnerschaftsgewalt tatsächlich besser zu verstehen, ist eine differenzierte Annäherung an Historie und Muster gewaltvoller Interaktionen und Handlungen notwendig, wobei auch Geschlechterrollen und heteronormative Ideen von Männlichkeit und Weiblichkeit hinterfragt werden müssen, die sich häufig in (gewaltvollen) Beziehungsmustern wiederfinden (Degele 2005). Diese Muster werden allerdings zumeist nicht reflektiert, sondern vielmehr bedient, indem die Charaktere als stereotype Figuren charakterisiert und damit auch die geschlechtsspezifische Gewalt in Narrative stereotyper Beziehungsmuster eingeschrieben wird (zu Medien und Stereotypen: Thiele 2015). Eine aktuelle Studie von Linke und Kasdorf (2021; in Vorbereitung) mit repräsentativen Daten für die acht Hauptsender in der Pre-Primetime und Primetime des Jahres 2020 belegt, dass geschlechtsspezifische Gewalthandlungen quer durch alle Genres in einem Drittel aller Sendungen sichtbar werden.
 


Eine differenzierte Annäherung an Historie und Muster gewaltvoller Interaktionen und Handlungen ist notwendig, wobei auch Geschlechterrollen und heteronormative Ideen von Männlichkeit und Weiblichkeit hinterfragt werden müssen.



Die Themen „Beziehungsgewalt“, „Sexualstraftaten“ und „geschlechtsspezifische Gewalt“ stehen häufig im Zentrum von True-Crime-Sendungen und adressieren damit den besonders vulnerablen Nahbeziehungsbereich von Menschen.

Eine der wenigen internationalen Studien, die zu True Crime vorliegen, problematisiert bereits in den späten 1990er-Jahren, wie True Crime Geschlechterstereotype manifestiert (Cavender u. a. 1999). Damit verbunden sind auch Fragen nach der langfristigen Wirkung und Kultivierung: Kann sich etwa, insbesondere bei Mädchen und Frauen, eine Kriminalitätsfurcht erhöhen? Können Verbrechen in Nahbeziehungen normalisiert und Gewaltverbrechen sensationalisiert werden? Inwieweit ist für Zuschauende ein Realitätsbezug gegeben? Eine vergleichsweise neuere Frage lautet: Welche Sichtbarkeit von gesellschaftlichen Kontexten von Gewalterfahrungen oder Bedrohungssituationen schaffen True-Crime-Formate? Hierbei wird der Blick auf die intensive zivilgesellschaftliche und juristische Diskussion um geschlechtsspezifische und sexualisierte Gewalt gerichtet, die ihren Ursprung in ungleichen Geschlechter- und Machtverhältnissen hat (BMFSFJ 2019).

Die Nichtthematisierung von Femiziden sollte unter dem Gesichtspunkt der Gewaltbefürwortung bzw. ‑förderung problematisiert werden.

Ein Programm macht beispielsweise einen brutalen Mord an einer jungen aus Mittelamerika eingewanderten Frau sichtbar, ohne die in den Geschlechter- und Herkunftsverhältnissen verankerten ungleichen Strukturen zu thematisieren. Frauen mit Migrationshintergrund sind statistisch gesehen besonders von Unterdrückung betroffen; und gerade die Kombination von Personenmerkmalen bzw. die sogenannte Intersektion von Strukturvariablen (z. B. wie im Fall „weiblich mit Migrationshintergrund“ und „Person of Color“) ist zu adressieren (Gill 2018). Es handelt sich um einen Femizid mit intersektionaler Dimension. Die Empfehlung wird ausgesprochen, Programme zukünftig nicht nur auf die Einzeltat bezogen zu bewerten, sondern die gesellschaftlichen Strukturen zu benennen, die diese Taten ermöglichen und stützen und wie im Beispielfall dazu führen, dass die Justiz zum Zeitpunkt des Mordes dem Fall nicht systematisch nachgegangen ist. Es muss Mindestanspruch an mediale Repräsentationen von Femiziden sein, diese auch so zu benennen (vgl. auch Meltzer 2021; 2022).

Die Darstellung von Beziehungsgewalt in True-Crime-Sendungen kann ein wichtiger Weg sein, um das Bewusstsein für dieses Thema zu schärfen und die Öffentlichkeit über seine Auswirkungen auf die Opfer zu informieren.

Es ist jedoch wichtig, dass diese Formate sorgfältig konzipiert und präsentiert werden, um nicht dazu beizutragen, dass Gewalt gegen Frauen verherrlicht oder trivialisiert wird. Die vorliegenden Prüfgutachten verdeutlichen vielmehr, dass oft keine differenzierte Perspektive auf Gewaltmuster und die Entstehung von Gewalt in Beziehungen entwickelt wird, vielmehr liegt der Fokus vielfach auf der Gewalthandlung an sich und auf der stereotypen Einordnung der Betroffenen. Indem immer wieder durch Reenactment, Tatortaufnahmen oder Interviews mit Zeug:innen oder Bekannten von Opfern oder Täter:innen der Schrecken der Taten und das Entsetzen im Fokus stehen, erfolgt keine differenzierte Aufarbeitung, sondern letztlich nur eine mediale Verwertung vorhandenen Materials ohne Anspruch auf den eigentlich dokumentarischen und auch journalistischen Grundsatz des Neuigkeitswertes (z. B. La Roche 2006).
 


Medienproduzierende sollten sicherstellen, dass sie nicht zur Verharmlosung, Distanzierung oder Sensationslust beitragen.



Medienproduzierende müssen Verantwortung übernehmen und geschlechtsspezifische Gewalt differenziert darstellen bzw. über diese berichten, um ein klares und präzises Bild der Auswirkungen dieser Art von Gewalt zu vermitteln.

Die Gefahr bei oberflächlicher, stereotyper und einseitiger Darstellung ist, dass sich die strukturellen Ursachen geschlechtsspezifischer Gewalt, die in ungleichen Geschlechterrollen und deren Akzeptanz liegen, fortsetzen. Darüber hinaus sollten Medienproduzierende sicherstellen, dass sie nicht zur Verharmlosung, Distanzierung oder Sensationslust beitragen. Im Gegenteil können gut recherchierte und differenzierte Blickwinkel einnehmende True-Crime-Formate einen Beitrag zur Aufklärung und Destigmatisierung leisten und damit zur Bekämpfung und Verhinderung von geschlechtsspezifischer Gewalt beitragen. Diese Problematik bedarf einer fundierten und strikten Prüfung und Regulierung.

Vorab- und/oder Kontexthinweise können eine Hilfestellung für Menschen darstellen, die sich bewusst für bzw. gegen die Rezeption spezifischer Inhalte entscheiden wollen.

Auch wenn dieses Thema einem Teil der Medienkonsumierenden nicht relevant erscheint oder einige Menschen schlicht keinen Bedarf an Inhaltshinweisen haben, sind diese für andere Menschen mit Traumata (beispielsweise Gewaltvorerfahrungen), mit psychischen Erkrankungen oder mit Epilepsie eine wichtige Option. Beleg dafür sind etwa Onlinedatenbanken, in denen Menschen mit Gewalterfahrungen Inhaltshinweise für Filme oder Serien sammeln mit dem Ziel, andere Betroffene in die Lage zu versetzen, eine bewusste Auswahl für den eigenen Medienkonsum zu treffen (z. B. www. unconsentingmedia.org). Ebenfalls einen Bedarf haben Kinder und Jugendliche und deren Erziehungspersonen, die die Medienrezeption alters- und entwicklungsgerecht differenziert steuern möchten.

Inhalte, vor denen grundsätzlich gewarnt werden kann, sind:

  • Drogen, Alkohol und Sucht
  • Flackernde Lichter und Stroboskopeffekte
  • Suizid und Selbstverletzung
  • Psychische Erkrankungen
  • Sexuelle Handlungen
  • Gewalt
  • Krieg und Terror
     


Literatur:

BMFSFJ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) (Hrsg.): Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Gesetz zu dem Übereinkommen des Europarats vom 11. Mai 2011 (Istanbul-Konvention). Berlin 2019. Abrufbar unter: https://www.bmfsfj.de

Cavender, G./Bond-Maupin, L./Jurik, N. C.: The Construction of Gender in Reality Crime TV. In: Gender & Society, 5/1999/13, S. 643–663. Abrufbar unter: https://doi.org/10.1177/089124399013005005

Degele, N.: Heteronormativität entselbstverständlichen: Zum verunsichernden Potenzial von Queer Studies. In: Freiburger FrauenStudien: Zeitschrift für interdisziplinäre Frauenforschung, 17/2005/11, S. 15–39. Abrufbar unter: https://doi.org/10.25595/ 1717

Gill, A.: Survivor-Centered Research: Towards an Intersectional Gender-Based Violence Movement. In: Journal of Family Violence, 33/2018, S. 559–562. Abrufbar unter: https://doi.org/10.1007/s10896- 018-9993-0

Kaya, Ş.: Gender and violence: Rape as a spectacle on prime-time television. In: Social Science Information, 4/2019/58, S. 681–700. Abrufbar unter: https://doi.org/10.1177%2F0539018419883831

La Roche, W. von: Einführung in den praktischen Journalismus. Mit genauer Beschreibung aller Ausbildungswege. Deutschland, Österreich, Schweiz. Berlin 200617

Linke, C./Kasdorf, R.: Geschlechtsspezifische Gewalt im deutschen Fernsehen. Kooperationsprojekt der Hochschule Wismar und der Universität Rostock 2021. Abrufbar unter: https://fg.hs-wismar.de

Linke, C./Kasdorf, R.: Audiovisuelle Repräsentation geschlechtsspezifischer Gewalt. Theoretische Überlegungen und empirische Befunde In: E. Grittmann/J. Pinseler/C. Peil/K. F. Müller (Hrsg.): Medien und Ungleichheiten. Perspektiven auf Gender, Diversität und Identität (in Vorbereitung)

Linke, C./Prommer, E.: From fade-out into spotlight: An audio-visual character analysis (ACIS) on the diversity of media representation and production culture. In: Studies in Communication Sciences, 1/2021/21, S. 1–17. Abrufbar unter: https://malisastiftung.org

Meltzer, C. E.: Tragische Einzelfälle? Wie Medien über Gewalt gegen Frauen berichten. Ein Projekt der Otto Brenner Stiftung. Frankfurt am Main 2021. Abrufbar unter: https://www.otto-brenner-stiftung.de

Meltzer, C. E.: Die Darstellung von Gewalt gegen Frauen in den Medien. Die Rolle von Nachrichten für das gesellschaftliche Verständnis von Gewalt gegen Frauen. In: Bundeszentrale für politische Bildung (bpb). Bonn 2022. Abrufbar unter: https://www.bpb.de

Nettleton, P. H.: Domestic Violence in Men’s and Women’s Magazines: Women Are Guilty of Choosing the Wrong Men, Men Are Not Guilty of Hitting Women. In: Women’s Studies in Communication, 2/2011/34, S. 139–160. Abrufbar unter: https://doi.org/10.1080/07491409.2011.618240

Prommer, E./Linke, C.: Ausgeblendet. Frauen im deutschen Film und Fernsehen. Köln 2019

Thiele, M.: Medien und Stereotype. Konturen eines Forschungsfeldes. Bielefeld 2015

Thiele, M.: Intersektionalität und Kommunikationsforschung: Impulse für kritische Medienanalysen. In: T. Thomas/U. Wischermann (Hrsg.): Feministische Theorie und Kritische Medienkulturanalyse. Ausgangspunkte und Perspektiven. Bielefeld 2020, S. 163–177

Thomas, T.: Kontroversen über Unterdrückungsverhältnisse: Race, Class und Gender in der feministischen Debatte. In: T. Thomas/U. Wischermann (Hrsg.): Feministische Theorie und Kritische Medienkulturanalyse. Ausgangspunkte und Perspektiven. Bielefeld 2020, S. 59–74