Die Revolution frisst ihre Kinder

Netflix reagiert auf die erste Krise seiner Erfolgsgeschichte mit einer Idee von gestern

Tilmann P. Gangloff

Tilmann P. Gangloff ist freiberuflicher Medienfachjournalist.

1992 hat ein Privatsender eine kecke Botschaft verkündet: „RTL hat etwas für das Fernsehen völlig Neues entdeckt. Den Zuschauer.“ Dreißig Jahre später hat ein amerikanischer Medienkonzern eine dem Anschein nach ähnlich revolutionäre Entdeckung gemacht. Netflix reagiert auf den ersten Dämpfer in seiner noch vergleichsweise jungen Erfolgsgeschichte mit einer verblüffenden Ankündigung: Der Streamingdienst will klassisches Fernsehen mit einem festen Ablauf anbieten und außerdem Werbezeit verkaufen.

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Es klingt wie das abrupte Ende einer Erfolgsstory: Viele Jahre lang war Netflix unangefochtener Marktführer. Der Vorsprung des amerikanischen Streamingdienst-Pioniers, der 2007 mit dem Abruf von Filmen und Serien übers Internet eine höchst lukrative Marktlücke entdeckt hatte, schien uneinholbar. Als während der Corona-Pandemie die Kinos schließen mussten, sorgte dies für einen regelrechten Streamingboom. Aber weil die Flut alle Boote hebt, konnte sich auch die Konkurrenz von Amazon Prime Video über großen Kundschaftszuwachs freuen. Mit Disney+ hat zudem im November 2019 ein weiterer mächtiger Gegenspieler das Feld betreten. Das Timing war perfekt: In Deutschland und weiteren potenten europäischen Ländern startete der Micky-Maus-Konzern sein Angebot im März 2020 und somit rechtzeitig zum ersten Lockdown.

Netflix ließ sich davon zunächst nicht beirren und zog weiterhin einsam seine Bahn. In den letzten Monaten jedoch musste das Unternehmen – mit weltweit mehr als 220 Mio. Abonnenten nach wie vor Marktführer und zwischenzeitlich an der Börse 300 Mrd. Dollar und damit mehr wert als Disney – empfindliche Rückschläge verkraften. Für den Streamingdienst ist das eine völlig neue Erfahrung: Die Zahl der Kündigungen ist zum ersten Mal größer als die der Neukunden, der Aktienkurs ist regelrecht abgestürzt. Die Prognosen verheißen keine Besserung, wenn sich nichts Grundlegendes ändert, zumal die Zahl der Konkurrenten in absehbarer Zeit weiter zunehmen wird. Noch in diesem Jahr wird Amazon in Deutschland seinen werbefinanzierten Ableger Amazon Freevee starten. Auch Paramount+ könnte dank der Marke Star Trek ein ernstzunehmender Gegner werden. Da der Streamingmarkt bereits eine gewisse Sättigung erreicht hat, bleibt den Diensten nichts anderes übrig, als sich gegenseitig die Kundschaft abspenstig zu machen.
 

Statistik: Anzahl der zahlenden Streaming-Abonnenten von Netflix weltweit vom 3. Quartal 2011 bis zum 2. Quartal 2022 (in Millionen) | Statista


Die Arroganz der Macht

Netflix ergeht es nun ähnlich wie vielen erfolgreichen Pionieren der Wirtschaftsgeschichte, die sich zu sicher gefühlt haben. Die Situation erinnert an den deutschen Fernsehmarkt vor knapp 40 Jahren: 1984 haben ARD und ZDF die neue Konkurrenz Sat.1 und RTL nicht ernst genommen. Acht Jahre später war RTL Marktführer. Streaming-Experte Marcus S. Kleiner, Autor des Buches Streamland, spricht von einer „typischen Arroganz der Macht: Man hat Erfolg und ruht sich darauf aus. Die aktuelle Erosion ist auch die Konsequenz der unternehmerischen Ignoranz, kein alternatives Geschäftsmodell zu haben.“ Netflix sei viele Jahre das Synonym für Streaming gewesen, „Rückschläge waren nicht einkalkuliert.“

Nun zeigt sich, dass der Konzern keinen Plan B hat. Die ersten Reaktionen lassen eine gewisse Panik erahnen. Wer seine Zugangsdaten an Menschen außerhalb des eigenen Haushalts weitergeben will, was offenbar knapp die Hälfte der Kundschaft tut, soll höhere Gebühren zahlen. Außerdem will man ein lineares Programm mit festem Ablauf offerieren; Fernsehen also ganz klassisch nach Stundenplan. Dieses Angebot soll sich ähnlich wie beim Audiodienst Spotify am algorithmisch erfassten Geschmack der jeweiligen Nutzerinnen und Nutzer ausrichten; gewissermaßen ein „Me TV“. Darüber hinaus denkt man über ein günstigeres Alternativangebot nach, das Werbung enthält. Allerdings müsste das Unternehmen dann ein sorgsam gehütetes Geheimnis lüften: Wer Werbung schaltet, will natürlich wissen, wie viele Menschen sie erreicht, doch solche Zahlen pflegt der Konzern nicht preiszugeben.
 


Netflix war viele Jahre das Synonym für Streaming, Rückschläge waren nicht einkalkuliert."



Für Kleiner, Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der SRH Berlin University of Applied Sciences, wäre Werbung „der Anfang vom Ende. Sollte Netflix seine Filme, Serien und Dokumentationen durch Werbespots unterbrechen, würde dies das Alleinstellungsmerkmal des Dienstes auslöschen. Das wäre der Tod des Streaming-Prinzips, denn dann hat man wieder Fernsehen.“

Der Marburger Medienwissenschaftler Gerd Hallenberger kommentiert die Entwicklung weniger drastisch. Er zieht eine Parallele zu Premiere. Die 1991 gestarteten Pay-TV-Plattform warb damals mit einem doppelten Alleinstellungsmerkmal: Spielfilme kurz nach der Kinoauswertung und keine Werbung. Weil sich die Zahl der Abonnenten wegen der vielen frei empfangbaren Sender nicht wie erhofft entwickelte, wurde schließlich doch noch Werbezeit verkauft. Die Kunden, erinnert sich Hallenberger, hätten das in Kauf genommen, immerhin seien die Filme nicht unterbrochen worden: „Werbung dürfte für Netflix langfristig also kein Problem sein, zumal in Zeiten, da sich viele Haushalte sehr genau überlegen, wofür sie ihr Medienbudget ausgeben. In den USA hat das Sterben der Streamingdienste längst begonnen. Wenn das bislang unerschwingliche Netflix-Abo plötzlich deutlich preiswerter ist, weil es Werbung enthält: warum nicht? An der Qualität der Filme und Serien ändert sich ja nichts.“ Bei anderen Diensten gibt es das günstigere Werbe-Abo längst.
 

Show ist immer lokal

Eine weitere „Innovation“ klingt ebenfalls nach klassischem Fernsehen: Netflix will Medienberichten zufolge Shows produzieren, die zu einer bestimmten Uhrzeit ausgestrahlt werden, damit das Publikum etwa bei einer Talentsuche seinen Einfluss auf Wohl und Wehe der Teilnehmerinnen und Teilnehmer geltend machen kann. Hallenberger bezweifelt, dass das funktionieren wird: „Die große Stärke von Netflix war die Globalität, aber Show ist immer lokal; selbst eine europäische Castingshow würde wegen der Sprachprobleme nicht funktionieren.“ Es gibt zwar das Gegenbeispiel des Eurovision Song Contest, aber der einstige Grand Prix Eurovision de la Chanson blickt immerhin auf eine über 65 Jahre alte Tradition zurück. Davon abgesehen, so Hallenberger weiter, stehe Streaming für zeitunabhängiges Fernsehen. Zeitliche Souveränität sei stets der „Unique Selling Point“ von Netflix gewesen: „Das ist bei einer Show, an der das Publikum mittels Abstimmung teilnimmt, natürlich nicht mehr gegeben.“

Die Expertise des Unternehmens liege zudem in der Produktion von Fiction: „Gerade bei Serien hat sich eine Art internationales Vokabular entwickelt, selbst wenn nicht jede Serie automatisch und garantiert in jedem Markt funktioniert. Bei der Unterhaltung gibt es jedoch verschiedene regionale Vorlieben und zum Teil erhebliche Geschmacksunterschiede.“
 


Die große Stärke von Netflix war die Globalität, aber Show ist immer lokal; selbst eine europäische Castingshow würde wegen der Sprachprobleme nicht funktionieren."



Gänzlich abwegig findet Hallenberger die Idee trotzdem nicht. „Das ökonomische Netflix-Prinzip basiert darauf, dass das Unternehmen im Unterschied zum klassischen TV-Sender, der wie ein Kaufhaus funktioniert, als Edelboutique konzipiert ist: Man hat in jedem Land eine kleine Zielgruppe, aber addiert ergeben all diese Abonnements eine riesige Anzahl, sodass sich teure Serien refinanzieren.

In dieser Fokussierung auf eine spezielle Zielgruppe liegt auch eine Chance: Netflix kann es sich im Unterschied etwa zu RTL oder ProSieben viel eher leisten, mit eingeführten Genrekonventionen zu spielen. Ein junges Publikum wäre für gänzlich neue Ansätze womöglich sehr dankbar.“ Dass so etwas funktionieren kann, hat ProSieben mit Joko & Klaas Live bewiesen. Das Format, mit dem Joachim Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf auf verschiedene Missstände hinweisen, ist 2022 zum zweiten Mal in Folge mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet worden.

Hallenberger merkt allerdings an, dass das Experiment für Netflix sehr teuer werden könnte, denn Unterhaltung funktioniere nach dem Bestsellerprinzip: „Auf eine Top-Show kommen 19 Flops. Shows sind zwar langfristig betrachtet preiswerter als eine Serie, bei der jede Episode viel Geld kostet, aber dafür ist die Pilotsendung umso teurer.“
 

15 Minuten Live - Charkiw in Concert (Joko & Klaas, 20.04.2022)



Das Unternehmen hat allerdings noch ein weiteres Problem: Anders als Disney+ kann Netflix nicht mit weltberühmten Marken wie Star Wars oder dem Marvel-Universum (Avengers) aufwarten. Das räche sich jetzt, glaubt Kleiner: „Der Markeninhalt von Netflix waren die sogenannten Originals, hochwertige Produktionen, die exklusiv für den Dienst hergestellt worden sind; aber das bieten Amazon Prime und Disney+ längst ebenfalls. Für welche Filme und Serien steht Netflix? Gibt es einen bestimmten Wertehorizont, mit dem man den Firmennamen unwillkürlich assoziiert? Auf beide Fragen fällt mir spontan keine Antwort ein.“ Inhaltlich sei man derzeit ohnehin nicht gut aufgestellt: „Netflix ist zu einer Art Resterampe verkommen und steht nicht mehr wie bisher für Innovation. In den letzten Jahren folgte ein Höhepunkt auf den anderen, aber momentan hat es den Anschein, als sei man erschöpft und in ein kreatives Loch gefallen.“
 

Was ist die DNS von Netflix?

Auch Hallenberger fragt sich, was die DNS von Netflix sei: „Die gesamte Strategie basiert auf Algorithmen, doch Algorithmen haben weder Geschmack noch Identität. Allein das Qualitätsversprechen wird auf Dauer nicht reichen, zumal Streamingangebote längst nicht mehr das ganz große Ding sind; mittlerweile macht das jeder. Netflix hatte den Vorteil aller Pioniere, die einen Markt überhaupt erst schaffen. Heute erweist es sich als Nachteil, anders als zum Beispiel Amazon nicht viel breiter aufgestellt zu sein.“ Tatsächlich ist Prime Video für Amazon im Grunde ein Nebenschauplatz, deshalb kann es sich der Konzern leisten, mit Preisen zu operieren, die nicht kostendeckend sind. Mischkonzerne haben ohnehin bessere Überlebens-Chancen als Spezialisten: Sie sind anpassungsfähiger und können ökonomische Dellen auf einem ihrer Geschäftsfelder durch Profite auf einem anderen ausgleichen. Bestes Beispiel ist Disney mit seinen Produktionsstudios, TV-Sendern, dem Streamingdienst Disney+ und den Vergnügungsparks.
 


Netflix ist zu einer Art Resterampe verkommen und steht nicht mehr wie bisher für Innovation."



An ein Ende des Streamingbooms glaubt Kleiner allerdings nicht: „Das Kino hat durch die Pandemie viel von seinem Status eingebüßt. Die Streamingdienste werden ihre Position als Leitmedium in diesem Bereich nicht mehr hergeben; wir leben auch dank Corona endgültig in einer Welt, in der die Menschen daran gewöhnt sind, jederzeit alles auf Abruf ordern zu können.“ Netflix & Co. hätten ihr Potenzial in der Pandemie jedoch konsequent ausgeschöpft: „Was haben sie noch zu bieten? Wie können sie sich weiterentwickeln, welche Zusatzangebote könnten sie ihren Kunden unterbreiten?“ Prime Video überträgt einige Spiele der Champions League, doch Sport ist für Netflix nach eigenem Bekunden kein Thema. Kleiner würde dem Unternehmen daher empfehlen, das gesamte Geschäftsmodell neu aufzustellen und ein Feld zu erschließen, das die Konkurrenz noch nicht beackert habe. „Wenn ich mich frage, was die junge Zielgruppe im Unterhaltungsbereich neben Filmen und Serien am stärksten bewegt, liegt die Antwort fast auf der Hand: Gaming ist im Kosmos der Streamingdienste noch keine nennenswerte Größe, obwohl filmische Narration und Gamification ganz viele Schnittpunkte haben.“

Diese Überlegung gibt es bereits: Netflix will noch in diesem Jahr Smartphone-Spiele entwickeln lassen, die einen Bezug zu den Eigenproduktionen haben und für die Kunden kostenlos sind. Ansonsten lässt sich der Konzern jedoch nicht in die Karten schauen. Ein Sprecher gibt auf nahezu alle Fragen die immergleiche Antwort: „Wir haben zu diesem Zeitpunkt nichts mitzuteilen.“ Immerhin nennt er einige Zahlen: „Unser Umsatzwachstum hat sich verlangsamt, aber wir sind zuversichtlich, was die langfristige Entwicklung angeht. Der deutschsprachige Raum ist eine unserer wichtigsten Regionen in Europa. Wir bedienen hier derzeit etwa 11 Mio. zahlende Mitglieder und investieren zwischen 2021 und 2023 500 Mio. Euro in Deutschland, Österreich und der Schweiz.“

Allerdings hat das Unternehmen bereits anklingen lassen, dass die Zeiten der eindrucksvollen Budgets wohl vorbei sind. Dies sowie die zugesagte künstlerische Freiheit waren jedoch der Grund, warum Netflix Hollywood-Größen wie Martin Scorsese, David Fincher, Steven Soderbergh, Spike Lee oder Ron Howard gewinnen konnte. Auch hierzulande sind einige herausragende und preisgekrönte Produktionen entstanden, darunter die mit dem Grimme-Preis ausgezeichneten Serien Dark (2017 – 2020) und How to Sell Drugs Online (Fast) (2019 – 2021). Gut möglich, dass die Regietalente dies- und jenseits des Atlantiks fortan lieber für Amazon arbeiten. Mit Tedros Teclebrhan hat Prime Video bereits einen der begnadetsten deutschen Entertainer exklusiv an sich gebunden. Erstes Ergebnis dieser Zusammenarbeit ist das vom gebürtigen Eritreer präsentierte Format One Mic Stand (seit 15. Juli 2022), in dem Prominente wie Karl Lauterbach und Fahri Yardim von Michael Mittermeier, Harald Schmidt oder Teclebrhan selbst auf einen Auftritt als Stand-up-Comedian vorbereitet werden.
 

Trailer One Mic Stand (Amazon Prime Video Deutschland, 21.06.2022)



Die Konkurrenz schläft nicht

Das größte Kopfzerbrechen bereitet der Führungsetage von Netflix allerdings womöglich das klassische Fernsehen, denn ARD, ZDF, die RTL-Mediengruppe und ProSiebenSat.1 attackieren die Streamingdienste hierzulande mit großem Erfolg auf deren ureigenstem Feld: Die Mediatheken der Sender werden immer erfolgreicher, obwohl auch RTL+ und Joyn kostenpflichtig sind, wenn man Zugang zum kompletten Angebot haben will. RTL+ zum Beispiel hat zuletzt Eigenproduktionen wie die Serie Herzogpark oder die Anthologie Strafe nach Ferdinand von Schirach vorab gezeigt. Das Streamingportal ist nach Angaben der Mediengruppe mit aktuell rund 3,2 Mio. verkauften Abos „das mit Abstand führende deutsche Entertainment-Angebot im Streaming-Markt.“

Wer es sich angesichts der aktuellen Teuerungsraten nicht leisten kann oder will, noch mehr Geld für audiovisuelle Medien auszugeben, ist mit den Mediatheken von ARD und ZDF ebenfalls gut bedient. Die Nutzung der ARD-Mediathek, die immer öfter auch exklusive Serien für ein junges Publikum bietet, nimmt kontinuierlich zu. In den ersten drei Monaten des Jahres 2022 haben Nutzerinnen und Nutzer rund 609 Mio. Mal auf das Streamingangebot der ARD zugegriffen; ein deutliches Wachstum gegenüber dem Vorjahr, in dem die ARD-Mediathek insgesamt über zwei Milliarden Videoabrufe verzeichnete. Auch die ZDF-Mediathek erzielte im ersten Quartal 2022 Rekordwerte.

ProSiebenSat.1 macht zu Joyn keine Angaben, will jedoch wie Netflix noch in diesem Jahr ein lineares Programm anbieten. Hallenberger fällt dazu ein Bonmot von Helmut Thoma ein. Der frühere RTL-Geschäftsführer habe mal auf die Frage, wie viele Kanäle ein Fernsehzuschauer brauche, sinngemäß geantwortet: „Nur einen, nämlich den für ihn richtigen.“ Die Pläne von Netflix und Joyn belegten einmal mehr, „dass Bequemlichkeit interessanter als eine große Auswahl sein kann.“
 

Quellen:

Die Zitate und Angaben in diesem Beitrag stammen aus Telefoninterviews mit den genannten Personen oder resultieren aus Anfragen an die Pressestellen der erwähnten Unternehmen.