Eine Frage der Perspektive

Die Krimiserie „The Long Shadow“

Matthias Struch

Matthias Struch studierte Kunstgeschichte und Neuere Geschichte. Er ist Hauptamtlicher Prüfer bei der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen e.V. und Sammlungsleiter im Deutschen Historischen Museum.

Programm The Long Shadow
 Krimi, UK 2023
SenderMagentaTV, ab 06.10.2023

Online seit 06.10.2023: https://mediendiskurs.online/beitrag/eine-frage-der-perspektive-beitrag-1124/

 

 

Die fast unzählig erscheinenden TV-Sender und Streamingdienste verlangen beständig nach neuem Programmcontent. Neben dem diffusen Gefühl, in einem fort Wiederholungen sehen zu können – z. B. im öffentlich-rechtlichen Rundfunk –, finden sich im Bereich der Onlinedienste nicht selten Miniserien und Neufassungen bekannter Stoffe, die ihre Geschichten ausführlicher zu erzählen versuchen, mit neuen Aspekten versehen und unter veränderten Perspektiven. Wie sehr dieser Wechsel der Blickweisen eine Erzählung prägen kann, wird an der neuen, siebenteiligen britischen Krimi-Serie The Long Shadow (Regie: Lewis Arnold) erkennbar. Das True-Crime-Drama – das Drehbuch schrieb George Kay nach der literarischen Vorlage Wicked Beyond Belief von Michael Bilton (2003) – widmet sich der fünfjährigen Jagd nach dem britischen Serienmörder Peter Sutcliffe, den meisten bekannt als sogenannter “Yorkshire Ripper”. Eine Geschichte, die wiederholt in verschiedenen Formaten aufgegriffen worden ist.
 

Trailer The Long Shadow, (ITV, 05.09.2023)



Fokus auf die weiblichen Opfer

Im Mittelpunkt der überwiegend horizontal erzählten Serie stehen weniger der Täter und seine Verbrechen. Vielmehr geht es um die Frauen, die zu seinen Opfern werden, ebenso wie ihre Familien und Angehörigen. In dieser Perspektive liegt eine der großen Stärken der Serie. Die Beschreibung der sozialen Verhältnisse und Prämissen, in denen die späteren Opfer leben – offenkundig der Zusammenhang zwischen Armut und Prostitution –, sind Miniaturstücke in bester sozialkritischer Ken-Loach-Manier. Die Opfer von Sutcliffes Gewaltverbrechen werden nicht von vornherein als solche präfiguriert. Es sind starke, selbstbestimmte Frauen, ausgestattet mit Individualität, die nur, weil sie Frauen sind, zu Opfern werden. Diejenigen von ihnen, die überlebt haben, erfahren soziale Stigmatisierung und Ausgrenzung und kämpfen dagegen an, kämpfen auch für die Anerkennung als Opfer eines Gewaltverbrechens, die ihnen verweigert wird, oder darum, einfach weiterleben zu können.
 

Systemisches und strukturelles Versagen

Das zweite Hautaugenmerk liegt auf den langjährigen Ermittlungen und deren Protagonist:innen, zum überwiegenden Teil Männer, womit die Serie sowohl das systemische und strukturelle Versagen der Institutionen und Verfahren offenlegt – beispielsweise im social profiling –, als auch das persönliche, das hier überwiegend ein männliches Versagen ist. Denn es ist auch diese Gemengelage, die zum späten Ergreifen von Sutcliffe geführt hatte, der im Verlauf der Jahre wiederholt von der Polizei befragt worden war.

Die Qualität der Serie liegt auch in der authentisch anmutenden und glaubhaften Zeichnung von Charakteren und der nachvollziehbaren Schilderung zeitgenössischer Rollenbilder und Geschlechterverhältnisse. Dabei vermeidet sie das mithin verbreitete Missverständnis, Modernität damit konstituieren zu wollen, Figuren aus und mit heutiger Perspektive agieren zu lassen. Als Krimiserie ein klassisches whodunit, kommt sie nahezu ohne klassischen Suspense aus, bezieht Spannung aus der narrativen Erzählung allein. Sie schildert furchtbare Gewaltverbrechen und verzichtet auf deren explizite Darstellung, ohne dabei deren Monstrosität zu vergessen. Ganz nebenbei erklärt und dekonstruiert sie mediale Emotionalisierungsstrategien – also auch die eigenen –, indem sie diese nutzt, aber auch vorführt. Unter Jugendschutzaspekten erreicht sie damit sicher das Hauptabendprogramm. Denn die Bedrückung bleibt, vor allem hinsichtlich der Thematisierung von sexueller Gewalt gegen Frauen, aber eben nicht nur.
 


Freigegeben ab …
 

Der FSF lagen alle sieben Episoden der ersten Staffel der Miniserie vor. Die Prüfausschüsse bewerteten die Geschichte durchaus als emotional belastend und bedrückend – auch angesichts der Tatsache, dass es sich um ein reales Verbrechen handelt. Die enthaltenen Bilder von Gewalt und Gewaltfolgen sind nur kurz und nicht spekulativ in Szene gesetzt, die Ermittlungsarbeiten ruhig und unaufgeregt. Eine nachhaltige Ängstigung ab 12-Jähriger wurde daher nicht vermutet. Die Gewalt und der Täter entwickeln keine Faszinationskraft. Auch das teilweise problematische Verhalten einiger Ermittler (rassistische Züge, Vorurteile, Bedienen männlicher Rollenklischees) entfaltet auf diese Altersgruppe keine beeinträchtigende Wirkmacht, da die Figuren im zeitlichen Kontext der 1970er Jahre verortet sind und für heutige Kinder und Jugendliche nicht als Vorbilder dienen.
 

Bitte beachten Sie:
Bei den Altersfreigaben handelt es sich nicht um pädagogische Empfehlungen, sondern um die Angabe der Altersstufe, für die ein Programm nach Einschätzung der Prüferinnen und Prüfer keine entwicklungsbeeinträchtigenden Wirkungsrisiken mehr bedeutet.

Weiterlesen:
Sendezeiten und Altersfreigaben

Hinweis:
Pay-TV-Anbieter oder Streamingdienste können eine Jugendschutzsperre aktivieren, die von den Zuschauer:innen mit der Eingabe einer Jugendschutz-PIN freigeschaltet werden muss. In dem Fall gelten nicht die üblichen Sendezeitbeschränkungen und Schnittauflagen. Weitere Informationen zu Vorschriften und Anforderungen an digitale Vorsperren als Alternative zur Vergabe von Sendezeitbeschränkungen sind im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (§ 5 Abs. 3 Nr. 1; § 9 Abs. 2 JMStV) sowie in der Jugendschutzsatzung der Landesmedienanstalten (§ 2 bis § 5 JSS) zu finden.

Weiterlesen:
Jugendschutz bei Streamingdiensten