Entdeckt bei DOXS RUHR im November
Jugendliche kuratieren Dokumentarfilmprogramme
DOXS RUHR versteht sich als ein Filmfestival für junges Publikum, das aktuelle dokumentarische und experimentelle Formen zeigt. Die Filme kommen hauptsächlich aus Deutschland und Europa. Die einzelnen Programme richten sich an Kita- und Schulkinder sowie an Jugendliche. DOXS RUHR legt aber auch viel Wert auf Partizipation seines Zielpublikums. So entstand die Idee von kino.for you.
„Kino.for you ist ein Projekt“, erklärt Festivalleiterin Gudrun Sommer in einem Interview, „in dem wir mit jungen Menschen im Alter zwischen 17 und 24 Jahren zusammen die Frage stellen, wo und wie Film stattfindet, so dass es für sie und ihre Freund*innen attraktiv ist, sich Filmkultur anzusehen. Das heißt, es geht einerseits darum, welche Art von Film wichtig und für sie relevant ist. Zum anderen geht es aber auch um die Orte und um die Frage, wie präsentiert sich Film so, dass es aus der Sicht der Jugendlichen ein attraktiver Kinobesuch ist.“
Konkret heißt dies, dass drei verschiedene Gruppen von Jugendlichen aus 20 bis 30 aktuellen experimentellen und Dokumentarfilmen jeweils ein Filmprogramm kuratiert und dies dann vor Publikum präsentiert haben. Die einzelnen Gruppen waren dabei unterschiedlich zusammengesetzt, wie Gudrun Sommer meint: „Uns war wichtig, dass wir mit unterschiedlichen Ebenen arbeiten, in denen wir mit jungen Menschen diese Frage beantworten. Einerseits sollten Schüler*innen mit dabei sein, andererseits war es wichtig, dass auch junge Erwachsene, die nicht zwingend ein professionelles Interesse an Kino haben, mitmachen. Zugleich haben wir die Chance genutzt, dass das Institut für Medienwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum wiederum diese Frage wissenschaftlich stellt. Die drei sehr unterschiedlich zusammengesetzten Gruppen – so unsere Hoffnung – würden die Antworten vielleicht etwas breiter auffächern.“
Unser Ziel war, dass wir die Jugend mehr für Dokumentarfilme begeistern.“
Die erste Gruppe präsentierte ihr Programm gleich zu Beginn des Festivals auf zwei Abendveranstaltungen in Bottrop und Moers. Hier hatten Studierende aus Bottrop und Schüler*innen aus einem Moerser Gymnasium zusammengearbeitet. Sie boten ein Programm mit zwei Dokumentarfilmen: Love, Dad (Milý Tati) von Diana Cam Van Nguyenund A Youth von Giorgio Bosisio.
Trailer Love, Dad (Milý tati) (Asociácia slovenských filmových klubov, 31.08.2021)
Die tschechisch-slowakische Koproduktion Love, Dad erzählt nicht nur eine berührende persönliche Geschichte, sondern fasziniert auch durch ihre besondere Machart. Die vietnamesisch-tschechische Filmemacherin befindet sich im inneren Dialog mit ihrem Vater, der sich immer einen Sohn gewünscht und nach der Trennung von der Familie letztendlich den Kontakt zu seiner Tochter abgebrochen hat. Diana Cam Van Nguyen erinnert sich an innige Momente in ihrer frühesten Kindheit und beschreibt die allmähliche Abwendung ihres Vaters. Sie fragt sich: „Was wäre, wenn ich ein Junge wäre – würde mich mein Vater dann mehr lieben?“ Für die Beschreibung dieser schwierigen Vater-Kind-Beziehung und ihrer Sehnsucht nach einem klärenden Gespräch kombiniert sie Dokumentaraufnahmen und Familienfotos mit Zeichnungen und Animationen und kreiert so eine aufregende filmische Collage.
Die 40-minütige englisch-griechisch-italienische Koproduktion A Youth dagegen begleitet junge Geflüchtete aus Afghanistan, die in Athen leben und sich den neuen kulturellen Herausforderungen stellen. Sie vertreiben sich die Zeit mit Raps, streifen durch die Stadt, erzählen sich Geschichten von früher und träumen von der Zukunft. Im Mittelpunkt steht Peymann, dessen Leben sich wie in einer Warteschleife anfühlt, denn noch haben die Behörden nicht entschieden, ob er und seine Familie bleiben dürfen.
Trailer A Youth (A Youth Short Film, 15.04.2020)
Moderiert wurde die Veranstaltung in Moers von den 18-jährigen Zwillingsbrüdern Steve und Marvin, die dieses kino.for you-Programm mit kuratiert hatten. Sie besuchen beide das Gymnasium in den Filder Benden. In ihrem Philosophiekurs waren sie von ihrer engagierten Lehrerin Gudrun Kanacher, die seit vielen Jahren dem Festival verbunden ist, angeregt worden, sich an diesem Projekt zu beteiligen. Durch Gudrun Kanacher waren sie bereits mit Dokumentarfilmen vertraut, weil – wie Steve erzählte – „wir im Kurs oft DOXS-RUHR-Filme geguckt haben, wenn sie zu einem Philosophiethema passten“.
Warum sie sich bei der großen Auswahl letztendlich für diese beiden Filme entschieden hatten, erklärte Steve so: „Die Message war wichtig, was der Film überhaupt zeigen will. Dass es bei A Youth um Flüchtlinge ging, fanden wir gut und dachten, dass dies auch fürs Publikum sehr interessant sein könnte“. Und Marvin ergänzte: „Wir sind bei der Entscheidung von uns ausgegangen, aber auch wie vielleicht das Publikum diesen Film finden würde. A Youth fanden wir toll, weil er ein sehr relevantes Thema hat. Bei Love, Dad hatten wir die Bedenken, dass er durch seinen Animationsstyle – und weil er auch eher experimentell gemacht ist – manche aus dem Publikum nicht so ansprechen würde. Aber er hat so herausgestochen, dass wir ihn dennoch genommen haben“. Dass die Gruppe sich für diesen Film entschieden hatte, freute ihn besonders, denn: „Love, Dad war mein absoluter Lieblingsfilm, mein absoluter Favorit, weil er mich von der Inszenierung und vom Thema absolut mitgerissen hat und ich mir vorstellen konnte, dass es sehr aufwändig war, diesen Animationsstil zu machen, besonders die Szene mit dem Swimmingpool, wo die Personen wie ausgeschnitten herumschwammen. Das war sehr beeindruckend“.
Wir wollten mit den Filmen die Geschichten von Menschen, die häufig nicht gehört werden, ans Licht bringen.“
Für das Projekt der zweiten Gruppe kooperierte DOXS RUHR u. a. mit dem Schülerstipendienprogramm RuhrTalente vom Land Nordrhein-Westfalen. Dazu noch einmal Gudrun Sommer: „Die Zusammenarbeit mit den RuhrTalenten war eingebettet in eine Summer School, die auch viel damit zu tun hatte, dass man sich Räume anguckt, Begehungen macht, dass es Workshop-Trainings und Gespräche gibt mit Filmemacherinnen und Filmemachern, die über ihren Beruf erzählen.“ An der Summer School nahmen RuhrTalente-Schüler*innen teil, aber auch Alumni wie z. B. die 21-jährige Studentin Giona aus Dortmund. Die Gruppe präsentierte ihr äußerst abwechslungsreiches Filmprogramm im stilvollen Filmstudio Glückauf in Essen, eines der ältesten Kinos in Nordrhein-Westfalen. Vorgeführt wurde der Dokumentarfilm Maalbeek von Ismaël Joffroy Chandoutis, der Kurzspielfilm The Silent Child von Chris Overton sowie die finnische Produktion All My Mom’s Phone Calls von IiTi Yli-Harja.
Die drei Filme unterschieden sich sehr vom Thema wie auch von der Gestaltung und doch waren alle miteinander verbunden. „Die einzelnen Filme sollten zusammenpassen, irgendwie einen Rahmen bilden“, erzählte Giona, „und ich glaube, das haben wir auch geschafft. Alle drei Filme greifen ein Thema auf, das in unserer Gesellschaft unterrepräsentiert ist, und sie zeigen immer die Sicht der Betroffenen“.
So berichtet der unter die Haut gehende Film Maalbeek von den Bombenanschlägen in Brüssel am 22. März 2016. Dabei werden Archivbilder von den Ereignissen mit Animationen, die aus realen Aufnahmen erstellt und verfremdet wurden, kombiniert. Außerdem erzählt im Off eine Frau, die die Explosion überlebt hat und an einer Amnesie leidet, von dem Davor und Danach und ihrer Suche nach Rekonstruktion des Erlebten.
Trailer Maalbeek (Pendance Film Festival, 12.03.2021)
Ausnahmsweise war bei diesem Festival auch ein Kurzspielfilm zu sehen: The Silent Child, in dem eine Familie nicht mit der Gehörlosigkeit ihrer Tochter umgehen kann und sich das Kind dadurch mehr und mehr isoliert. Für diesen Film hatte sich Giona stark gemacht, obwohl er nicht zum Sichtungsprogramm gehörte. Die Produktion aus dem Vereinigten Königreich hatte 2018 den Oscar in der Kategorie „Bester Kurzfilm“ gewonnen. Dadurch hatte ihn Giona entdeckt: „Ich hatte vorgeschlagen, dass wir den Film gemeinsam gucken, auch wenn es kein Dokumentarfilm ist. Ich fand das Thema sehr wichtig und auch interessant, eben genau aus dem Grund, weil das ein bisschen untergeht. Obwohl es ein Spielfilm ist, haben alle in der Diskussion hinterher gesagt, dass sie die Botschaft wichtig finden und dass der Film ihnen sehr nahegegangen ist. Und das war bei uns das wichtigste Kriterium, dass er uns alle bewegt hat. Ja, das war ein großes Kriterium, wie der Film auf uns gewirkt hat, also nicht nur, was er sagen wollte, sondern ob er das auch wirklich geschafft hat, diese Emotionen rüberzubringen. Und da war The Silent Child bei uns ganz vorn. Viele von uns haben dann auch geweint, als wir ihn geguckt haben.“
Trailer The Silent Child (NITVShorts, 20.11.2020)
Über den dritten Beitrag in dem kuratierten Programm, All My Mom’s Phone Calls, war das Publikum geteilter Meinung. In diesem witzigen Dokumentarfilm hat Regisseurin Iiti Yli-Harja die realen Anrufe ihrer Mutter mit einer rasanten Puppentrickgeschichte kombiniert, die so genau den Smartphone-Stress schildert, dass am Ende das Publikum selbst völlig genervt war. Einige Jugendliche konnten sich in diesem Gefühl wiederfinden, doch viele sahen das nur als Problem einer Mutter und fühlten sich nicht angesprochen. Trotzdem waren Giona und ihre Gruppe überzeugt davon, die richtige Auswahl getroffen zu haben. Denn: „Es ist schon wichtig, mal etwas Kontroverses oder Experimentelles zu zeigen. Man kann ja nicht nur das zeigen, was auf jeden Fall beim Publikum ankommt, einfach nur um das Publikum glücklich zu machen, sondern man muss ja auch mal etwas anderes zeigen, damit nicht nur Mainstreamkino läuft, sondern halt auch verschiedene Perspektiven vorgestellt werden. Aber da finde ich es halt wichtig, hinterher darüber zu sprechen und sich auszutauschen“.
Die dritte Gruppe des „Reallabors“ kino.for you, wie es so schön im Programmheft von DOXS RUHR heißt, präsentiert ihr Programm erst zu einem späteren Zeitpunkt.
Der Findungsprozess
Giona erzählte von dem Auswahlprozess in ihrer Gruppe: „Wir haben uns im Vorfeld die Beschreibungen zu allen Filmen, die vorgeschlagen wurden, durchgelesen. Dann haben wir eine erste Vorauswahl getroffen. Diese Filme haben wir, je nach Länge maximal 25 Minuten geguckt. Daraus sollten wir unsere fünf Favoriten auswählen. Das heißt, wir haben abgestimmt, welche Filme wir nochmal schauen und enger diskutieren. Von denen, die die meisten Stimmen bekommen haben, haben wir die ganz kurzen Filme komplett geguckt. Bei den längeren haben wir die ersten 15 bis 25 Minuten geschaut und dann diskutiert, wie die Filme auf uns gewirkt haben, ob die uns interessiert haben und ob wir die gerne weitergucken möchten, schon in Hinblick darauf, ob wir glauben, dass wir sie zeigen können. Zum Ende hin konnten wir dann schon ein bisschen schneller entscheiden, ob der Film stark genug ist, dass er in die engere Auswahl kommen könnte“.
Die Diskussionen und Entscheidungsprozesse gestalteten sich aber schwieriger als gedacht: „Bei uns gab es den einen oder anderen Kampf bei der Diskussion, weil wir alle unterschiedlichen Alters waren. Die Jungs waren so 16 oder 17, ich war mit 21 die Älteste, und da hat man schon gemerkt, dass wir Filme auf unterschiedliche Weise sehen. Ich hab’ aber versucht, mich von meiner persönlichen Meinung über den Film ein bisschen zu distanzieren und eher zu schauen, ob das Thema auch gesellschaftlich relevant ist. Das Festival sollte ja nicht heißen ‚Gionas Lieblingsfilme‘, sondern wir wollten ja eine Geschichte erzählen, das Programm sollte irgendwie eine Botschaft haben. Am Ende mussten wir aber die Stimmen zählen.“
Der Auswahl, der Präsentation dann im Kino hat man diese „Kämpfe“ nicht angesehen. Im Gegenteil! Nicht nur, dass das kuratierte Filmprogramm als klug überlegt und fesselnd empfunden wurde, auch die Moderation der Projektteilnehmer*innen nahm das Publikum für sich ein. So agierten die Jugendlichen vor der Leinwand locker, antworteten sehr ernsthaft auf Fragen und Wortmeldungen, ließen Kritik zu und berichteten auch immer wieder von dem eigenen Findungsprozess, um darzustellen, dass es kein „richtig“ und kein „falsch“ gibt.
Gute Kinos sind Räume, die es Filme- und Festivalmacher*innen erleichtern, Filme an ein junges Publikum zu bringen.“
Im Gegensatz zum Schulfilmprogramm von DOXS RUHR, das hauptsächlich vormittags in den verschiedenen Festivalstädten gezeigt wird, fanden die kino.for you-Veranstaltungen meist abends, also in der Freizeit von Jugendlichen, statt. Denn außerschulische Film- und Kinoarbeit mit jungen Leuten zusammen zu machen, ist ein Anliegen von DOXS RUHR. Dabei spielen die Veranstaltungsorte eine große Rolle, wie Gudrun Sommer meint: „Die Frage, wo Film präsentiert wird in unserem Zusammenhang hat auch Einfluss darauf, wie wir und was wir präsentieren. Das muss nicht zwangsläufig ein klassisches Kino sein. Wir entdecken unterschiedliche Programmformate mit den Orten, an denen wir Filme zeigen“.
Auch andere Räume zu erobern, wie beispielsweise das ehrwürdige Alte Landratsamt in Moers oder die Quartiershalle in der KoFabrik in Bochum, ermöglicht es dem Festivalteam, ein Publikum zu erreichen, das es sonst nicht finden würde, weil es entweder nicht auf die Idee käme oder gar nicht die Chance hat, ein Kino zu besuchen. Bei der Veranstaltung im Alten Landratsamt kamen auf diese Weise Menschen im Pensionsalter und Jugendliche zusammen, was das anschließende Filmgespräch zu einem spannenden, anregenden Ereignis werden ließ.
Trotzdem spielt für Festivalleiterin Gudrun Sommer das Kino als Erlebnisraum eine wesentliche Rolle: „Es gibt gerade hier im Ruhrgebiet sehr viele klassische schöne Kinoarchitekturen, die in ihrer Dichte gar nicht so wahrgenommen werden. Ich finde es interessant, dass man über so ein Festival sichtbar machen kann, was hier an Infrastruktur existiert, die eigentlich sehr besonders ist. Das andere ist, dass Kinos Räume sind, die es dem Publikum leichter machen, sich auf Filme einzulassen – schon allein durch die große Leinwand und das ganze Ambiente drum herum. Und in Hinblick auf den medialen Konsum wird das Kino für Filme, die dauern, immer wichtiger. Weil Dauer etwas ist, das für junge Leute zunehmend ungewöhnlich ist in ihrer Seherfahrung“.
Der Erfolg der zehnten Ausgabe von DOXS RUHR gibt Gudrun Sommer Recht, denn der Andrang der Festivalbesucher*innen war groß. Mehr als 2.000 Kinder, Jugendliche und Erwachsene erlebten die insgesamt 22 Vorführungen in Bochum, Bottrop, Essen, Dortmund, Gelsenkirchen und Moers.
DOXS RUHR wurde vor zehn Jahren als regionales Spin-off des Duisburger doxs!-Festivals unter der Leitung von Gudrun Sommer gegründet. Initiator und Träger ist der Verein Freund*innen der Realität e. V.
2022 fand DOXS RUHR erstmalig unabhängig von der Duisburger Kinder- und Jugendsektion an sechs Standorten im Ruhrgebiet statt.
Das Konzept und Programm des Kinoabends FUTUR QUEER der Studierenden der Ruhr-Universität-Bochum sind auf der Website des Festivals abrufbar. (Ergänzung der Redaktion, 8.2.2023)