Geschrumpfte Eltern, kleine Vögel und Bettkämpfe

Das 26. Deutsche Kinder-Medien-Festival in Gera und Erfurt

Barbara Felsmann

Barbara Felsmann ist freie Journalistin mit dem Schwerpunkt „Kinder- und Jugendfilm“ sowie Autorin von dokumentarischer Literatur und Rundfunk-Features.

„Die ersten Festivaltage des GOLDENEN SPATZEN haben in diesem Jahr mit 14 ausverkauften Vorstellungen und einer sensationellen Kino-Auslastung von 80 % alle Rekorde gebrochen“, verkündete Festivalleiterin Nicola Jones am 12. Juni 2018 in Gera. Dort hatte der GOLDENE SPATZ zwei Tage zuvor begonnen, um dann in Erfurt weitergeführt zu werden. Neben knapp 50 Kinovorstellungen bot das „Zwei-Städte“-Festival ein umfangreiches medienpädagogisches Programm für Kinder und Jugendliche sowie zahlreiche Veranstaltungen und Präsentationen für das Fachpublikum. Damit ist dieses Festival mit den Schwerpunkten „Film“, „Fernsehen“ und „Onlineangebote für das junge Publikum“ nicht nur ein Anziehungspunkt für alle, die sich mit Kindermedien beschäftigen, sondern auch einzigartig in Deutschland.

Printausgabe tv diskurs: 22. Jg., 3/2018 (Ausgabe 85), S. 8-13

Vollständiger Beitrag als:

Der diesjährige Wettbewerb um die GOLDENEN SPATZEN gliederte sich in fünf Kategorien: Kino-/Fernsehfilm, Kurzfilm, Serie/Reihe Animation, Information/Dokumentation und Unterhaltung. Aus jeder Kategorie zeichnete die Kinderjury, bestehend aus 26 Mädchen und Jungen im Alter von 9 bis 13 Jahren aus Deutschland und dem deutschsprachigen Ausland, einen Beitrag aus und vergab zudem einen GOLDENEN SPATZEN an die beste Darstellerin/den besten Darsteller bzw. an die beste Moderatorin/den besten Moderator. Einen Preis für das beste Drehbuch lobte die Jury des MDR-Rundfunkrates gemeinsam mit der Autorin Antonia Rothe-Liermann aus. Außerdem zeichneten die fünf Kinder der WebJury eine Website bzw. App zum Thema „Toleranz leben, Vielfalt stärken“ mit einem GOLDENEN SPATZEN aus und erstmalig wurde auch ein Publikumspreis für den besten Jugendfilm vergeben.
 

Aktuelle Spiel- und Animationsfilme in der Kategorie „Kino-/Fernsehfilm“

Acht von 32 eingereichten Beiträgen waren für die Kategorie „Kino-/Fernsehfilm“ nominiert worden. Darunter befanden sich in diesem Jahr hauptsächlich Adaptionen von Kinderbuchklassikern bzw. populären literarischen Stoffen, mit Ausnahme des ersten langen Animationsfilms der Brüder Wolfgang und Christoph Lauenstein sowie des Spielfilms Rock my Heart von Hanno Olderdissen. Rock my Heart, beim Festival empfohlen für Kinder ab 10 Jahre, ist ein Pferdefilm der besonderen Art, geht es doch hier hauptsächlich um die Freundschaft der schwer herzkranken 17-jährigen Jana zu dem alten, einsamen und hoch verschuldeten Rennstallbesitzer Paul Brenner. Während er glaubt, gemeinsam mit der jungen, ambitionierten Pferdeliebhaberin ein Reitturnier gewinnen und mit dem Preisgeld seinen Hof retten zu können, muss Jana einen für sie akzeptablen und vernünftigen Umgang mit ihrer Krankheit finden. Wunderbar besetzt mit der Newcomerin Lena Klenke und Altstar Dieter Hallervorden geht dieser Film ans Herz und lässt den Zuschauer lange nicht los, weil er viel über die Schwierigkeiten und die Widersprüchlichkeit unseres Lebens erzählt. Auch um eine ganz besondere Freundschaft geht es in dem witzigen, unterhaltsamen Animationsfilm Luis und die Aliens, nämlich um die Freundschaft eines einsamen, sich selbst überlassenen Jungen und drei tollpatschigen, mit den Gepflogenheiten auf der Erde nicht gut vertrauten Aliens. Produziert von der Ulysses Filmproduktion, die bereits für die Animationsfilme Ooops! Die Arche ist weg … und ÜBERFLIEGER – Kleine Vögel, großes Geklapper verantwortlich zeichnete, bot dieser Wettbewerbsbeitrag vor allem Spaß und gute Unterhaltung.

Die anderen sechs Kino- und Fernsehfilme basierten – wie gesagt – auf bekannten literarischen Stoffen bzw. eingeführten Marken. Dazu gehörten die Märchenadaption Der Schweinehirt, produziert für die ARD-Reihe Sechs auf einen Streich, der zweite Biene Maja-Film, die comichaft inszenierte Koproduktion aus der Schweiz und Deutschland Papa Moll und die Entführung des fliegenden Hundes, die auf den populären Bildergeschichten von Edith Oppenheim-Jonas beruht, sowie die Realverfilmung von Otfried Preußlers Die kleine Hexe. Ihrer Hauptdarstellerin Karoline Herfurth hat die Kinderjury den GOLDENEN SPATZEN verliehen. Den SPATZEN für den besten Film in dieser Kategorie vergaben die jungen Juroren an Hilfe, ich hab meine Eltern geschrumpft. Die Fortführung von Hilfe, ich hab meine Lehrerin geschrumpft baut – wie ich finde – auf oberflächliche Gags und reicht an den Charme des ersten Teils bei Weitem nicht heran. Den Kindern aber hat – so ihre Begründung – vor allem die Idee gefallen, Eltern einmal schrumpfen und somit über sie bestimmen zu dürfen. Ein verständlicher Wunsch in einer Zeit, wo oftmals „Helikoptereltern“ über ihre Kinder wachen und genau zu wissen meinen, was für ihre Sprösslinge gut sei.
 


Auf einem nicht ganz so bekannten literarischen Stoff basiert der Spielfilm von Stefan Westerwelle, Matti und Sami und die drei größten Fehler des Universums. Hier geht es um existenzielle Fragen von Kindern, nämlich um den Zusammenhalt einer Familie, den die Hauptfigur Matti durch eine Kette von Lügen retten will. Produziert von der Lieblingsfilm GmbH, deren Produktion Amelie rennt im vergangenen Jahr den GOLDENEN SPATZEN und damit auch den Sonderpreis des Thüringer Ministerpräsidenten erhalten hat sowie den Drehbuchpreis der MDR-Rundfunkrat-Jury, ist dies ein Film der leiseren Art und der genauen Zwischentöne.
 

Originäre Stoffe im Anmarsch

Wieder einmal wurde beim GOLDENEN SPATZEN deutlich, dass es originäre Stoffe in der deutschen Kinderfilmlandschaft schwer haben. Produzenten und Verleiher wollen nicht das Risiko eingehen, dass eine solche Produktion im Kino floppt, Fernsehsender haben in den letzten Jahren lieber auf hohe Einschaltquoten bringende Weihnachtsmärchen gesetzt als auf unbequeme zeitgenössische „Problemfilme“. Um diese untragbare Situation zu verändern, hat sich vor fünf Jahren die Initiative „Der besondere Kinderfilm“ gegründet. Diese Initiative, der mittlerweile 26 Partner aus Filmwirtschaft, Politik, Förderungen des Bundes und einiger Länder sowie aus öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern angehören, fördern Kinderfilme mit originären, zeitgenössischen Stoffen. Nach den drei fertiggestellten Produktionen Winnetous Sohn, ENTE GUT! Mädchen allein zu Haus und Auf Augenhöhe gehen nun die innerhalb dieser Initiative entwickelten Filme Invisible Sue sowie Unheimlich perfekte Freunde in die Postproduktion. Beide Projekte wurden beim „Sneak Peek des besonderen Kinderfilms“ dem Fachpublikum vorgestellt. Mit Invisible Sue hat sich Regisseur und Drehbuchautor Markus Dietrich einen Traum erfüllt und den ersten deutschen Superheldinnenfilm für Kinder entwickelt. Seine Superheldin ist die 12-jährige, hochintelligente Sue, die sich sozusagen durch einen Betriebsunfall unsichtbar machen kann und ihre Mutter, eine ehrgeizige Wissenschaftlerin, aus den Klauen von gefährlichen Entführern befreien muss. Einige rasant inszenierte Filmausschnitte mit einer charismatischen jungen Hauptdarstellerin und einem imposanten Setting konnten bereits bewundert werden. Der Film, der über 4 Mio. Euro gekostet hat, soll bereits Ende des Jahres ins Kino kommen.

Anfang 2019 folgt dann die Gruselkomödie Unheimlich perfekte Freunde nach einem Drehbuch von Nora Lämmermann und Simone Höft. Regie führt bei diesem 3,4 Mio.-Projekt Marcus H. Rosenmüller, der für seinen Film Wer früher stirbt, ist länger tot sowie die Trilogie Beste Zeit, Beste Gegend und Beste Chance mehrfach ausgezeichnet wurde. Im Mittelpunkt steht hier der 10-jährige Frido, der unbedingt aufs Gymnasium soll, aber nicht die Empfehlung von seiner Lehrerin bekommt. Als er auf dem Rummel vor einem Zauberspiegel steht, der ihm „sein perfektes Ich“ zeigen will, wittert der verzweifelte Junge eine Chance, seine Probleme zu lösen. Doch dann geistert sein Spiegelbild „in perfekt“ lebendig durch die Gegend und sorgt für einige Turbulenzen sowie für wichtige Einsichten und Erkenntnisse.

Weitere Filme, die auf originären Stoffen beruhen, wurden bei der traditionellen SPATZ-Veranstaltung „Blick in die Werkstatt“ vorgestellt. So z.B. die niederländisch-deutsche Koproduktion Romys Salon, die unter der Regie von Winky-Regisseurin Mischa Kamp entsteht. Der Film erzählt von der 10-jährigen Romy, die nicht verkraftet, dass ihre an Alzheimer erkrankte Großmutter ins Pflegeheim muss. Die Dreharbeiten sind bereits abgeschlossen, der Kinostart ist für das Frühjahr 2019 geplant. Kurz vor den Dreharbeiten steht dagegen das Spielfilmdebüt Zu weit weg von Regisseurin Sarah Winkenstette, die bereits mit ihren Kurzfilmen Sturmfrei und Gekidnapped zu Gast beim GOLDENEN SPATZEN war. Der Film (Buch: Susanne Finken) erzählt eine interessante Heimatverlust-Geschichte zweier Kinder. Zum einen muss der 11-jährige Ben in die Stadt ziehen, weil sein Dorf einem Braunkohletagebau geopfert wird, zum anderen ist da der 12-jährige Flüchtlingsjunge Tariq, der seine syrische Heimat verlassen musste und nun ohne Familie in Deutschland lebt. Zunächst Konkurrenten, freunden sich die beiden an und verbringen eine Nacht in dem verlassenen und dem Untergang geweihten Dorf von Bens Familie.
 

Themenvielfalt bei den dokumentarischen Formaten

Die Kategorie „Information/Dokumentation“ zeichnete sich auch in diesem Jahr wieder durch ein breites Spektrum an Themen und einen hohen künstlerischen Anspruch aus. In den nominierten Beiträgen werden Kinder ernst genommen, ihnen schwierige Konfliktlagen zugetraut und realistische Einblicke in unsere Innen- und Außenwelt gewährt. So beschäftigt sich beispielsweise Dokumentarfilmer Marco Giacopuzzi in der Folge Phil und das Traurigsein aus der preisgekrönten Reihe Schau in meine Welt! mit dem Problem „Depression bei Kindern“ und lässt den 10-jährigen Phil erzählen, wie er mit der Krankheit umgeht. In einer anderen Episode aus dieser Reihe porträtiert Regisseurin Stefanie Appel eine 10-jährige Surferin aus dem Badeort Cox’s Bazar, die sich mutig den Konventionen in ihrem muslimisch geprägten Heimatland entgegenstellt. Regisseurin Sigrid Klausmann schildert dagegen in einer Folge ihrer Reihe 199 kleine Helden eindrucksvoll die zwei Leben der 12-jährigen Zozooloi aus der Mongolei. Sie stammt aus einer Nomadenfamilie und verbringt die Ferien bei ihrer Familie fernab von der Zivilisation im Altai-Gebirge. Sie lebt in der Jurte – ohne Strom, fließendes Wasser und Internet. Wenn die Schule beginnt, beginnt ihr zweites Leben – in der 100 Kilometer entfernten Stadt Tsengel. Um das Ankommen und sich Einleben eines syrischen Flüchtlingsjungen in Deutschland geht es in der vierteiligen Reihe Und jetzt sind wir hier. Filmemacherin Agnes Lisa Wegner, die 2015 mit dem GOLDENEN SPATZEN ausgezeichnet wurde, hat für dieses Projekt den 13-jährigen Anwar und dessen Familie über ein Jahr lang begleitet.
 

Auf der Idee eines 14-jährigen Jungen beruht der unterhaltsame (weil unkonventionell gemachte) wie interessante Dokumentarfilm von Yves Schurzmann, Tut alt werden weh?. Genau diese Frage stellte sich Melvin, der auch mit einer unglaublich frischen, offenen Art durch den Film führt und die unterschiedlichsten alten Leute aufsucht, um herauszufinden, wie sie mit den Problemen des Alterns fertig werden. So arbeitet er auf einer Pflegestation, begleitet eine 77-Jährige bei einer Schönheits-OP oder fragt ein Ehepaar, das seit 62 Jahren zusammen ist, über ihr Sexualleben aus.

Sich in dieser Kategorie für nur einen Film entscheiden zu müssen, fiel der Kinderjury garantiert schwer. Sie zeichnete letztendlich die Episode Anton aus der achtteiligen Reihe Der Krieg und ich aus, eine deutsch-polnische Koproduktion für das Fernsehen von Matthias Zirzow. Die Reihe erzählt in jeder Folge das Schicksal eines Kindes aus einem europäischen Land während des Zweiten Weltkrieges. Dabei werden inszenierte Dramageschichten mit historischen Dokumentaraufnahmen, Zitaten aus Tagebüchern von Kindern und animierten Szenen kombiniert.

Während die Auswahlkommission die hohe Qualität der eingereichten Beiträge in dieser Kategorie lobte, musste sie leider auch konstatieren, dass lange Dokumentarfilme für das Kino immer noch eine Ausnahme darstellen. Um dieses Defizit will sich nun erfreulicherweise die Initiative „Der besondere Kinderfilm“ kümmern. Sie hat beschlossen, in Zukunft ihre Ausschreibungen auf Dokumentarfilmprojekte für 6- bis 12-Jährige zu erweitern. Eine Entscheidung, die beim Panelgespräch zum fünfjährigen Bestehen der Initiative mit einem riesigen Applaus begrüßt wurde.
 



Die Preise des Deutschen Kinder-Medien-Festivals GOLDENER SPATZ 2018

KINDERJURY KINO-TV

GOLDENER SPATZ in der Kategorie „Kino-/Fernsehfilm“, verbunden mit dem Sonderpreis des Thüringer Ministerpräsidenten Bodo Ramelow für Regie:
Hilfe, ich hab meine Eltern geschrumpft von Tim Trageser (Deutschland/Österreich 2017)

GOLDENER SPATZ für Beste/r Darsteller/in:
Karoline Herfurth für die Titelrolle in Die kleine Hexe von Michael Schaerer (Deutschland/Schweiz 2017)

Lobende Erwähnung:
Oskar Keymer für die Rolle als Felix in Hilfe, ich hab meine Eltern geschrumpft von Tim Trageser (Deutschland/Österreich 2017)

GOLDENER SPATZ in der Kategorie Kurzfilm:
Chika, die Hündin im Ghetto von Sandra Schießl (Deutschland 2016)

GOLDENER SPATZ in der Kategorie Serie/Reihe Animation:
Der kleine Vogel und die Raupe von Lena von Dören (Schweiz 2017)

GOLDENER SPATZ in der Kategorie Information/Dokumentation:
Der Krieg und ich: Anton von Matthias Zirzow (Deutschland/Polen 2017)

GOLDENER SPATZ in der Kategorie Unterhaltung:
Draußen schlafen – Der Bettkampf: Auf der Skipiste von Salim Butt (Deutschland 2017)

MDR-RUNDFUNKRAT

Preis des MDR-Rundfunkrates für das beste Drehbuch:
Jon Frickey für Katzentage (Deutschland/Japan 2018)

Publikumspreis für den besten Jugendfilm:
Das schweigende Klassenzimmer von Lars Kraume (Deutschland 2017/2018)

WEBJURY

GOLDENER SPATZ für die beste Webseite/App zum Thema „Toleranz leben, Vielfalt stärken“:
www.kinderweltreise.de (Idee/Konzept: FW GbR [Kultourkonzepte], Programmierung: Kids interactive)