Hazy Cosmic Jive

Miniserie „Pistol“ auf Disney+

Uli Wohlers

Dipl. Soz. Päd. Uli Wohlers ist Prüfer bei FSK und FSF. Er studierte u.a. Publizistik und Filmwissenschaft in Dublin und Lüneburg und lebt als freier Autor von Romanen und Drehbüchern in Hamburg, Berlin und Dänemark.

Programm Pistol
 Drama, USA 2022
SenderDisney+, ab 28.09.2022

Online seit 31.10.2022: https://mediendiskurs.online/beitrag/hazy-cosmic-jive-beitrag-1124/

 

 

Arbeiterunruhen, Müllberge, brennende Autos. Wandertauben fliegen auf in den finsteren Himmel. Queen Elizabeth lächelt huldvoll wie Porzellan. Der Beginn der ersten Episode ist eine nostalgisch anmutende Collage mit Tönen von David Bowies Starman, die einen Kosmos von Assoziationen und Erinnerung explodieren lassen. Schnipsel von Found Footage formieren einen Schemen von London Anno 1977. „Das Folgende ist inspiriert von tatsächlichen Ereignissen“, verkündet eine Schwarzblende. Konzertbilder von Bowie, Hawkwind, Jimmy Hendrix suggerieren durch kurze, in die Handlung gestreute Ausschnitte Authentizität in der Coming-of-Age-Miniserie Pistol. Entstanden nach dem Roman Lonely Boy: Tales from a Sex Pistol (Steve Jones 2016) bildet die Serie nicht die vermeintlich reale Geschichte der Sex Pistols ab, sondern ist fiktional und geht mit ihrer Message weit über nostalgische Anmutungen hinaus.
 

Der Geist der Punk-Bewegung

Die Vergangenheit ist, wie Faulkner sagt, nicht tot – sie ist noch nicht einmal vergangen. So wabert auch der Geist der Punk-Bewegung unter der Oberfläche des Bewusstseins, um sich zumindest filmisch wieder zu materialisieren. Vielleicht zeigt die Serie fast exemplarisch die seltene Konstellation vom Zusammentreffen politischer und künstlerischer Avantgarde, die für einen Moment revolutionäre Kraft entfaltet. Musik, Mode – Revolution. Jimi Hendrix hatte mit den Rückkoppelungen seiner Gitarre eine Weltreligion begründet, die nach seinem Tod von vielen Protagonisten weitergetragen wurde. Musik ist vielleicht die Kunst, die wie ein in die Vene injizierter Speedball am schnellsten im zentralen Nervensystem ankommt. David Bowie und Brian Ferry, die damaligen Götter, wurden überall gehört und man konnte sich sofort mit ihren Geschichten verknüpfen. Das bot eine Basis für die aus dem Kreis von Vivienne Westwood und Malcolm McLaren initiierte Gruppe von Arbeiterkindern, die, mit Kamikaze-Geist ausgestattet, die Welt „ficken“ sollten.
 

Trailer Pistol (KinoCheck Heimkino, 10.08.2022)



Flucht in Drogen

Die Serie zeigt den verzweifelten Kampf geschundener Kinder, die sich unbedingt Gehör verschaffen wollen. Denen es, dabei den Pfad der Gefälligkeit verlassend, für einen Moment gelingt, ihren Peinigern ihr „Destroy!“ entgegenzuschreien und mit Anarchy in the UK eine Bewegung in Gang zu setzen. Eine klassische und universelle Geschichte von Selbstermächtigung durch Kunst, die in der Serie so überzeugend und inspirierend rüberkommt, dass man sich fiebernd nach einem Instrument umsieht, um einzustimmen. Sei es eine Gitarre, ein Schreibblock oder meinethalben einen Time Lag Accumulator. Die Serie zeigt aber auch, von Regisseur Danny Boyle visuell gewohnt realistisch inszeniert, den in der Bewegung wohnenden Konflikt. Zu starke Verzweiflung bei gleichzeitig niedrigschwelligem Angebot von Opiaten. Die Kraft der Vergangenheit zerrte die Protagonisten nicht nur in der Serie in ihre einsamen Schreckenskammern zurück. Auch in Deutschland saßen 1977 viele wie Mick Jagger mit „needle und spoon im basement room“ oder wollten sich mit Lou Reed wie „jesus son“ (oder Tochter) fühlen, und rumpelten, kaum 20, nach einer Überdosis in Zinksärgen die engen Treppenhäuser herab.

 

Liebesgeschichten

Wie jede gute Coming-of-Age-Serie gibt es auch bei Pistols Liebesgeschichten. Etwa die zwischen Chrissie Hynde und dem Gitarristen und Hauptprotagonisten Steve Jones mit wunderbar lakonischen Dialogen, die sogar noch durch die Synchronisation schimmern. Oder die tragische von Sid Vicious und Nancy, die vielleicht das Letzte ist, was von den echten Sex Pistols als Beweis für ihre Verderbtheit und ihren Wahnsinn noch im medialen Gedächtnis geblieben ist, um die Bewegung vollständig zu diskreditieren. „Warum ist es so leicht zu erkennen, wenn einen jemand hasst – und so schwer, wenn einen jemand liebt?“, fragt Nancy im Film. Man muss die vergangene Zeit nicht erlebt haben, um von der Serie Pistols zu profitieren. Zuschauenden ab 12 könnte sie helfen, sich der revolutionären Kraft dieser Lebensphase bewusst zu werden. Vielleicht treffen sie ihn ja: den Starman. „There’s a starman waiting in the sky. He’d like to come and meet us but he thinks he’d blow our minds …“
 


Freigegeben ab …
 

Die sechsteilige Miniserie zeigt die Punk-Subkultur der 1970er-Jahre, in der Sex, Drogen und Alkohol, aber auch kriminelles Verhalten eine Rolle spielen. Der teils exzessive Drogenkonsum und der Alkoholkonsum der Protagonist:innen erfahren jedoch keine positive Einbettung und erscheinen nicht vorbildhaft oder attraktiv. Sie sind erkennbar in die Subkultur eingebunden. Gleiches gilt für die stellenweise vulgäre Sprache. Auch das gezeigte kriminelle Verhalten wirkt nicht vorbildhaft, sondern ist Ausdruck der psychischen Schwierigkeiten des betreffenden Protagonisten. Möglicherweise belastende Szenen wie Kindheitstraumata werden visuell zurückhaltend dargestellt, so dass sie für 12-Jährige als verkraftbar und nicht als nachhaltig ängstigend eingeschätzt wurden. Auch hinsichtlich der Thematisierung und Darstellung von Sex wurde keine Überforderung der ab 12-Jährigen angenommen. Insgesamt markieren die Zeitumstände und das Milieu einen deutlichen Abstand zur Lebenswelt heutiger Kinder und Jugendlicher, so dass das Dargebotene, insbesondere das zum Ausdruck gebrachte Lebensgefühl, nicht unmittelbar anschlussfähig wirkt.
 

Bitte beachten Sie:
Bei den Altersfreigaben handelt es sich nicht um pädagogische Empfehlungen, sondern um die Angabe der Altersstufe, für die ein Programm nach Einschätzung der Prüferinnen und Prüfer keine entwicklungsbeeinträchtigenden Wirkungsrisiken mehr bedeutet.

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Sendezeiten und Altersfreigaben

 

Hinweis:
Pay-TV-Anbieter oder Streamingdienste können eine Jugendschutzsperre aktivieren, die von den Zuschauer:innen mit der Eingabe einer Jugendschutz-PIN freigeschaltet werden muss. In dem Fall gelten nicht die üblichen Sendezeitbeschränkungen und Schnittauflagen. Weitere Informationen zu Vorschriften und Anforderungen an digitale Vorsperren als Alternative zur Vergabe von Sendezeitbeschränkungen sind im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (§ 5 Abs. 3 Nr. 1§ 9 Abs. 2 JMStV) sowie in der Jugendschutzsatzung der Landesmedienanstalten (§ 2 bis § 5 JSS) zu finden.

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Jugendschutz bei Streamingdiensten