„Iiiiih!“ – Einlassungen zum modernen Ekelfernsehen

Jenni Zylka

Jenni Zylka ist freie Autorin, Moderatorin, Filmkuratorin, Journalismusdozentin und Geheimagentin. Sie arbeitet für Radio, Print- und Onlinemedien, u.a. Spiegel Online, „taz“, „Tagesspiegel“, „Rolling Stone“, WDR, RBB, Deutschlandradio, Berlinale, Filmfest Emden, Filmfest Dresden und Akademie für Mode und Design. Sie veröffentlichte bei Rowohlt und Suhrkamp.

Ekel-Effekte in Film und Fernsehen folgen einer natürlichen Evolution. Ob Krabbeltiere oder Gewürm in verschiedenen Anwendungen, Eiterbeulen, Erbrochenes oder Abgelebtes ... wohlige Angstlust aus der Entfernung findet immer ein treues Publikum.

Printausgabe mediendiskurs: 26. Jg., 4/2022 (Ausgabe 102), S. 4-7

Vollständiger Beitrag als:

Es gibt Worte, die verderben einem den Appetit. „Fußkruste“ ist so eins. Bilder dazu möchte man nicht im Kopf haben – dennoch entstehen sie (leider) im gleichen Augenblick, in dem man den Begriff liest. Und sie werden allein durch das Wort erzeugt. Wer sie tatsächlich in Farbe gesehen hat, diese Krankheit namens Cornu cutaneum – beispielsweise am Fuß jenes Patienten, der in der US-amerikanischen TLC-Dokuserie My Feet Are Killing Me (Die Fußchirurgen) seine von einem besonders schweren Fall betroffenen Gliedmaßen in die Kamera hielt –, ist noch schlimmer dran. Denn ein im limbischen System angelegter Ekelreflex ist jedem Menschen angeboren. Worauf wir mit Ekel reagieren, wird allerdings erlernt – und ist damit individuell, kulturell und historisch unterschiedlich und wandelbar (es ist jedoch anzunehmen, dass der beschriebene medizinische Sachverhalt in den meisten Zeiten und Gesellschaften die gleiche Reaktion hervorruft: Iiiiih!).

TV-Unterhaltungsprogramme lassen sich mit Ekel schon eine ganze Weile hervorragend füllen. Die aus der deutschen 1970er-Jahre-Serie Ein Herz und eine Seele stammende Figur des „Ekel Alfred“ mit seinen harmlos-verbitterten Respektlosigkeiten („Dem hamse ins Jehirn jeschissen!“) würde den meisten Menschen heute höchstens noch ein nostalgisches Lächeln hervorlocken.
 

Ich bin ein Star - Holt mich hier raus! Diese Prüfung schmeckt nicht ... (RTL, 25.01.2022)



Seit gut 20 Jahren sind es stattdessen vor allem Reality-TV-Sendungen wie Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!, die für Furore und eine beständige Quote sorgen: In sogenannten „Ekelprüfungen“ des Dschungelcamps müssen die Kandidat:innen tierische Körperteile (z. B. Augen) essen oder ein „Bad“ in einem Behälter mit Kakerlaken nehmen. Ähnliche Aufgaben hielt und hält das etwas ältere, ursprünglich für einen britischen Fernsehsender entwickelte und bis heute international erfolgreiche Format Survivor für seine Kandidat:innen bereitnbsp;– auch hier bereichern Insekten die dürftige Wildnis-Speisekarte, und die Überwindung des Ekels – vor Blut, Exkrementen, Gerüchen, Tieren – steht für die Beteiligten oft im Vordergrund. Horrorfilme benutzen von jeher Kerbtiere, um ihre Zuschauer:innen gleichzeitig zu gruseln, zu ängstigen und zu ekeln. Zunächst vergrößerte man das Gekrabbel in „big bug“-Manier: Im 1954 erschienenen Formicula (mit dem viel besseren Originaltitel Them!) wurden Ameisen zu Riesenmonstern, schuld war, wie üblich in Horrorfilmen des beginnenden Nuklearzeitalters, ein naher Atombombentest. 1955 ließ Regisseur Jack Arnold seine monströse Tarantula auf die Spinnenphobiker:innen im Publikum los. Auch durch bessere Kameras und neue Einstellungsgrößen war es später eher das ungreifbare Wuseln, das den Ekel evozierte: In Mörderspinnen von 1977 (mit William Shatner alias Captain Kirk, aber das half ihm auch nicht) webten Horden von Arachniden am Ende gleich die ganze Stadt ein. Auch in Ants – Die Rache der schwarzen Königin (ebenfalls 1977) krabbeln emsige, aber chemisch verseuchte Ameisen ekelig auf Menschenkörpern herum.

Wie bei allen aus dem Rezeptionsraum vor dem Fernseher wahrgenommenen Gefühlen gilt bei Ekel, was auch bei Angst gilt: Es aus der sicheren Entfernung zu erleben, bereitet den Zuschauer:innen Freude. Der Medienpsychologe Uli Gleich schrieb 2001 über Reality-TV-Formate:

„Unter einer erregungstheoretischen Perspektive ist es so etwas wie Angstlust, die den Konsum von Reality-TV erklären kann. Die Zuschauer empfinden eine Mischung aus Furcht und gleichzeitig Wonne und zuversichtlicher Hoffnung angesichts einer äußeren Gefahr, die in solchen Sendungen dargestellt wird, der man aber selbst nicht aktuell ausgesetzt ist“ (Gleich 2001).

Dass Ekel und Angst medial ähnlich rezipiert werden, macht sie allerdings noch lange nicht zum gleichen Sentiment, wie der Philosoph Aurel Kolnai bereits 1929 in seinem Aufsatz Der Ekel erklärte (der angeblich viele surrealistische Künstler seiner Zeit beeinflusst hat):

„Ekel […] ist körpernäher als alle anderen Formen der Abwehr und Abkehr; Ekel ist deshalb auch etwas anderes als moralische Verachtung und geradezu ein Gegenbegriff zu Angst. […] Im Ekel ist keine Bedrohung spürbar, nur eine unerträgliche Belästigung“ (Kolnai 1929).


Und was als Belästigung empfunden wird, also die Ekelreaktion, kann sich – wie bereits erwähnt – verändern. Dass Insekten inzwischen längst als „Proteinquelle“ und damit Snack der Zukunft gelten, könnte dazu beigetragen haben, dass die Macher:innen solcher Formate Spinnen und Kakerlaken inzwischen weitgehend hinter sich gelassen und sich stattdessen gefragt haben: Wovor ekelt sich das Publikum weiterhin?
 

Trailer Triangle of Sadness (KinoCheck 2022)



Ruben Östlunds Satire Triangle of Sadness geht mit dieser Frage aktuell spielerisch um: In einer denkwürdigen, ewig langen, unfassbar choreografierten und mit viel Einsatz (und Todesverachtung) gespielten Szene auf einem Schiff rutschen die Protagonist:innen (u. a. Sunnyi Melles) bei starkem Seegang mit jeder Welle in und auf ihrem Erbrochenen herum. Zum Speien gesellen sich bald überquellende Schiffstoiletten – das ist dann aber irgendwie auch schon egal. Das Sichübergeben in Gesellschaft hingegen galt noch im 18. Jahrhundert nicht unbedingt als „ekelerregend“: Man benutzte bei studentischen Zechgelagen dafür gern ein gemeinsames Gefäß. So ein „Speibecken“ war unter dem Namen „Vomitorium“ angeblich auch schon bei den Römern bekannt. Der Umgang mit Erbrochenem ist somit tatsächlich von veränderten gesellschaftlichen Regeln betroffen.

Aber andere negativ besetzte Körperthematiken gehen anscheinend immer noch gut – und eignen sich durch ihren schnellen Erfolg beim Erzeugen von Gefühlen besonders für das kostengünstige Fernsehen: Das Interesse an Medicalformaten, wie das genannte Die Fußchirurgen, Dr. Mercy – Dermatologin für alle Fälle, Hautnah – Dermatologen im Einsatz oder Dr. Pimple Popper, ist ungebrochen und etabliert seit ein paar Jahren ehemals private – teilweise als Tabu empfundene – nahe Körperbilder auf dem Schirm.

Das von Dr. Pimple Popper, einer US-amerikanischen Dermatologin namens Sandra Lee 2015 bei YouTube eingestellte Video von der Entfernung eines Mitessers bei einer 85-Jährigen wurde bis heute 72 Mio. Mal aufgerufen. Ein ähnlich widerliches, am 24. Dezember 2018 eingestelltes Mitesser-Entfernungsvideo mit der charmanten Unterzeile „Dr. Pimple Popper is celebrating Christmas in style“ klickten (vermutlich mit dementsprechendem Gesichtsausdruck) bis heute 116 Mio. Menschen an. Seit 2018 ist Dr. Pimple Popper mit verschiedenen Fernsehformaten erfolgreich, 2021 wurde sie in der Kategorie „Guilty Pleasure Shows“ nominiert – und zwar bei den American Reality Television Awards, einer Auswahl von anderen ambivalenten Formaten, was darauf schließen lässt, dass Sandra Lees Show selbst hartgesottene Reality-TV-Fans in fasziniertem Ekel vereint.

Tatsächlich ist das Sentiment Ekel nach Ansicht von Anthropolog:innen eine Antwort auf Dinge, die (meistens) ungesund sind, etwa Schmutz (wie stark verstopfte Poren) oder Hautkrankheiten wie Cornu cutaneum. Diese Dinge zu entfernen oder dabei zuzuschauen, wie sie entfernt werden, nimmt man als befriedigend wahr, weil die gesundheitliche Gefahr somit gebannt ist. Permanent und in allen Kulturen durchweg als „ekelerregend“ empfunden sind dagegen aber Dinge wie Exkremente, verdorbene Lebensmittel und der Geruch – und ab einem gewissen Zeitpunkt auch der Anblick – von Leichen. Der kollektive Ekelreflex bei diesen Themen hat ebenfalls gesundheitliche Aspekte und soll das Infektionsrisiko (etwa durch Bakterien) senken.
 

A giant blackhead extracted in an 85 y.o accompanied by her daughter. (Dr. Sandra Lee, aka Dr. Pimple Popper, 2015)



Viele der vermittelten, ehemals tabuisierten, irritierenden oder ekelerregenden Körperbilder in neuen Formaten haben aber kaum mehr etwas mit gesundheitlich notwendigen Veränderungen zu tun: Besonders bizarre und außergewöhnliche „Optimierungen“ sowie das subjektive und normative Schönheitsempfinden sind Themen in Sendungen wie Verpfuscht – Ein Fall für die Beauty Docs, in der zwei kalifornische Chirurgen von anderen Ärzt:innen „verpfuschte“ Nasen-, Brust-, Gesichts- oder Gesäßoperationen bereinigen und dabei nicht zimperlich sind: Die betäubten Patient:innen werden vor der OP-Kamera erst einmal grob zusammengetackert, Blut, Organe, all das „Weiche von der Leiche“ spart die Show aus. Trotz der eindeutigen Sensationslust, auf die Verpfuscht abzielt, haben die gut gelaunten Ärzte dabei stets ein paar vernünftige medizinische Ratschläge auf Lager und empfehlen ihren Patient:innen regelmäßig, sich Implantate entfernen zu lassen oder überhaupt auf eine Operation zu verzichten. Körperdysmorphe Störungen, die bei einigen der Patient:innen vermutlich Ursache für ihre Wünsche waren, werden bei der Produktion zwar nicht thematisiert, aber respektiert – und angemessen behandelt.

Dass zeitgleich in der filmischen Fiktion ein wahrer Boom an Body-Horror-Werken zu beobachten ist, passt zu der starken Konzentration auf das, was ein Körper in einer Welt leisten muss oder darf, in der alles möglich ist –, und wird neuerdings öfter von Frauen inszeniert, die damit die speziellen misogynen Anforderungen an den normativ-schönen weiblichen Körper und den Umgang mit Mutterschaft behandeln: Julia Ducournaus Titane zeigte 2021 eine Frau, die sexuell mit einem Auto verkehrt – und von ihm schwanger wird; in Pelikanblut inszenierte Katrin Gebbe 2019 Nina Hoss als Frau, die ihrer schwierigen, destruktives Verhalten zeigenden adoptierten Tochter das „Bonding“ zu ermöglichen versucht – und darum Medikamente nimmt, die einen Milcheinschuss in ihren Brüsten verursachen. Isabelle Stever lässt ihre sehnig-magere Protagonistin, eine ehemalige Primaballerina, im 2022 herausgekommenen Film Grand Jeté nicht nur mit einer Schere masturbieren, sondern bricht ein weiteres Körpertabu: Die Hauptfigur beginnt eine sexuelle Beziehung mit ihrem entfremdeten erwachsenen Sohn (der ebenfalls systematisch seinen Körper schindet). Und der Altmeister des Body-Horror-Genres David Cronenberg hat mit Crimes of the Future 2022 wieder einen Film inszeniert, der vor Körpermodifikationen (Body Alterations) wimmelt und diese lustvoll ausstellt: Dem Protagonisten wachsen durch eine Hormonstörung fremde Organe, die er von seiner „Performancepartnerin“ in großen öffentlichen Shows entnehmen lässt. Cronenberg nimmt mit seinem düsteren Albtraum auch die mediale Rezeption sämtlicher Medicalformate ins Visier – jede Operation wird von einer Zuschauermasse gefilmt, gestreamt und dokumentiert. Als Höhepunkt soll am Ende eine öffentliche Obduktion stattfinden – an einem kleinen Jungen. Cronenberg überspitzt und kritisiert gleichzeitig den Umgang mit dem „öffentlichen Körper“ und entzieht sich dennoch nicht der Schaulust an ihm.
 

Trailer Crimes of the Future (KinoCheck, 2022)



Doch immerhin sind all seine Beispiele fiktiv und fantastisch. Die TLC-Dokuserie Body Bizarre, die echte, ungewöhnliche körperliche Deformationen (Tumore, verwachsene Gliedmaßen) vorstellt, tarnt ihre Sensationslust dagegen unter dem Titel „bewegende Geschichten“ und begleitet die „menschlichen Schicksale“ nach Eigenaussage nur, um bei den Zuschauenden Empathie zu erzeugen. Inwiefern die Freiwilligkeit der Betroffenen, sich filmen oder operieren zu lassen, eine von der Produktionsfirma erkaufte ist, wird in der Serie nicht thematisiert.

Die Faszination für die Schwelle zwischen Leben und Tod wird auch in Realityformaten wie den Notfallrettungs-Dokuserien Ambulance Australia oder der seit 2016 laufenden britischen Produktion Die Lebensretter von England formuliert: Hier schaut das Publikum auf tatsächlich kritische, lebensbedrohliche Situationen von Betroffenen, die ihre Zustimmung erst später geben konnten. In einigen Fällen gibt es Tote – deren Rechte am eigenen Bild werden also postmortal von den Angehörigen verhandelt. Und damit – nach Ansicht von Kritiker:innen des Formats – nie wirklich eingeholt: Schließlich kann man kaum von allen Menschen verlangen, zu Lebzeiten eine bindende Aussage dazu zu treffen, wie im Falle eines tödlichen Unfalls, bei dem der Krankenwagen zufällig von einem Kamerateam begleitet wird, mit dem Material umgegangen werden soll.

Der Streit über das bildlich recht harmlose RTL-Dokuformat Obduktion, in dem ein Rechtsmediziner und ein Schauspieler echte Todesfälle untersuchen, lässt das Thema „Ekel“ am äußeren Rand stehen – hier wurden angesichts des Umgangs mit und der „Ausbeutung“ von echten Leichen vor allem Argumente wie Tabu, Pietät und Moral vorgebracht. Dabei ist der Tod, das hat man spätestens bei der Berichterstattung zum Tod von Queen Elizabeth II. gemerkt, nicht wirklich ein Tabu. Und das braucht er auch gar nicht zu sein. Er lässt sich nur nicht gewinnbringend ausbeuten. Zumindest nicht mehr für die von ihm Betroffenen.
 

Obduktion – Echte Fälle mit Tsokos und Liefers (RTL+, 2021)



Literatur:

Gleich, U.: Populäre Unterhaltungsformate im Fernsehen und ihre Bedeutung für die Zuschauer. Forschungsüberblick zu Nutzungsmotiven, Funktionen und Wirkungen von Soap Operas, Talkshows und Reality-TV. In: Media Perspektiven, 10/2001, S. 524–531. Abrufbar unter: www.ard-media.de (letzter Zugriff: 21.09.2022)

Kolnai, A.: Der Ekel. In: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Band 10/1929, S. 515–569