Vom Glück des Sehens

Jenni Zylka

Jenni Zylka ist freie Autorin, Moderatorin, Filmkuratorin, Journalismusdozentin und Geheimagentin. Sie arbeitet für Radio, Print- und Onlinemedien, u.a. Spiegel Online, „taz“, „Tagesspiegel“, „Rolling Stone“, WDR, RBB, Deutschlandradio, Berlinale, Filmfest Emden, Filmfest Dresden und Akademie für Mode und Design. Sie veröffentlichte bei Rowohlt und Suhrkamp.

Glück ist in Filmerzählungen entweder das Ergebnis großer Anstrengungen, seltsamer Zufälle oder der richtigen Pillen. Und die glücklichsten Held:innen entsteigen einer Kulisse aus Unglück.

Printausgabe mediendiskurs: 27. Jg., 4/2023 (Ausgabe 106), S. 42-43

Vollständiger Beitrag als:

Unter „Beatles“-Nerds gibt es eine fortlaufende Diskussion über den Song Happiness is a warm gun. Die einen glauben John Lennons Aussage, dass er die Zeile „Glück ist eine warme Pistole“ in einem Waffenmagazin gelesen und sie fassungslos eingesetzt habe: „Das heißt doch, man hat gerade damit geschossen!“ Die anderen bevorzugen eine sexuelle, womöglich drogenbedingte Konnotation, denn ist „Schuss“ nicht auch mehrdeutig?

Glück ist nicht für jeden das Gleiche, weil nicht jeder die gleichen Bedürfnisse hat. Doch gerade seine Ambiguität macht das „Glück“ in der Kunst universal einsetzbar. Filme, die – wie fast alle Geschichten – dramaturgischen Bögen folgen, nutzen den Begriff seit Jahrzehnten als Negativ-Reflexion: „Glück“ im Titel eines Films deutet auf etwas inhaltlich Trauriges, auf „Unglück“ hin. Denn nur Unglückserfahrung macht das Glück erlebbar. Und die Reise von einem zum anderen Zustand entspricht in der klassischen Filmstruktur der Held:innen­reise.
 

The Beatles: Happiness Is A Warm Gun (Universal Music Group, 17.06.2018)



Auf eher seichte Weise demonstriert das Gabriele Muccino 2006 im Biopic Das Streben nach Glück: Nach der wahren Geschichte eines alleinerziehenden, fleißigen Mannes, den widrige Umstände in die Obdachlosigkeit trieben (= Unglück), erzählt der Film dessen von Rückschlägen geprägten, aber durch „Leb deinen Traum“-Mantren angetriebenen Aufstieg. Glück ist in seinem Fall eine warme Wohnung, ein Job und die leuchtenden Augen seines Sohnes. Dass diese tatsächlich leuchten, denn die beiden Charaktere wurden vom Vater-Sohn-Paar Will und Jaden Smith gespielt, holte den Film nicht aus der Kitschfalle heraus: Weil Glück und Unglück in Hollywood regelmäßig als Fallhöhenverstärker eingesetzt werden, hat man während der Geschichte keine Sekunde Angst um Mann oder Sohn. So hält sich die Empathie in Grenzen.

Auf der Berlinale 2008 hatte Happy-Go-Lucky Premiere, ein Film von Mike Leigh, der für seine Sozialdramen bekannt ist. Die unverschämt positive Protagonistin Poppy (Sally Hawkins) begegnet den Miesepetern des Lebens konsequent mit guter Laune. So überwältigend ist ihre für die britisch-verknöcherte Umwelt unverständliche Freundlichkeit, dass nicht nur der verklemmte Fahrlehrer sich in sie verguckt, sondern auch derangierte Obdachlose ihre Sorgen bei ihr ablassen. Sie beginnt zudem eine Liebesbeziehung mit einem reizenden Mann. Leighs ungewöhnlicher Ton und Hawkins’ Spiel überzeugten Zuschauer:innen und Jury: Obwohl eine eigentliche Held:innenreise ausblieb, denn der Poppy-Charakter war und blieb das gleiche Glücksküken, zeigte der Film eine Fluchtmöglichkeit, für die man sich nicht schämen muss. Schließlich bewegte sich Poppy durch eine überhaupt nicht schöne, überhaupt nicht gerechte Welt, wirklich „Glück“ hatte sie aber auch nicht. Leigh koppelte den Begriff von den beiden etwas weniger breit lächelnden Schwestern des Glücks, „Zufall“ und „Schicksal“, ab: Was Glück ist, so scheint er zu sagen, soll man selbst bestimmen.
 

Trailer: Das Streben nach Glück | The Pursuit of Happyness (Rotten Tomatoes Classic Trailers, 27.02.2017)



Noch subtiler erzählte Isabelle Stever im Jahr 2010 eine Glücksgeschichte: Ihr Film Glückliche Fügung ist geprägt von einer undefinierbar bedrohlichen Atmosphäre. Simones (Annika Kull) Wohnung ist eng, ihre Matratze liegt auf dem Boden, das Kopfsteinpflaster draußen verrät die Kleinstadt. Silvesterknaller zischen am Fenster vorbei, Simone zieht rote Pumps an, radelt in eine Bar, kippt Drinks und tanzt, bis nur noch ein anderer auf der Tanzfläche ist. Neben dem wacht sie am frostigen Neujahrsmorgen im Auto auf. Sie trifft den Mann, Hannes (Stefan Rudolf), ein paar Monate später wieder, im Fahrstuhl des Krankenhauses, in dem sie gerade einen Schwangerschaftstest hat machen lassen. Der war positiv. Und Hannes zeigt sich glücklich darüber! Wundersamerweise will er Elternschaft, Vorstadtnest und die klassische RZB (romantische Zweierbeziehung).

Doch genau wie das Publikum traut auch Simone diesem unerwarteten Glück nicht – und scheint es immer wieder herauszufordern: Wieso trinkt und raucht sie? Wieso fährt sie schwanger so schnell Fahrrad, dass sie hinfällt? Wieso renoviert sie das neue Eigenheim mit extra vielen Chemiegiften und verausgabt sich dabei? Simone kann oder will ihr „Glück“ einfach nicht fassen, im wahrsten Sinne. Ob sie nur Angst davor hat, wieder unglücklich zu werden, oder ob verkappte Angststörungen, Traumata oder Psychosen im Hintergrund lauern, erklärt der Film nicht – Stever spielt mit Andeutungen, Geheimnissen und Erwartungen, sie lässt Interpretationsfreiheit. Damit gelingt ihr einer der nachhaltigsten „Glücksfilme“ überhaupt.
 

Trailer: GLÜCK (Doris Dörrie/Constantin Film, 19.01.2012)



In Glück von Doris Dörrie (2012) wird der Begriff dagegen vor allem als Plot Point, also als Überraschung in der Handlung eingesetzt: Dörries Drama nach Ferdinand von Schirach folgt einer Geflüchteten, die in Berlin als Prostituierte arbeitet und einen arbeitslosen Punk lieben lernt. Ein vermeintlicher Mord an einem Freier, bei dessen Vertuschung der Punk seiner Freundin hilft, entpuppt sich später als natürlicher Tod. Die Geschichte kombiniert recht klischierte Außenseiterbiografien mit einem vorausgesetzten Wunsch nach Liebe (der universalen Glücksdefinition) und lässt das titelgebende „Glück“ darüber hinaus die beiden Protagonist:innen retten: Es war Glück, die Flucht zu schaffen; es war Glück, dass die beiden sich trafen; es war Glück, dass sie am Ende einen guten Anwalt hat, dem sie schon früh im Film begegnet ist.

Mike Cahills 2021 gestarteter Film Bliss (zu Deutsch: Glück) beschreibt das Glück durch vermeintliche Opposition: In einer grellen, trostlosen Welt trifft der schwer gebeutelte Greg (Owen Wilson) auf Isabel (Salma Hayek), eine mysteriöse Drogendealerin, die in einem Zeltlager unter der Autobahnbrücke haust. Durch den Konsum von blauen Kristallen öffnet sich für die beiden jedoch eine andere Wirklichkeit. Die sieht aus wie eine Raffaello-­Werbung inklusive weiß gekleideter Party People. Die Matrix-Idee erklärt Isabel, die im Werbeclip-Paradies eine Wissenschaftlerin ist, ihrem Freund mit der simplen Erkenntnis, dass man das Schlimme kennen muss, um das Gute zu schätzen. Doch natürlich hat Greg längst Sehnsucht nach der angeblich glücklosen Welt … Cahills Erzählung ist für die Zuschauer:innen zu verworren, die Figuren sind zu überspielt, um tatsächlich einzusteigen. Immerhin gelingt ihm eine subtile Reflexion zur Bedeutung von Drogen als Glückshafen. Denn bis zum Ende wird nicht klar, ob die Glanzwelt real oder nur in Gregs kristall-, also drogenumnachtetem Bewusstsein existiert.
 

Trailer: Glück | Bliss (Henrika Kull/Edition Salzgeber, 02.09.2021)



Auch Henrika Kull entwirft 2021 in ihrem Drama Glück zunächst eine illusionslose Umgebung, um die sich dort entwickelnde Idylle wirkmächtiger zu machen: Zwei Sexarbeiterinnen beginnen im Bordell eine zarte Freundschaft, die in eine Liebesbeziehung umschlägt und beide vor Herausforderungen stellt. Der intime, intensive Film bietet vielleicht das nüchternste und damit effektivste Glückskonzept. Und das, obwohl niemand auf der Leinwand glücklich aussieht.

Aber: „Glücklich ist nicht, wer anderen so vorkommt, sondern wer sich selbst dafür hält“, wusste Seneca. Andererseits war der römische Philosoph als Heuchler verschrien. Das Glück bleibt somit ambivalent.