Inside Hollywood – Spiegelbilder der Traumfabrik

Werner C. Barg

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Prof. Dr. Werner C. Barg ist Autor, Produzent und Dramaturg für Film und Fernsehen sowie Honorarprofessor im Bereich Medienwissenschaft der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF. An der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg leitet er in der Abteilung Medien- und Kommunikationswissenschaft den Ergänzungsstudiengang „Medienbildung“ des Zentrums für Lehrer*innenbildung (ZLB)

Nicht nur während der Zeremonie der Oscarverleihung bespiegeln sich die größte Entertainment-Industrie der Welt und ihre Stars selbst, auch in ihren Produktionen, in einigen Filmen und Serien, stehen neuerdings die Geschichte und Gegenwart Hollywoods noch stärker als früher im Mittelpunkt. Der Beitrag analysiert diesen Trend.

Online seit 12.04.2023: https://mediendiskurs.online/beitrag/inside-hollywood-spiegelbilder-der-traumfabrik-beitrag-772/

 

 

Regisseure in Hollywood wie Billy Wilder in Boulevard der Dämmerung (1950), David Lynch in Mulholland Drive (2001) oder zuletzt Alejandro González Iñárritu in Birdman oder (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit) (2014) reflektierten schon früher über die Lebens- und Arbeitsbedingungen in und am Rande der Filmproduktion in Hollywood. Diese Filme, nicht zu vergessen Robert Altmans The Player (1992), prägten einen spezifischen Erzählmythos von den Schattenseiten der sogenannten Traumfabrik. Es sind Geschichten um vergessene Stars, die ihrem früheren Ruhm nachtrauern und neu Tritt zu fassen versuchen, um junge Schauspielerinnen, deren Erfolgsträume brutal scheitern, oder über aalglatte Produzenten, die unter ökonomischem Druck stehen und dies ihre Umgebung eiskalt spüren lassen. Missgunst und Intrigen, Reichtum und Geldmangel, finanzielle und emotionale Abhängigkeiten und der Kampf um die eigene Karriere bestimmen die Motive der handelnden Figuren dieser klassischen „Inside Hollywood“-Filme.
 

Trailer The Player (Rotten Tomatoes Classic Trailer, 13.07.2014)



Aktuell stellen – nachdem das internationale Kino coronabedingt in die Krise geriet und zudem von der mächtigen Konkurrenz der Streamingdienste bedroht wird – eine ganze Reihe von US-Filmen und ‑Serien die Geschichte der Hollywoodproduktion, ihrer Krisen und ihrer Stars, in den Mittelpunkt. Im folgenden Beitrag wird daher der Frage nachgegangen, ob und inwieweit diese neuen Spiegelbilder Hollywoods, die teilweise auch von der Streamingkonkurrenz Netflix produziert wurden, den filmhistorisch überlieferten Erzählmythos lediglich bedienen oder ob sie der Selbstbespiegelung Hollywoods neue Facetten aus aktuellen, gesellschaftspolitisch gewandelten Perspektiven hinzufügen.

Denn: Der Missbrauchsskandal um den einflussreichen Produzenten Harvey Weinstein sowie die Aufdeckung zahlreicher weiterer Fälle von sexueller Ausbeutung und sexualisierter Gewalt im Zuge der #metoo-Debatte hat das überkommene Produktionssystem Hollywoods erschüttert. Mehr Regisseurinnen und Schauspielerinnen treten nun selbstbewusster auf, erobern sich mehr Raum in der Produktion. Der einst von der Filmwissenschaftlerin Laura Mulvey (1989) geprägte Begriff des „male gaze“, jenes Blicks im Kino, der männliche Schaulust dadurch befriedigt, dass weibliche Figuren ausschließlich als Objekt sexueller Begierde betrachtet werden, wird stärker genutzt, um die Darstellungen von Frauen- und Männerbildern im Hollywoodfilm kritisch zu prüfen und zu hinterfragen.

Zudem fokussieren viele Serien der Streamingdienste ihre Inhalte auf die Darstellung neuer Rollenbilder, stellen Transpersonen und multisexuelle Beziehungen in den Mittelpunkt ihrer Erzählungen. Wirken alle diese Wandlungen und Veränderungen in den neueren Produktionen, die die Innensicht Hollywoods zeigen, schon nach?
 

Kings of Hollywood

Für die Filmkomödie Kings of Hollywood (2020) in der Regie von George Gallo kann man die Frage getrost verneinen. Gallos Film blendet zurück in das Jahr 1974. Nicht nur die Branche im Allgemeinen, auch die Produzenten Max Barber (Robert de Niro) und sein Neffe Walter Creason (Zach Braff) im Besonderen stecken mit ihrer Produktionsfirma Miracle Motion Pictures in der Krise. Fundamentalistische christliche Gruppen demonstrieren gegen ihren aktuellen Horrorfilm und blockieren die Zugänge zu den Kinos. Der Film, der u. a. Nonnen zeigt, die Menschen zerstückeln, wird ein Flop. Daher kann Barber die 350.000 Dollar, die er sich von dem mafiösen Reggie Fontaine (Morgan Freeman) für die Filmproduktion geliehen hat, nicht zurückzahlen.

Von Fontaine unter Druck gesetzt, kommt Barber aufgrund eines unglückseligen Zwischenfalls, den sein Partner Creason am Set eines konkurrierenden Produzenten auslöst, auf die zynische Idee, einen neuen Film nur zu dem Zweck zu produzieren, den Hauptdarsteller am Set durch einen fingierten Unfall zu töten, um anschließend die hohe Versicherungssumme zu kassieren, die er vor Drehbeginn für seinen Star abgeschlossen hat. Als Opfer wählt Barber den alternden Westernstar Duke Montana (Tommy Lee Jones) aus. Fontaine ist mit dem Deal einverstanden. Barbers Partner Creason erfährt nichts davon. Er brennt für den Film, bei dem die junge Regisseurin Megan Albert (Kate Katzman) Regie führt. Während Walter davon träumt, einen Kassenschlager und Oscarfilm zu produzieren, setzt Max alles daran, seinen Hauptdarsteller umzubringen. Doch der geht nicht tot.
 

Trailer Kings of Hollywood (KinoCheck, 21.12.2020)



Gallos Persiflage auf die Hollwoodproduktion vergangener Tage ist vor allem eine großartige Spielfläche für seine drei Alt-Stars: De Niro brilliert als verschlagen-verdruckster, quirlig-quasselstrippiger Filmimpresario, Tommy Lee Jones hat sichtlich Spass am Comeback seiner Figur als verwegener Westernheld, und Morgan Freeman weiß mit wenigen markanten Gesten und Blicken die Gefährlichkeit seiner mephistolischen Gangsterfigur zu betonen. Einzig, dass eine Frau gegen den Willen der Produzenten, aber auf Wunsch des Hauptdarstellers, Regie führt, kann als schwacher Nachhall aktueller Genderdebatten in Gallos Film gewertet werden.
 

Once Upon a Time … In Hollywood

Ähnlich sieht es aus in Es war einmal … in Hollywood, dem neunten Spielfilm von Quentin Tarantino. Er eröffnete 2019 den aktuellen Reigen von Hollywoods Innensichtfilmen und hat gleichfalls die Studiokrise in Hollywood als historischen Hintergrund, spielt allerdings im Jahr 1969, dem Jahr, in dem das Massaker der Hippiegruppe um Charles Manson an der schwangeren Schauspielerin und Polanski-Ehefrau Sharon Tate und ihrer Freunde in der Villa Roman Polanskis Hollywood erschütterte.

Tarantinos Rückschau ist hauptsächlich darauf angelegt, den im Film anfangs angedeuteten Bezug zum Manson-Massaker nicht darzustellen und damit die durch die Vorpresse (Milpetz 2017; Kit 2017) zum Film und durch den Anfang der Filmerzählung selbst geschürten Zuschauererwartungen nicht zu erfüllen oder besser: anders zu erfüllen als erwartet: In der Schlussszene präsentiert der Film eine sehr blutige Gewaltorgie mit typischem Tarantino-Touch in der Villa der Hauptfigur, dem Ex-Western-Star Rick Dalton (Leonardo DiCaprio). Die Gewaltdarstellung ist – wie so oft bei Tarantino – surreal überhöht und ins Groteske gesteigert. Wenn Dalton schließlich eine der Hippie-Einbrecher mit einem Flammenwerfer in seinem Pool abfackelt, erreicht Tarantinos Gewaltfantasie ihren Höhepunkt und belegt den märchenhaften Charakter seines Films.
 

Trailer Es war einmal … in Hollywood (KinoCheck, 20.03.2019)



Die Szene zitiert zudem die Mordszene am Pool in Wilders Boulevard der Dämmerung, so wie Tarantino in seinem Hollywood-in-Hollywood-Film ohnehin einen Heidenspaß daran hat, mit seiner Starbesetzung typische Standardsituationen aus dem Western nachzudrehen oder legendäre TV-Serien zu reenacten. Bedient werden die klassischen Klischees vom guten Kopfgeldjäger oder vom bösen Desperado. Einzig in der Szene, in der Dalton in einer Drehpause in seinem Trailer einen Tobsuchtsanfall erleidet, weil er bei den Dreharbeiten zuvor Passagen seines Textes vergessen hatte, zeigt Tarantino, wie es hinter den Rollenklischees wirklich aussieht, wie die Fassade des weiter um Anerkennung ringenden einstigen TV-Stars bröckelt, weil Verzweiflung und Selbsthass wegen seiner Alkoholsucht an ihm nagen. Das ist von DiCaprio grandios gespielt, weist über die Erzählstandards gebrochener Schauspielerfiguren früherer Inside-Filme aber nicht hinaus. Brad Pitts Figur des Stuntmans Cliff Booth hätte ein stärkerer Ansatz sein können, die prekäre Seite der Hollywoodproduktion zu zeigen. Doch die armseligen Verhältnisse, in denen Booth mit seinem Kampfhund in einem Trailer am Stadtrand von Los Angeles hinter einem Autokino haust, werden nur in einer Szene angedeutet.
 

Die Errettung männlicher Schaulust

In seiner Lust am Zitieren stellt Tarantino auch seine Figur der Sharon Tate als bloßes Klischee der authentischen Person, als Schauspielersternchen und typisches Glamourgirl der 1960-Jahre dar: sexy, selbstverliebt, luxusorientiert und vergnügungssüchtig. Der Kamerablick von Altmeister Robert Richardson klebt oft am Saum des Minirocks, in dem Tate-Darstellerin Margot Robbie durch die Straßen von Los Angeles flaniert, oder fokussiert auf ihre Beine. Diese sexualisierenden Kameraufnahmen entsprechen dem Frauenbild im Hollywoodfilm jener Jahre, das Mulvey zu Recht kritisiert hat.

Tarantinos Rückschau lässt den „male gaze“ jener Zeit aber einfach unkritisch wiederauferstehen. Sein Versuch, die sexuell aufgeladene Ikonisierung seiner Frauenfigur zu brechen, wirkt hilflos, etwa, wenn er die schnarchende Tate morgens im Bett ihrer Villa zeigt, nachdem sie die Nacht zuvor auf einer hollywoodtypischen Pool-Party durchgetanzt hat. Und auch bei der Präsentation des Hippiemädchens Pussycat (Margaret Qualley), der zweiten Frauenfigur seines Films, ein Mitglied der „Manson Family“, bedient Tarantinos Film vordergründig männliche Schaulust. Er inszeniert sie als Lolita-Figur, die sich lasziv an der Autotür rekelt, bevor Cliff Booth sie als Anhalterin mitnimmt. Den Moment erotischer Verführung, den Pussycat wenig später im Auto aufzubauen versucht, bricht die Inszenierung allerdings durch Brad Pitts ironisches Spiel, wodurch Distanz zum Geschehen entsteht. So bleibt in dieser Szene Tarantinos Versuch, den zeittypischen „male gaze“ darzustellen, immerhin ambivent.
 

Hollywood Babylon

Dass Hollywoodregisseure ihre Review auf die Produktionsgeschichte der Traumfabrik auch ganz unverhohlen nutzen, um massenhaft szenische Anlässe für den „male gaze“ zu schaffen, zeigt der aktuelle Film von Damien Chazelle. Babylon – Rausch der Ekstase (2023) brilliert mit kameratechnisch aufwändigen, perfekt getimten und choreografierten Tanzszenen, in denen der für sein Filmmusical La La Land (2016) oscarprämierte Regisseur das ausschweifende Partyleben mit Sex, Drogen und lasziven Ausdruckstänzen im Hollywood der späten 1920er-Jahre wieder aufleben lässt.
 

Trailer Babylon – Rausch der Ekstase (KinoCheck, 13.09.2022)



Der Hollywood-Babylon-Vergleich ist inspiriert durch die Skandalchronik Hollywood Babylon (Anger 1975) des Underground-Filmers Kenneth Anger.

Da findet man so viele Ehe-, Trennungs-, Sex- und Drogen-Geschichten der Leinwandstars vom Kinoanfang bis zu Elizabeth Taylors Hochzeit in den siebziger Jahren, dass jedes voyeuristische Bedürfnis gestillt wird.“ (Cicero o. J.)

Inmitten dieser Exzesse von Sex, Gewalt, Skandal, Intrige, Verrat und Tod, lässt Chazelle in seinem Film wiederum Brad Pitt und Margot Robbie durch die Kulissen von Hollywood taumeln. Er spielt Jack Conrad, einen mehr oder weniger stets betrunkenen draufgängerischen Darsteller und Produzenten von Abenteuer- und Westernstreifen, der mit dem Beginn des Tonfilms seinen Ruhm verliert und Selbstmord begeht. Sie verkörpert Nellie LaRoy, eine junge Frau aus der Provinz, die mit allen Mitteln versucht, Schauspielkarriere zu machen, kurzzeitig als frivoles Sexsymbol einige Filmchen dreht und dann im Drogenrausch untergeht. Und schließlich ist da noch Manny Torres (Diego Calva), der in Hollywoods Studiosystem jener Tage vom Laufburschen zum Produzenten aufsteigt. Durch seine Liebe zu Nellie wird er in ihre Auseinandersetzung mit einem Mafiaboss (Tobey Maguire) verstrickt und muss schließlich aus Los Angeles fliehen, um sein Leben zu retten. Klischeehafter geht’s kaum. Und auch der besonders für viele Stummfilmstars schmerzhafte Übergang zum Tonfilm wurde in der oscargekrönten französischen Tragikomödie The Artist (2011) in der Regie von Michel Hazanavicius schon ungleich emotionaler und packender dargestellt.
 

Blond

Deutlich differenzierter geht der u. a. von Brad Pitt mitproduzierte Netflix-Film Blond (2022) mit jenem Abschnitt der Hollywoodgeschichte um, der sich auf die Biografie der Schauspielerin Marilyn Monroe bezieht. Regisseur Andrew Dominik inszeniert mit Ana de Armas in der Hauptrolle Monroes Biografie als düsteres Porträt der sexuellen Ausbeutung einer jungen Frau auf ihrem Karriereweg in die Hollywood-Studios.

Optisch eindrucksvoll zeigt Blond den psychischen Druck und die seelische Zerstörung, die Marilyn Monroe dadurch erfährt, im Blick der mehrheitlich männlich patriarchal geprägten Öffentlichkeit stets auf den Objektstatus als Sexsymbol reduziert zu bleiben und kaum als kluge intelligente Frau wahrgenommen zu werden, was Dominiks Film etwa in einigen Szenen der Ehe mit dem Schriftsteller Arthur Miller (Adrien Brody) andeutet. Zugleich liefert Dominiks Film den Versuch eines Psychogramms der weltberühmten Schauspielerin.

Es ist über weite Strecken fiktiv und stützt sich auf den Roman Blonde von Joyce Carol Oates (2000), in dem die Suche der Schauspielerin nach Glück, Liebe und Geborgenheit im Zentrum steht – Gefühle und Lebensumstände, die Norma Jeane Baker alias Marilyn Monroe zeitlebens weitgehend verwehrt blieben, nachdem sie –- so zeigt es der Film – eine schockreiche Kindheit durchleben musste, die durch die Abwesenheit des ihr stets unbekannt gebliebenen Vaters und durch die Unberechenbarkeit ihrer teils bösartigen, weil psychisch kranken Mutter geprägt war. Die Folgen dieses Kindheitstraumas zeigt der Film eindrücklich: Panikattacken und Angstzustände, schließlich Depressionen und Suizidgedanken, die Norma Jeane mit zunehmender Tablettenabhängigkeit und einer im Film sehr naiv dargestellten Hoffnung zu bekämpfen versucht, den eigenen Vater doch noch kennenlernen zu können.
 

Trailer Blond (Netflix Deutschland, Österreich und der Schweiz, 28.07.2022)



So deutlich Dominiks Film mit der Hollywood-Industrie abrechnet, die die labile Norma Jeane willfährig sexuell ausbeutet, so sehr kann der Regisseur der Versuchung dann doch nicht widerstehen, die männliche Schaulust zu bedienen und mit Ana de Armas etwa die Szene aus Billy Wilders Das verflixte 7. Jahr nachzustellen, in der Monroes Kleid über einem U-Bahnschacht hochweht und sie versucht, ihre Unterwäsche zu verbergen. Während die Schauspielerin in der Szene in Wilders Film den für die prüden 1950er‑Jahre frechen doppeldeutigen Satz sagt:

Oh, spürst du die Brise aus der U-Bahn? Ist es nicht köstlich“ (Inanc 2022),

versieht Dominik seine Nachstellung mit Musik und vergrößert den sexualisierenden Moment durch eine Wiederholung der Szene in vielen verschiedenen Einstellungsgrößen. Dass er anschließend eine Montage von lüstern geifernd glotzenden und klatschenden Männern zeigt, macht seine Darstellung des „male gaze“ zwar wiederum ambivalent, widerlegt aber keineswegs die These, dass Hollywood in seinen Produktionen die Rückschau auf die eigene Geschichte auch dazu benutzt, immer wieder das zu tun, was Kritik und Publikum in heutigen Produktionen kritisch hinterfragen: männliche Schaulust in patriarchal geprägten Filmen zu bedienen.
 

Die Serie Hollywood

Demgegenüber schauen Ryan Murphy und Ian Brennan, die Erfinder und Producer der Netflix-Miniserie Hollywood (2020), aus einer deutlich moderneren, die aktuellen identitätspolitischen Debatten reflektierenden Perspektive auf das „Goldene Zeitalter“ der Hollywoodproduktion der 1940er‑Jahre. Zentrale Protagonisten ihrer Serie sind sechs junge Leute im „Hollywoodland“ der späten 1940er‑Jahre.

Da ist der Kriegsveteran Jack Costello (David Corenswet), der jeden Tag mit hundert anderen vor den Toren der (fiktiven) ACE-Studios steht, ohne doch je eine Rolle ergattern zu können. Als die Geldsorgen zu groß werden, steigt der gutaussehende Jack bei Ernie West (Dylan McDermott) ein. Ernie betreibt von seiner Tankstelle aus einen schwunghaften Prostitutionsring mit jungen Männern, die reichen Produzentengattinnen und homosexuellen Regisseuren zu Diensten sind. Einer von Jacks „Tankwart“-Kollegen ist der schwule Drehbuchautor Archie Coleman (Jeremy Pope). Er verliebt sich in seinen „Kunden“ Roy Fitzgerald (Jake Picking), der ebenfalls auf eine Schauspielerkarriere hofft. Jack wiederum wird in Ernies Auftrag der Callboy von Avis Amberg (Patti LuPone), der Frau des mächtigen ACE-Studiobosses Ace Amberg (Rob Reiner). Dessen Producer Richard Samuels (Joe Mantello) und Ellen Kincaid (Holland Taylor) überzeugen Ace, das Drehbuch von Archie anzukaufen. Darin geht es um eine junge erfolglose Schauspielerin, die sich schließlich vom „H“ des Hollywood Signs in den Tod stürzt. Der junge Regisseur Raymond Ainsley (Darren Criss) soll das Drehbuch verfilmen. Während Raymond mit seinem nur leicht asiatischen Aussehen (seine Mutter ist Filipina) in Hollywood alle Türen offen stehen, hat seine Freundin, die Schauspielerin Camille Washington (Laura Harrier) in ihrer bisherigen Arbeit als Nebendarstellerin mit Demütigungen und rassistischen Anfeindungen zu kämpfen. Camille ist wie Archie People of Color.

Ungeschminkt zeigt die Serie Hollywood die offen rassistische Seite des „weißen“ Hollywood. Und sie zeigt auch, dass homosexuelle und multisexuelle Beziehungen nur heimlich und vor der Öffentlichkeit versteckt gelebt werden konnten. Henry Willson (Jim Parsons), wie manch andere Figuren in der Serie eine authentische Person, steht für diese Haltung. Roy gerät in die Fänge dieses – so zeigt es die Serie – zynischen, skrupellosen und intriganten Schauspielagenten. Willson, selbst homosexuell, verlangt für seine Unterstützung sexuelle Dienstleistungen von Roy, dem er schnell den Künstlernamen „Rock Hudson“ verpasst. Gleichzeitig verbietet er Rock den Besuch von Schwulenbars, wo Paparazzis ihn sehen könnten. Er zwingt Rock, seine Liebe zu Archie geheimzuhalten.
 

Trailer Hollywood (Netflix, 20.04.2020)



Doch die Serie verharrt im Verlauf der Handlung nicht allein bei einer Kritik der zeitgenössischen Sexualmoral, Rollenbilder und Beziehungsmuster. Vielmehr vollzieht die Handlung ungefähr am Midpoint der sieben Episoden umfassenden Staffel eine wundersame Wandlung: Ace erleidet einen Herzinfakt und seine Frau Avis übernimmt das Studio. Gegen alle Widerstände im eigenen Haus und ungeachtet der Drohungen rassistischer Gruppen, etwa des Ku-Klux-Klans, setzt sie das Drehbuch von Archie, der vorher noch wegen seiner Hautfarbe als Hauptautor des Buches ersetzt werden sollte, in der Regie von Raymond um. Er besetzt Camille für die Hauptrolle sowie Jack und Rock für wichtige männliche Rollen. Bei der 20. Oscarverleihung 1948 – und nun wird die Serie komplett märchenhaft – gewinnt Raymonds Film Meg alle wichtigen Oscars. Camille wird als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet; Meg wird zum Besten Film gekürt.
 

Der Traum von einer etwas anderen Traumfabrik

Geschickt gelingt es den Serienmachern historische Fakten und Personen mit fiktiven Figuren und schließlich märchenhaften Elementen zu verbinden. So inszenieren sie die 20. Oscarverleihung 1948 durchaus authentisch nach, zeigen im fiktionalen Reenactment einge der seinerzeit tatsächlich Nominierten und Preiträger, fügen dann aber wie selbstverständlich die fiktive Produktion Meg in die Darstellung der Zeremonie mit ein – eine bewusste künstlerische Überhöhung, wohlwissend, dass sich die historische wie gegenwärtige Realität in Hollywood ganz anders gestaltet: 1948 gewann die weiße Schauspielerin Loretta Young den Oscar als beste Hauptdarstellerin für den Film Die Farmerstochter. Und zum „Besten Film“ wurde die Daryl-F.-Zanuck-Produktion Tabu der Gerechten in der Regie von Elia Kazan gewählt. Kazan gewann für diesen Film 1948 auch den Regie-Oscar.

Bislang bekamen bis heute nur 17 afroamerikanische Schauspieler und Schauspielerinnen überhaupt einen Oscar (Lassonczyk o. J.). Hattie McDaniel gewann ihn 1939 erstmals als Beste Nebendarstellerin. Sie spielt, verkörpert von Queen Latifah, auch in Murphy/Brennans Serie eine kleine, aber gewichtige Rolle. Sidney Poitier war 1963 der erste schwarze Hauptdarsteller, der ihn bekam. Erst fast 40 Jahre später, 2002, wurde Halle Berry als erste afroamerikanische Schauspielerin für ihre Hauptrolle in Monster’s Ball ausgezeichnet. Und erst in diesem Jahr gewann mit Michelle Yeoh zum ersten Mal eine asiatische Schauspielerin den Oscar als Beste Hauptdarstellerin.

Auf dem Weg zu einer anderen Traumfabrik bleibt also noch viel zu tun. Einen Weg, um hierfür Aufmerksamkeit zu generieren, hat die Netflix-Serie eröffnet. Manche mögen jene märchenhafte Verknüpfung von Realität und Fiktion besonders im zweiten Teil der Miniserie als geschichtsklitternd empfinden. Indem die Serienmacher für die „Goldenen Jahre“ aber als Möglichkeit durchspielen, was sich als Realität bis heute in Hollywood nicht durchgesetzt hat, führen sie dem Publikum die überkommenen Privilegien von Whiteness eindrücklich vor. Sie appelieren daran, den von ihnen erzählten Traum einer multikulturellen und multisexuellen Gesellschaft nicht weiter zu träumen, sondern zu leben. Dem Publikum scheint dieser Gedanke zu gefallen. Die Produktion einer zweiten Staffel ist im Gespräch.
 

Quellen:

Anger, K.: Hollywood Babylon. Hamburg/Berlin 1975

Cicero: Kurz und Bündig. Kenneth Anger: Hollywood Babylon. Erster und Zweiter Akt. In: Cicero, o. J. Abrufbar unter: www.cicero.de/

Inanc, E.: Ministorys. So entstand dieses legendäre Foto von Marilyn Monroe. In: New York Aktuell, 15.03.2022. Abrufbar unter: newyorkaktuell.nyc

Kit, B.: Quentin Tarantino Prepping New Movie Tackling Manson Murders (Exclusive). The director is already meeting with A-list talent for the project. In: The Hollywood Reporter, 11.07.2017. Abrufbar unter: www.hollywoodreporter.com

Lassonczyk, T.: Mangelware: afroamerikanische Oscar-Gewinner. In: Lassos Kinoecke, Yahoo Movies, o. J. Abrufbar unter: yahoo-kino-de.tumblr.com

Milpetz, S.: Quentin Tarantino verfilmt die Manson-Morde. In: TV Spielfilm, 12.07.2017. Abrufbar unter: www.tvspielfilm.de

Mulvey, L.: Visual Pleasure and Narrative Cinema. In: Visual and Other Pleasures. Language, Discourse, Society. London 1989. Abrufbar unter: doi.org/10.1007/978-1-349-19798-9_3

Oates, J. C.: Blonde. A Novel. New York 2000