Jugendschutz. Absurder Streit statt verantwortungsvoller Zukunftsplanung

Joachim von Gottberg

Joachim von Gottberg ist Geschäftsführer der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) und tv-diskurs-Chefredakteur.

Das Inkrafttreten des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags am 1. Oktober 2016 nimmt Joachim von Gottberg zum Anlass, an alle Beteiligten in Institutionen des Jugendschutzes zu appellieren, sich nicht in kleinteiligen Kompetenzstreitereien zu verlieren, sondern den Blick auf die notwendigen Anpassungen in der Zukunft zu richten.

Printausgabe tv diskurs: 20. Jg., 4/2016 (Ausgabe 78), S. 1-1

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Es ist vollbracht: Am 1. Oktober 2016 ist der neue Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV) in Kraft getreten. Vorher gab es verschiedene Zitterpartien – in Schleswig-Holstein, so hörte man, wurde in letzter Sekunde noch auf ein Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes gewartet. Die Idee, ein Paket zu schnüren, in dem verschiedene Aspekte wie der Jugendmedienschutz und die Finanzierung des neuen Jugendangebots von ARD und ZDF namens funk verbunden werden sollten, ist vielleicht nicht ganz demokratisch, hat aber auf jeden Fall funktioniert. Gleichzeitig zeigt dies alles, wie schwierig es ist, innerhalb der Länder eine Einigung über die zukünftige Ausrichtung des Jugendschutzes zu erzielen. In der Öffentlichkeit steht das Thema seit einiger Zeit nicht mehr oben auf der Agenda, selbst beim Amoklauf von München im Juli 2016 blieb die Forderung nach schärferem Vorgehen gegen gewalthaltige Computerspiele sehr im Hintergrund. Welche Erklärungen gibt es für dieses zurückgehende Interesse am Jugendschutz? Ist es die Kapitulation gegenüber dem Internet, das praktisch alles, was wir im Kino, auf DVD oder im Fernsehen mit strengen Kriterien messen, mehr oder weniger offen und ungefiltert bereithält? Oder ist bei vielen Eltern der Eindruck entstanden, dass trotz zunehmender Verfügbarkeit nahezu aller Inhalte ihre Kinder immer noch recht friedlich und verträglich sind?

Niemand kennt die wirklichen Gründe für das scheinbar nachlassende Interesse. Doch muss man konstatieren, dass die Performance der Akteure und Aufsichtsbehörden für den juristisch wenig gebildeten Menschen weder nachvollziehbar noch verständlich ist. Ob für die Freigabe von DVDs, die zugunsten von Onlinevideotheken ohnehin ihre besten Zeiten hinter sich haben, ein Bundesgesetz oder ein Staatsvertrag der Länder als Grundlage gelten soll, trifft wahrscheinlich nicht den Kern des Interesses durchschnittlicher deutscher Eltern und Jugendlicher. Wie bereits mehrfach berichtet, scheint diese praktisch völlig unerhebliche Frage aber derzeit die Aktivitäten des Jugendschutzpersonals in hohem Maße zu beanspruchen. Wo liegt der Sinn der komplett unterschiedlichen Regelungsdichte zwischen Mediennutzungsformen – die sich vor allem bei Jugendlichen unverkennbar auf dem absteigenden Ast befinden, aber ohne Freigabe nach dem Jugendschutzgesetz (JuSchG) auch dann für Jugendliche nicht zugänglich sein dürfen, wenn es sich um Kinderfilme handelt – und dem zunehmend genutzten Onlineangebot, in dem selbst ein offensichtlich nur für Erwachsene freizugebender Film Pi mal Daumen durch den Anbieter selbst gekennzeichnet werden kann? Diese Frage ist vermutlich zu tiefsinnig, um in das Blickfeld der Behörden zu gelangen.

Jeder, der einmal versucht hat, die aktuellen Jugendschutzgesetze und deren Ausführungsbestimmungen nebst den zwei Aufsichtsbehörden und den vier Selbstkontrollen, die sich aber z.T. mit denselben Inhalten beschäftigen, in einem Seminar vor 20-Jährigen vorzustellen, weiß, welch ungläubiges Staunen einem begegnet – verbunden mit dem offensichtlichen Zweifel, ob man all das wirklich ernst meint. Dabei ist die Akzeptanz einer werteorientierten Einschätzung samt Bewertung des Wirkungsrisikos durchaus vorhanden. Der inhaltliche Diskurs über Medienwirkungen und den Einfluss von Internet und Smartphones auf die Identitätsbildung und Freizeitgestaltung von Kindern und Jugendlichen stößt auf hohes Interesse. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass viele Jugendliche und junge Erwachsene ihren eigenen Medienkonsum als problematisch empfinden und das Gefühl haben, durch die hohe Medienzeit reale Freizeitaktivitäten zu vernachlässigen. Während Eltern vor einigen Jahren noch mit der Frage, ob die Darstellung von Sexualität oder Gewalt für ihre Kinder abträglich sein könnte, auf Veranstaltungen zu locken waren, so steht heute die ständige Präsenz vor allem des Smartphones bei fast allen Freizeitaktivitäten im Vordergrund der elterlichen Sorge, begleitet von der quälenden Frage: Soll man das hinnehmen oder es durch strenge Regeln einschränken?

Die Institutionen des Jugendschutzes scheinen sich durch kaum mehr nachvollziehbare Querelen und Streitereien über Durchwirkungsregelungen derzeit selbst ins Abseits zu schießen. Daher mein Appell: Wir sollten den Streit um Kleinigkeiten beilegen und uns auf die eigentlichen Fragen konzentrieren, die sich in Zukunft stellen werden. Dazu gehören Fragen wie: Was können wir dazu beitragen, dass die rasante mediale Entwicklung einigermaßen sozialverträglich verläuft? Welche Grenzen sollte es wo geben? Sollten wir uns nicht besser auf die völlig unzulässigen Inhalte konzentrieren und in anderen Bereichen durch Informationen oder Empfehlungen die Eltern unterstützen? Hierauf Antworten zu finden, ist nicht leicht. Aber der Diskurs darüber sollte eigentlich im Zentrum unserer Bemühungen stehen

Ihr Joachim von Gottberg