Kolumne: Der Friedhof des Internets
Kürzlich war ich auf dem Friedhof. Es brannten keine Kerzen, es gab auch keine Grabsteine, nicht einmal ein Ort, um Blumen abzulegen, war vorhanden. Dieser Friedhof ist das Internet: ein toter Ort, eine Gruft, ein Mausoleum. Beerdigt sind dort unsere Träume vom demokratischen Medium, vom egalitären Austausch, von Kommunikationsfreiheit. Ich meine damit nicht, dass das Internet eine krumme Entwicklung genommen hätte, falsch abgebogen wäre. Nein, für das Internet gilt, was für alle viel zu früh Verstorbenen gilt: Es ist einfach weg, hat sich in Luft aufgelöst, und an dem Ort, an dem wir uns an die schöne Leiche erinnern, tun frustrierte Gärtner lustlos ihre Arbeit.
16 Mio. „.de-Domains“ gab es. Man hätte dort Nachrichten und investigative Geschichten lesen können, man hätte dort Designerturnschuhe oder gehäkelte Topflappen bestellen können, man hätte sich dort über Parteiprogramme oder die abendlichen Kinovorstellungen informieren können – und das von überall aus und zu jeder Zeit. Hätte, hätte, Fahrradkette. Eigentlich eine hübsche Idee, dieses Internet.
Denn niemand tut es. Diese Millionen von „.de-Domains“ sind verwaist, nicht einmal Kuscheltiere treiben sich noch auf diesem Friedhof herum. Und das ist keine Polemik oder Hypothese, sondern das Ergebnis einer empirischen Erhebung. Der Medienwissenschaftler Martin Andree konnte zum ersten Mal in einer Sekundäranalyse auf die Daten des Onlinepanels der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) zurückgreifen und auf diese Weise analysieren, wie lange die Nutzer:innen tatsächlich pro Monat bestimmte Internetangebote nutzen. Das Ergebnis ist extrem frustrierend:
Eines der meistgenutzten deutschsprachigen Internetangebote, die Nachrichtenseite „spiegel.de“, kommt nur auf eine durchschnittliche Nutzungszeit von 18 Minuten – pro Monat!
Das ist nur etwas mehr als eine halbe Minute pro Tag. Genauso verheerend sieht es bei anderen qualitätsjournalistischen Angeboten im Netz aus. Auch „tagesschau.de“ schafft nur 20 Minuten Nutzungszeit – monatlich. Ähnlich erbärmlich sehen auch die Nutzungszeiten etwa von „sueddeutsche.de“ aus, hier kommt nur noch eine Nutzung von 9 Minuten im Monat (oder 17 Sekunden am Tag) heraus. Auch jenseits des Journalismus ist die Nutzung von Internetseiten abseits der großen Techfirmen jämmerlich niedrig: Egal ob die Webseiten von globalen Markenherstellern oder von Bloggern, von Parteien oder Vereinen, von NGOs oder von Privatpersonen: Die Nutzung fällt gemessen an der jeweiligen Verweildauer der Rezipient:innen schlechterdings nicht ins Gewicht. Martin Andree bringt es auf den Punkt: „Wir haben es mit einer völlig toten Wüstenlandschaft zu tun.“ Seine Schlussfolgerung:
Es ist […] völlig egal, ob Anbieter noch Inhalte auf die registrierten 16 Millionen Domains stellen.“
Aber es gibt doch diese Studien, dass die Internetnutzung jedes Jahr noch weiter zunimmt, und in der Straßenbahn sieht man doch fast ausschließlich Leute, die auf ihre kleinen tragbaren Displays starren, wird der eine oder die andere einwenden. Das stimmt, aber die gesamte Nutzungszeit wird von wenigen Monopolisten abgegriffen, vor allem den US-amerikanischen Big-Tech-Konzernen. Namentlich die US-Tech-Konzerne Google, Amazon, Meta und Apple dominieren das Internet. Heute liegt der Marktanteil der Google-Suchmaschine zwischen 80 und 90 %. YouTube führt das Ranking der meistbesuchten Internetseiten in Deutschland mit weitem Abstand an. Die ersten zehn Plätze in dieser Rangliste gehen praktisch ausschließlich an die Onlineangebote der US-amerikanischen Big-Tech-Konzerne. Allein Google (bzw. Alphabet) und Facebook (Meta) bündeln mehr als ein Drittel der gesamten digitalen Aufmerksamkeit aller digitalen Player zusammengenommen. Aus Deutschland schafft es nur „web.de“ unter die Top Ten.
Grund dafür sind eine ganze Reihe von Tricks, die Big-Tech-Konzerne verwenden, um die Konkurrenz aus dem Markt zu drängen. Andree nennt diese „Flywheel der kollektiven Verarschung”. Dazu zählen die geschlossenen Systeme der Social-Media-Apps, In-App-Browser und die Verhinderung von Outlinks, mit denen die User auf Angebote außerhalb der Big-Tech-Apps kommen können, eine von Algorithmen gesteuerte Nutzerführung, kriminelle Traffic-Manipulationen, die krasse Bevorzugung der eigenen Angebote und die datenschutzfeindliche Monopolisierung der Nutzerdaten.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Big-Tech-Konzerne die Nutzungsbedingungen weitgehend autonom festlegen können und damit eine Art „Privatisierung des Rechts“ (Andree) betreiben:
Auch Streitfälle z. B. auf dem Amazon-Marketplace fallen dann nicht mehr unter nationales Recht, sondern werden nach den privaten Vorlieben des Plattformbetreibers geregelt.
Nicht nur auf nationaler, sondern auch auf internationaler Ebene ist die Lösung des Problems in weiter Ferne. Auf europäischer Ebene etwa konnten auch die in jüngster Vergangenheit erlassenen Rechtsvorschriften zur Medienregulierung wie der Digital Services Act oder der Digital Markets Act an der Kartellisierung und Monopolisierung des Internets in Europa nichts ändern.
Gleichzeitig nimmt die Nutzung klassischer Medien stark ab: Wir berauben uns also selbst demokratischer Möglichkeiten der Informationsgewinnung und der medialen Partizipation, nur um unsere Hoffnungen auf ein kommunikatives Miteinander in einen Friedhof zu setzen. Die Konsequenzen für Demokratie und Gemeinwesen liegen auf der Hand. Diese klassischen Informationsmedien haben indes schon wirtschaftlich gegen die Techmonopolisten keine Chance mehr, denn auch den (digitalen) Werbemarkt haben sie unter sich aufgeteilt, und die Hoffnungen auf ein noch so kleines Stück vom Kuchen sind so groß wie die Wahrscheinlichkeit, dass Deutschland Fußballeuropameister wird.
Davon haben wir nichts gewusst? Wie auch, journalistische Medien erzählen uns diese Geschichte nicht, denn es ist die Geschichte ihres eigenen Versagens. Wir hätten es aber wissen können: Jaron Lanier benannte schon 2018 „Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst“, und Schlecky Silberstein mahnte ein Jahr später:
Das Internet muss weg“.
„Internet? Gibt es den Blödsinn immer noch?“ hat Homer Simpson einst im Fernsehen gefragt. Heute kennen wir die Antwort: nein.