„Küss mich, als wär‘s das letzte Mal!“

Die erstaunliche Geschichte des Filmkusses

Hektor Haarkötter

Dr. Hektor Haarkötter war Journalist und TV-Regisseur. Heute ist er Professor für Kommunikationswissenschaft mit Schwerpunkt politische Kommunikation an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg. Außerdem engagiert er sich ehrenamtlich als geschäftsführender Vorsitzender der Initiative Nachrichtenaufklärung (INA) e.V.

Während Filmküsse früher noch einen Skandal provozierten, sind sie heute selbstverständliche Filmszenen. Der folgende Beitrag zeigt die Anfänge dieses Phänomens und seinen Einfluss auf die Filmgeschichte: vom ersten Kuss, der bei vielen Zuschauenden Ekel und gleichzeitig Faszination hervorrief, bis zur ikonischen Szene in Casablanca.

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„Absolut ekelerregend!“ Das war das Verdikt des US-amerikanischen Filmkritikers Herbert S. Stone im Chicagoer „The Chap-Book“, als er den ersten Filmkuss auf der Leinwand gesehen hatte. Der Anblick der küssenden Münder habe ihn tief verletzt. Der frühe amerikanische Filmkritiker ereiferte sich, dass schon in Lebensgröße das „gierige Abgrasen der Lippen des anderen“ (zit. n. Musser 2005, S. 29) kaum zu ertragen sei. Durch die Nahaufnahme zu gargantuesken Proportionen vergrößert sei die medial vermittelte Knutscherei aber unerträglich. Und er war nicht der Einzige, der damals, im Jahr 1896, entsetzt war. Es soll sogar Stimmen gegeben haben, die nach der Polizei verlangten, um dem Treiben der küssenden Filmleute auf der Leinwand ein Ende zu bereiten!
 

Was war geschehen?

Das Kino war erfunden worden, jene grandiose Erfindung der beiden französischen Brüder, die nicht nur dieses neuartige Lichtspiel entwickelt hatten, sondern auch noch den so unfassbar passenden Namen Lumière wie „Licht“ trugen. Kaum war das Kino in den Vorstadtsälen und Nebenstraßenetablissements angekommen, da wurde auf der Leinwand, die die ganze Welt in Übergröße zeigt, auch schon geküsst. Der erste Filmkuss allerdings ereignete sich gerade nicht in Frankreich, sondern in den USA. Der Erfinder Thomas Alva Edison hatte ein eigenes Gerät auf den Markt gebracht, das Kinetoskop, eine Art Guckkasten für bewegte Bilder. Er merkte aber schnell, dass sein Gerät mit der französischen Entwicklung des auf eine Leinwand projizierten Zelluloidfilms nicht mithalten konnte. Darum adaptierte er den französischen Kinematografen und produzierte mit seiner eigens gegründeten Firma Vitascope dafür Filme.

Nun brauchte es nur noch ein zugkräftiges Programm. William Heise, der Produktionsleiter der neu gegründeten Filmproduktionsfirma, hatte gerade ein damals populäres Broadway-Musical mit dem Titel The Widow Jones gesehen. Das Musical endete mit einem Bühnenkuss zwischen der Hauptdarstellerin May Irwin, einer kanadischen Sängerin, die im Vaudeville-Theater und in Broadway-Musicals zu einem frühen Star der Unterhaltungsindustrie geworden war, und ihrem Bühnenpartner John C. Rice. Filmproduzent William Heise wollte allerdings nicht das gesamte Musical verfilmen, weil das Filmen damals technisch noch sehr stark limitiert war. Es gab noch keine Möglichkeit des Filmschnitts, sodass ein Werk von vornherein auf die Länge einer einzigen Filmrolle beschränkt war. Heise konzentrierte sich darum ausschließlich auf die Schlussszene des Musicals, nämlich den Kuss. Der Film dauerte nur rund 30 Sekunden, wenig mehr als 15 Meter Filmmaterial. Man sieht, in schwarz-weiß, wie May Irwin und John C. Rice erst die Wangen aneinanderreiben, sich dabei weiter unterhalten und schließlich für wenige Sekunden die Lippen vollends aufeinanderdrücken. Sie versuchen selbst dabei noch weiterzureden, was schon deswegen verzweifelt wirkt, weil es sich um einen Stummfilm handelt.
 

Ein Skandal mit Vorgeschichte

Was man nach heutigen Maßstäben als äußerst verunglückten Kuss ansehen würde, reichte 1896 für einen veritablen Skandal. Die Zeitung „New York World“ sezierte in einem Artikel mit dem Titel The Anatomy of a Kiss die Filmszene, ließ mehrere Film-Stills nachzeichnen und präsentierte sie ihren Leserinnen und Lesern in großen Abbildungen. Der US-amerikanische Filmhistoriker Charles Musser geht sogar davon aus, dass der Film The Kiss ursprünglich gar nicht für eine Vorführung vor Publikum gedacht gewesen sei. Es habe sich vielmehr um eine Werbeaktion in besagter Tageszeitung zur Feier der 200. Aufführung des Musicals gehandelt. Die Öffentlichkeit sei erst durch diese Publikation mit den ungewöhnlichen Zeichnungen auf den Film aufmerksam geworden. Auch sei die Kussszene in The Widow Jones dem Broadwaypublikum gar nicht sonderlich aufgefallen.
 

New York World: The Anatomy of a Kiss (1896)


 

Es gab allerdings in der Zeit um und vor 1896 eine gewisse öffentliche Aufmerksamkeit für die Kussthematik. Musser erwähnt hier etwa Edvard Munchs Gemälde Der Kuss von 1892 oder Auguste Rodins Skulptur Der Kuss von 1896. In den USA lag es aber vor allem an einer Carmen-Inszenierung mit der britisch-spanischen Schauspielerin Olga Nethersole, die kurz vor dem ersten Filmkuss die Gemüter erregt hatte, dass das Thema ins öffentliche Bewusstsein drang. Die Schauspielerin tauschte darin „lange und leidenschaftliche Küsse“, und das auch noch mit wechselnden männlichen Bühnenpartnern, was zu intensiven Debatten unter Theaterkritikern, Leserbriefschreiberinnen und Kirchenoffiziellen führte. Im Vergleich zur Performance Nethersoles mit ihrem englischen Pass und ihrem mediterranen Temperament, deren Kussverhalten als „europäisch“ angesehen wurde, erschien das Bühnenküsschen zwischen Irwin und Rice noch „amerikanisch“, und das heißt zurückhaltend und schüchtern, zumal dieser Kuss züchtig die neuerliche Eheschließung einer Witwe besiegelte. Erst in der Großaufnahme auf der Leinwand bekam dieser Kuss eine Größe, die sich zu Bedeutung auswuchs.
 

The Kiss (Library of Congress, 11.12.2017)



Der erste Blockbuster der Kinogeschichte?

Gerade diese neue Technik der Großaufnahme machte sicherlich die enorme Wirkung von The Kiss aus: Auch an Bühnenküssen war zuvor Anstoß genommen worden. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es zum Beispiel am Königlichen Schauspielhaus in Hannover bei Strafe verboten, sich auf der Bühne zu küssen. Zuwiderhandlungen wurden mit 60 bis 100 Mark Strafe geahndet. Doch einen solchen Bühnenkuss sah man nur in einiger Entfernung, noch dazu war es bei vielen Schauspielerinnen üblich, den Daumen zwischen die Münder zu schieben, um zu verhindern, dass die Bühnensituation schamlos ausgenutzt würde. Viel zu sehen gab es also auf der Schauspielbühne eigentlich nicht. Anders im Film und in der vergrößernden Projektion auf eine Leinwand: Bei The Kiss hatten die Zuschauerinnen und Zuschauer den Eindruck, wirklich „the real thing“ zu erblicken – ein nachhaltiges Erlebnis. Die „New York World“ brachte es im Kommentar zu ihrer Bilderstrecke auf den Punkt:

Solche Bilder sind niemals zuvor aufgenommen worden. […] Die 15 Meter gefilmter Kuss bestehen aus sechshundert verschiedenen Ansichten. Es bräuchte ein halbes dutzend Zeitungsseiten, um diese langgezogene Küsserei abzudrucken“ (New York World 1896, S. 21).

Der Zeitungsartikel erschien am 26. April 1896. Die erste öffentliche Aufführung des Films erfolgte offenbar erst am 10. Mai, und das nur im Beiprogramm eines anderen Films. Erst durch das große Echo wurde The Kiss zum Headliner und machte national die Runde. Der Film wurde zur erfolgreichsten Vitascope-Produktion der 1890er-Jahre. Im Katalog von Edisons Firma wurde sie damit beworben, dass Der Kuss „jedes Mal stürmischen Beifall auslöste“ (zit. n. Musser 2005, S. 30). Wegen dieses enormen Erfolgs, der The Kiss zum vielleicht ersten Blockbuster der Kinogeschichte machte, fand die kleine Szene unzählige Remakes. Eines dieser Remakes fertigte Edisons Unternehmen sogar selbst an: In The Kiss, auch bekannt als The New Kiss, von 1900 halten die Küssenden sich nicht mehr züchtig bei der Hand, sondern küssen sich eng umschlungen.
 

The Kiss, 1900 (jenthesuperone , 15.07.2007)



Leinwandküsse: ein neues Sujet

Wer hinfort ins Kino ging, der wollte Küsse sehen. Mit der Entwicklung des Filmschnitts, also der Möglichkeit, mehrere Sequenzen aneinanderzuschneiden, war überhaupt erst die Erzeugung von Continuity möglich, also einer fortlaufenden Handlung, die aus aufeinanderfolgenden Episoden bestand. Und auch hier zählten Kussszenen zu den besonders beliebten Sujets, etwa George Albert Smiths Film The Kiss in the Tunnel (1899).

Mit der Weiterentwicklung des Films zu einem universellen Unterhaltungsmedium wurden auch die Möglichkeiten des Küssens auf der Leinwand immer weiter ausgelotet. In Alan Croslands Film über den Verführer Don Juan (1926), basierend auf dem Poem von Lord Byron, küsst John Barrymore in der Titelrolle seine wechselnden Filmpartnerinnen insgesamt 119 Mal. Dieser Film ist auch der erste, der mittels des damals neuartigen Vitaphone-Verfahrens das Filmgeschehen mit einer Orchestermusik nebst Begleitgeräuschen synchronisierte. Zum ersten Mal war damit ein Kuss auf der Leinwand auch hörbar. Im selben Jahr erschien der Film Flesh and the Devil (dt. Titel: Es war) mit Greta Garbo und John Gilbert. Das Hauptdarstellerpaar küsst sich nicht nur eng umarmend im Liegen, nein, sie haben dabei zum ersten Mal in der Filmgeschichte auch noch die Lippen geöffnet!
 

Greta Garbo and John Gilbert, Flesh and the Devil, 1962 (Jenny Grahn , 08.05.2012)



Schon 1930 im Film Morocco kommt es zum ersten gleichgeschlechtlichen Kuss in der Historie des Kinofilms. In dem Hollywoodstreifen von Josef von Sternberg, der zuvor in Deutschland mit seiner Hauptdarstellerin bereits Der Blaue Engel gedreht hatte, küsst Marlene Dietrich in Frack und mit Zylinder im Vorbeigehen eine Frau als Dank für eine Rose, die sie anschließend ihrem Filmpartner Gary Cooper überreicht. Dietrich, die in diesem frühen Tonfilm ihre erste englischsprachige Rolle spielte und damit sogleich für einen Oscar nominiert wurde, beherrschte die Fremdsprache zum Zeitpunkt der Dreharbeiten kaum und musste darum ihren Text phonetisch memorieren. Das Küssen hingegen musste nicht übersetzt werden. Für den Stummfilm war es darum wie geschaffen, ja, Küssen und Stummfilm haben gerade das gemeinsam: Beiden steht ausschließlich nonverbale Kommunikation zur Verfügung.
 

Der Filmkuss als Reminiszenz an den Stummfilm

Im Tonfilm ist der Kuss ein Überbleibsel der stummen Filmzeit und zeigt, was kommunikativ noch alles möglich ist, wenn das Drehbuch keinen Text mehr hergibt. Küssen ist die Grenze des Drehbuchs. Im Stummfilm unterbricht es die verbale Kommunikation nicht, weil es keine gibt. Der Tonfilm kehrt im Küssen wieder an seine Ursprünge zurück und wird zum Stummfilm. Der Kuss im (Stumm‑)Film ersetzt nicht den Sex, sondern den Dialog. Küssen ist purer Film, ist fürs Auge und für den Körper, für die Sinne und fürs Gefühl. Das macht die ganz besondere Funktion des Küssens fürs Kino aus. Küssen im Film wurde so wichtig, dass es manchmal reichte, das Wort im Filmtitel vorkommen zu lassen, um Menschen zum Kinobesuch zu bewegen. François Truffauts französischer Film Les Quatre Cents Coups erhielt darum den deutschen Titel Sie küßten und sie schlugen ihn.

Eine Befragung unter französischen Kinobesucherinnen und ‑besuchern zu den besten Filmküssen aller Zeiten brachte Filmklassiker auf die Spitzenplätze: An erster Stelle steht der Kuss von Clark Gable und Vivien Leigh in Vom Winde Verweht (1939). Platz zwei markieren Deborah Kerr und Burt Lancaster mit ihrem Kuss, den sie sich halbbekleidet am Strand in dem Film Verdammt in alle Ewigkeit geben. Dialog:

Noch nie hat mich jemand so geküsst wie du. 
Niemand? 
Niemand.“

Den dritten Platz belegen Ingrid Bergman und Humphrey Bogart mit ihrem Abschiedskuss in Casablanca: „Küss mich, als wär’s das letzte Mal!“


Die Grenzen des Küssbaren

Schon zur Stummfilmzeit sahen konservative Kreise, kirchliche Verbände und andere Moralhüter durch das Treiben auf der Leinwand wie auch durch das Treiben der Leinwandhelden im richtigen Leben die guten Sitten bedroht. In Deutschland wurde 1926 vom Reichstag ein „Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften“ erlassen, das explizit auch Kinofilme erfasste. Auffälligerweise definiert dieses Gesetz überhaupt nicht, was unter Schund und Schmutz genau zu verstehen sei. In den USA war es der berüchtigte Hays-Code, benannt nach dem Präsidenten der Filmorganisation zur Selbstkontrolle, der Motion Picture Producers and Distributors of America, Inc. (MPPDA), Will H. Hays, der bis in die 1960er-Jahre reglementierte, was auf der Leinwand gezeigt werden durfte und was nicht, und dadurch ein strenges Kussregime etablierte.

Beim Ausloten, was diesseits und jenseits dieses Codes mit dem Leinwandkuss noch alles möglich ist, hat Hollywood die Grenzen des Küssbaren weit nach außen verschoben. Der erste Kuss zwischen zwei Männern ereignete sich 1971 im Film Sunday Bloody Sunday. Im selben Jahr kam Harold and Maude ins Kino und zeigte das küssende Paar mit der größten Altersdifferenz (59 Jahre). Diskussionen gibt es darüber, welcher der längste Kuss der Filmgeschichte sei. Lange lag You’re in the Army now (1941) vorn, in dem Jane Wyman und Regis Toomey sich 185 Sekunden lang küssen. Getoppt wird dies allerdings vom Film Kids in America aus dem Jahr 2005: Hier küssen sich Stephanie Sherrin und Gregory Smith unter dem Abspann am Ende des Films sage und schreibe 5 Minuten und 43 Sekunden. Zählt man Küsse unter Abspännen nicht mit, dann hielte der Film Elena Undone von 2010 den Rekord mit einem Kuss, der 3 Minuten und 24 Sekunden andauert.
 

Sunday Bloody Sunday (criterioncollection, 25.10.2012)



Die neue Normalität des Küssens

Über solche kreativen gestalterischen Lösungen ist das Küssen vielleicht nicht mehr hinausgekommen. Die filmischen Möglichkeiten der Darstellung des Küssens sind womöglich ausgeschöpft. Es gebe nichts weniger Aphrodisisches als Liebes- und Kussszenen vor der Kamera, meinte schon Brigitte Bardot: „Es ist, wie wenn man mit einem Polizisten schläft, der den Verkehr an der Place de la Concorde regelt“ (Vadim 1987, S.­ 105 f.).

Offiziell galt der Hays-Code bis 1967. Doch schon seit Ende der 1950er-Jahre spielte er in Hollywood keine große Rolle mehr. Dokumentarische Filmstoffe, die sich stärker an realen Alltagsproblemen orientierten, und der allgemeine Zeitgeist zwischen Rock ’n’ Roll und Hippiebewegung ließen ihn zunehmend obsolet erscheinen. Eine neue Explizitheit in der Leinwanddarstellung nahm aber auch dem Küssen selbst viel von seinem ursprünglichen Kinozauber. Seitdem gehen Leute vielleicht noch zum Küssen ins Kino, aber nicht mehr wegen der Küsse.
 

Anmerkung:

Dieser Beitrag beruht inhaltlich auf dem Buch des Autors Küssen. Eine berührende Kommunikationsartv (Frankfurt a.M. 2024).


Literatur:

New York World: The Anatomy of a Kiss. In: ebd., 26.04.1896, S. 21

Musser, C.: A Cornucopia of Images: Comparison and Judgment across Theater, Film, and the Visual Arts during the Late Nineteenth Century. In: N. M. Mathews (Hrsg.): Moving pictures. American art and early film 1880–1910. Manchester 2005. S. 5–38

Vadim, R.: Meine drei Frauen. Bardot, Deneuve, Fonda. München 1987