Komik und Kritik

Das französische Komödienwunder

Werner C. Barg

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Prof. Dr. Werner C. Barg ist Autor, Produzent und Dramaturg für Film und Fernsehen sowie Honorarprofessor im Bereich Medienwissenschaft der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF.

Ab 6. Juli 2023 ist der neue Film von François Ozon in den deutschen Kinos zu sehen. Mein fabelhaftes Verbrechen zeigt erneut, dass es der französische Film seit mehr als einem Jahrzehnt versteht, mit immer neuen und originellen Geschichten Komödie und Gesellschaftskritik zu verbinden. Der nachfolgende Beitrag zeichnet diese Entwicklung sowohl historisch als auch filmästhetisch nach.

Online seit 06.07.2023: https://mediendiskurs.online/beitrag/komik-und-kritik-beitrag-772/

 

 

Der großartige Jacques Tati und seine absurden Alltagskomödien, der quirlig-enervierende Louis de Funès und seine hysterisch überdrehten Screwballkomödien oder Pierre Richard als trotteliger Musiker in Yves Roberts Agentenfilm-Parodie Der große Blonde mit dem schwarzen Schuh (1972) – diese Produktionen und Schauspieler waren einst Ikonen des komischen französischen Films. In den 1980er und 1990er Jahren beherrschten in Frankreich andere Genres wie Action, Thriller und Melodram das Kino, mit Regisseuren wie Luc Besson, Jean-Jacques Beineix oder Leos Carax. Anfang des neuen Jahrtausends brachten die Realverfilmungen der legendären französischen Asterix-und-Obelix-Comics die Kinozuschauer in ganz Europa zum Lachen.

Mit François Ozons Musical-Komödie 8 Frauen (2002) oder Michel Hazanavicius‘ James-Bond-Parodien um den chaotischen Geheimagenten OSS 117 2006/2009) gab es erste Ansätze, frühere Komödientraditionen des französischen Films wiederzubeleben. 2009 kam mit Radu Mihăileanus Film Das Konzert dann eine französische Produktion in die Kinos, die sich zu einem weltweiten Publikums- und Kritikererfolg entwickelte. 2010 als Bester Film mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichnet, wurde Das Konzert als Bester fremdsprachiger Film für die Golden Globe Awards nominiert. Der Film begründete eine mittlerweile mehr als ein Jahrzehnt anhaltende neue Welle französischer Komödien, in denen aktuelle gesellschaftspolitische Themen in amüsanter Weise mit den Geschichten der Figuren verwoben sind. Mal humorvoll-augenzwinkernd, mal bissig, satirisch und ironisch halten diese, im eigenen Land wie auch international sehr erfolgreichen Gesellschaftskomödien das Publikum zu einem kritischen Blick auf die Zeitläufte an.
 

Trailer Das Konzert (LEONINE Studios, 22.04.2010)



Das Konzert – Prototyp einer neuen französischen Gesellschaftskomödie

Mihăileanus Film hat die gesellschaftliche Situation im postkommunistischen Russland zum Ausgangspunkt. Andrei Filipov (Alexei Guskov) arbeitet als Putzmann im Bolschoi-Theater in Moskau. Als er das Büro des Chefs reinigt, kommt gerade ein Fax an, in dem das Pariser Théâtre du Châtelet anfragt, ob das Bolschoi-Orchester kurzfristig für ein anderes Orchester einspringen könne. Andrei nimmt das Fax an sich. In der kommunistischen Breschnew-Ära wurde seine Karriere als renommierter Dirigent und Leiter des Bolschoi zerstört. Er hatte sich geweigert, jüdische Musiker zu entlassen. Man degradierte ihn zum Putzmann. In der Anfrage aus Paris wittert Andrei nun die Chance eines künstlerischen Comebacks. Mit Hilfe seines Freundes und Vertrauten Sascha (Dmitri Nazarov), eines begnadeten Cellisten, der seinerzeit Krankenwagenfahrer werden musste, trommelt er weitere geschasste Musiker aus ganz Moskau zusammen. Zähneknirschend überredet er den Mann, der ihn einst entlassen hat, den früheren kommunistischen Bolschoi-Chef Gawrilow (Valerij Barinov), den Deal mit dem Châtelet zu verhandeln. Andrei will in Paris jenes Tschaikowski-Konzert spielen, das Gawrilow im Bolschoi 1980 wütend abbrach und Andrei damit vor aller Augen zutiefst demütigte. Nun reisen alle gemeinsam nach Paris und geben sich gegenüber dem Châtelet als das aktuelle Bolschoi-Orchester aus. Das Pariser Theater hat derweil die bekannte Violonistin Anne-Marie Jacquet (Mélanie Laurent) zu engagieren versucht, die sich Andrei als Solistin für sein Konzert gewünscht hatte. Jacquets Agentin Guylène (Miou-Miou) rät ihrem Schützling ab, doch Anne-Marie sagt begeistert zu. Guylène reagiert deshalb so abweisend, weil sie um das Geheimnis von Anne-Maries Eltern weiß, dieses aber vor ihrer Ziehtochter stets verborgen hat. Das Konzert mit Andrei wird die dunkle Wahrheit ans Licht bringen, dass Anne-Maries Eltern dem kommunistischen Terror jener Jahre zum Opfer fielen.
 

Ost/West-Klischees werden karikiert

In Das Konzert gelingt Regisseur Mihăileanu eine komplexe Gratwanderung zwischen Komödie und Melodram. Wie einst Billy Wilder in seiner Ost/West-Komödie Eins. Zwei. Drei (USA 1961) spießt auch Mihăileanu sattsam bekannte Klischees über den „Westen“ auf, indem er überspitzt darstellt, wie die Orchestermitglieder, die Vorzüge des Kapitalismus in Paris zu ihrem eigenen Vorteil nutzen, anstatt mit Andrei dessen wichtiges Konzert zu proben. Zugleich karikiert er mit feinem Humor sowohl die mittlerweile machtlosen russischen Kommunisten als auch den Typus des mafiösen neureichen Oligarchen, der sich in der postkommunistischen Zeit in Russland herausbildete. In einer 15-minütigen grandios gestalteten Musik-Bild-Montage am Ende des Films wird aber auch an die Verbrechen in der Sowjetunion erinnert. Kurze, aber sehr einprägsame Flashbacks, die in Andreis Tschaikowski-Konzert eingeschnitten sind, zeigen in Schwarzweißaufnahmen, was der KGB den jüdischen Eltern von Anne-Marie angetan hat. Trotz der drastischen Bilder des kommunistischen Terrors ist der Blick des Films auf das Zeitgeschehen insgesamt komödiantisch milde. So fordert etwa der russsische Oligarch, den Gawrilow als Sponsor des Konzerts gewinnen konnte, in einer Szene vom Théâtre du Châtelet, dass die Übertragungsrechte exklusiv ans russische Fernsehen gehen, damit „sein“ Präsident das Konzert sehen kann. Für den Fall, dass dies nicht geschieht, droht er Konsequenzen an:

Oder wollt ihr, dass wir Europa den Gashahn zudrehen. Fragt mal die Deutschen.“

Solch ein Spruch wurde vom zeitgenössischen Publikum als Dialoggag goutiert, heute würde vielen Zuschauern das Lachen im Halse stecken bleiben. Damals brachte der humorvolle Erzählgestus die europäische Stimmung gegenüber Russland sehr gut zum Ausdruck: Nach vielen Jahren der Spaltung und des Kalten Krieges wollte man nun das Versöhnliche zwischen Ost und West in den Mittelpunkt rücken.
 

Dramödie mit komplexen Erzählstrukturen 

Das Konzert lieferte hierfür eine originelle Geschichte und wurde, wohl auch wegen des großen Erfolgs, zu einem Prototyp der neuen französischen Gesellschaftskomödie. In komplexen Erzählstrukturen verbindet sie Drama und Komik, Klamauk und Intellekt, Gesellschaftskritik, Satire und Karikatur. Die Dramödie ist intelligent erzählte Kinounterhaltung mit kritischen Untertönen.
 

Mein fabelhaftes Verbrechen: Komödiantischer Kommentar zur #metoo-Debatte

Diese sehr allgemeine erste Umschreibung trifft auf François Ozons Mein fabelhaftes Verbrechen (2023) allemal zu. Die Krimikomödie, die ab 6. Juli 2023 in den deutschen Kinos zu sehen sein wird, spielt im Paris der 1930er Jahre. Zwar schwelgt der Film in üppigen Dekors und phantasievollen historischen Kostümen, gleichwohl hat er stets heutige Gesellschaftsumstände im Blick: Der faule, aber karrieristische Richter Rabusset (Fabrice Luchini) beschuldigt die Schauspielerin Madeleine (Nadia Tereszkiewicz), einen bekannten Theaterproduzenten in dessen Villa ermordet zu haben. Anfangs beteuert sie wahrheitsgemäß ihre Unschuld und leugnet die Tat. Auf Anraten ihrer Freundin und Mitbewohnerin, der jungen Anwältin Pauline (Rebecca Marder), gibt sie die Tat plötzlich zu. Nun behauptet sie, sie habe aus Notwehr gehandelt, weil der Produzent sie habe vergewaltigen wollen. Der Fall erregt schnell öffentliche Aufmerksamkeit, Madeleine wird populär und schließlich auch freigesprochen. Paulines Kalkül geht auf: Madeleine kann sich vor Angeboten kaum retten und auch Pauline selbst hat nun viele Möglichkeiten, sich als Strafverteidigerin zu etablieren. Da taucht unerwartet Odette Chaumette (Isabellle Huppert) als neue Zeugin auf, die glaubt, Madeleine und Pauline mit der angeblich richtigen Version des Tathergangs erpressen zu können.
 

Trailer Mein fabelhaftes Verbrechen (Weltkino Filmverleih, 15.05.2023)



Ozons moderne Variante des Boulevard-Theaterstücks Mon Crime von 1934 macht sich lustig über die Überbürokratisierung der Gesellschaft, besonders im Polizei- und Justizapparat. Lustvoll werden überkommene Männlichkeitsbilder seziert und in ihrer Lächerlichkeit vorgeführt. Es macht großen Spaß, den beiden cleveren Frauen dabei zuzusehen, wie sie den patriarchalen Strukturen in Polizei und Justiz stets aufs Neue ein Schnippchen schlagen. Die Geschichte verblüfft durch immer neue Wendungen und beweist, dass es möglich ist, die #metoo-Debatte komödiantisch aufzuarbeiten.
 

Seismographen des Zeitgeistes

Mein fabelhaftes Verbrechen zeigt beispielhaft, dass die französischen Komödien meist nah am Zeitgeist produziert werden. Dies gilt etwa für französische Liebes- und Beziehungskomödien, in denen tradierte Rollenbilder dekonstruiert und identitätspolitische Themen oft in Form moderner Märchen verhandelt werden: In Mein neues bestes Stück (2017) wächst der 38-jährigen Jeanne (Audrey Dana), Mutter von zwei Kindern, Architektin in Paris und frisch geschieden, über Nacht ein Penis. Zunächst in Panik, nimmt sie nach und nach machohafte männliche Verhaltensweisen an. In der französischen Netflix-Produktion Kein Mann für leichte Stunden (2018) funktioniert der Geschlechtertausch andersherum. Hier findet sich ein bekennender Frauenheld (Vincent Elbaz) nach einer Kopfverletzung in einer Gesellschaft wieder, in der das Matriarchat herrscht und Männer das „schwache Geschlecht“ sind. In solch magisch-romantischen Komödien wird das Publikum zur kritischen Reflexion über Gender und Rollenbilder angehalten, wobei dem Netflix-Film ein wenig der bissige, politisch oft unkorrekte französische Humor fehlt.
 

Versöhnliche Auflösung gesellschaftlicher Konflikte und Vorurteile

Schon 2008 wurde komödiantisches Potential aus Vorurteilen gegenüber dem „Anderen“ geschöpft. In Willkommen bei den Sch’tis nutzte der mittlerweile sehr bekannte Schauspieler, Komiker und Regisseur Dany Boon die Klischees über die Bewohner der französischen Nordregion für eine ungewöhnliche romantische Komödie: Die Ehe des Postbeamten Philippe (Kad Merad) ist nicht glücklich. Als er dann auch noch aus der Provence in den Norden versetzt wird, weigert sich seine Frau Julie (Zoé Félix) mitzukommen. Im Norden herrsche arktische Kälte, ewige Dunkelheit und die Region sei von trunksüchtigen, grobschlächtigen Menschen bewohnt. Auch Philippe fährt mit einem mulmigen Gefühl nach Nordfrankreich, stellt jedoch schnell fest, dass das Wetter gar nicht so schlecht ist und die Menschen zwar etwas skurril aber warmherzig sind. Da seine Frau ihn aufgrund seiner Versetzung bemitleidet und ihn bei jedem seiner Wochenendbesuche wieder mehr und mehr zu lieben beginnt, schürt er ihr gegenüber die Vorurteile über die Sch’tis, wie die Menschen in Nordfrankreich wegen ihres Dialekts genannt werden. Der Schwindel droht aufzufliegen, als Julie schließlich doch mit in den Norden fahren will. Boon, selbst aus dem Norden Frankreichs, löst die regionalen Vorurteile in einem versöhnlichen Happy End auf.

Trailer Willkommen bei den Sch'tis (KinoweltTV, 21.09.2020)



Ähnlich verfahren die Regisseure Olivier Nakache und Éric Toledano in ihrem Kinoerfolg Ziemlich beste Freunde (2011). Auf der Grundlage einer wahren Geschichte erzählen sie allerdings nicht von den Hindernissen einer romantischen Liebe sondern von einer ungewöhnlichen Männerfreundschaft: Der erfolgreiche Unternehmer Philippe (François Cluzet) liebte schnelle Autos und abenteuerliche Sportarten. Nach einem Absturz beim Paragleiten ist er vom Kopf abwärts gelähmt. Driss (Omar Sy) kam als Kind aus dem Senegal nach Frankreich, wuchs in den Banlieues von Paris auf und ist schon mehrmals mit der Polizei aneinandergeraten. Um weiter sein Arbeitslosengeld beziehen zu können, bewirbt sich Driss pro forma bei Philippe, der eine neue Pflegekraft sucht. Die unkonventionelle und provokante Art von Driss reizt Philippe. Er stellt ihn ein. Vom Luxus in Philippes Pariser Wohnung überwältigt, sagt Driss zu. Zunächst kümmert er sich nur widerwillig um den aufgrund seiner Erkrankung stark hilfsbedürftigen Millionär, doch zunehmend gewinnt er Freude an seiner Arbeit. Der Geschäftsmann lernt den Pragmatismus des Banlieue-Bewohners zu schätzen, so wie Driss durch die Begegnung mit dem klugen und kultivierten Mann selbst die Bedeutung von Kunst und Kultur für sein Leben entdeckt.
 

Trailer Ziemlich beste Freunde (KinoCheck Heimkino, 07.07.2020)



Ziemlich beste Freunde ist ein liebevolles Plädoyer gegen Vorurteile, etwa gegenüber Mitgliedern anderer sozialer Schichten und Menschen mit Behinderung. Für die Regisseure von Ziemlich beste Freunde Nakache und Toledano bildet ihr Film die fiktionale Wunscherfüllung, die Gespaltenheit zwischen den armen postmigrantischen und migrantischen Milieus der Vorstädte und der wohlhabenden Bourgeoisie aufzuheben. Im Film gelingt dies, indem die sozialen Klassen aufeinander zugehen, die positiven Seiten aneinander entdecken und so zusammenfinden.
 

Komödie als Lehrstück

Komödien wie die von Boon oder Nakache/Toledano werden so zu humorvollen Lehrstücken. Dieses Prinzip funktioniert in jenen französischen Gesellschaftskomödien besonders gut, in denen Figuren mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen aufeinandertreffen. Die Figuren und Konflikte werden dabei in recht zugespitzter klischeehafter Weise dargestellt, um reale Rassismen und Vorurteile über andere Kulturen und Religionen, aber auch soziale Ungerechtigkeit im eigenen Land humorvoll zu spiegeln und um sie kritisch diskutieren zu können. So erzählt Regisseur Nicolas Cuche in Meine schrecklich verwöhnte Familie (2022) von einem reichen Bauunternehmer (Gérard Jugnot), der den Verlust seiner Firma und des gesamten Familienbesitzes vortäuscht, um seine verwöhnten erwachsenen Kinder dazu zu zwingen, erstmals in ihrem Leben durch eigene Arbeit Geld zu verdienen. Da sie sie alle ungelernt sind, müssen sie Gelegenheitsjobs annehmen und erleben den Alltag so aus der Perspektive derjenigen, denen sie vorher nur mit Arroganz und Überheblichkeit begegnet sind. Auch in Die brillante Mademoiselle Neïla (2017) wird der weißen Mittelstandsgesellschaft der Spiegel vorgehalten: Ein Juraprofessor (Daniel Auteuil) wird nach rassistischen Sprüchen gegenüber einer arabischstämmigen Studentin (Carmélia Jordana) von der Universitätsleitung dazu verdonnert, genau diese Studentin für einen Jura-Wettbewerb fit zu machen. Durch die gemeinsame Arbeit lernt der Professor die Kultur der Studentin besser zu verstehen.
 

Culture-Clash-Comedies

Im französischen Kino haben sich solche Culture-Clash-Comedies seit den 2010er Jahren auch deshalb als erfolgreiches Subgenre des Komischen etabliert, weil sie auf ein gesellschaftliches Klima antworten. Dieses ist in Frankreich – auch aufgrund seiner kolonialen Geschichte – einerseits multikulturell und multiethnisch geprägt, andererseits zeigt es durch das Erstarken der politischen „Neuen Rechten“ deutlich rechtsradikale und rassistische Tendenzen.
 

Hereinspaziert!

Ein Film, der diesen gesellschaftlichen Zustand direkt in seine Handlung aufnimmt, ist Hereinspaziert! (2017) in der Regie von Philippe de Chauveron. In einer Talkshow diskutiert der linksliberale Schriftsteller Fougerole (Christian Clavier) mit dem rechtsgerichteten Autor Barzach (Marc Arnaud). Fougerole setzt sich für eine multikulturelle Gesellschaft ein, Barzach plädiert für Abschottung. Er fordert Fougerole auf, Worten Taten folgen zu lassen und in seinem Anwesen nahe Paris z. B. Roma aufzunehmen. Fougerole, den wurmt, dass Barzachs Buch ein Bestseller ist, während der Verkauf seines eigenen Werks namens Hereinspaziert! nur mäßig vor sich hindümpelt, stimmt vor laufender Kamera zu. Kaum aus dem Fernsehstudio zurück, steht tatsächlich die Roma-Familie um Oberhaupt Babik (Ary Abittan) vor dem Tor Fougeroles luxuriöser Villa. Eigentlich bewohnt der Schriftsteller sie mit seiner Frau Daphné (Elsa Zylberstein), Künstlerin und reiche Industriellentochter, sowie Sohn Lionel (Oscar Berthe) und Diener Ravi (Armen Georgian). Nach einigen Ausflüchten lässt Fougerole die Romas hinein. Schnell richten sie sich mit ihrem Wohnwagen auf dem parkartigen Gelände rund um die Villa ein. Fougerole will sie schnell wieder loswerden, doch seine Agentin rät ihm davon ab. Die Aufnahme der Roma wäre die perfekte PR-Aktion, um die Verkaufszahlen seines Buches zu steigern. Der Autor lenkt ein und so bringt die Babik-Familie mit ihren eigentümlichen Lebensweisen und ihrem chaotischen Alltag das großbürgerliche Leben und linksliberale Weltbild der Fougeroles völlig durcheinander.
 

Trailer Hereinspaziert! (KinoCheck, 27.06.2017)



Chauverons Film teilt in alle Richtungen aus. Das Leben der Roma wird gänzlich überzogen und bis an die Schmerzgrenze stereotypisiert und klischeehaft dargestellt, wodurch rassistische Vorurteile bewußt übersteigert und ad absurdum geführt werden.  Zugleich führt Hereinspaziert! die Bigotterie und die Widersprüche vor, in die sich das Ehepaar Fougerole verstrickt. Nach außen geben sie sich weltoffen und liberal. Doch im Privaten spüren sie große Angst vor dem Fremden als Bedrohung ihres Wohlstands und ihres Lebensstils. Einzig der Sohn Lionel erweist sich als selbstbewußt und souverän genug, die beiden unterschiedlichen Welten schließlich doch noch zusammenzuführen.
 

Monsieur Claude

Einer der wichtigsten Schauspieler der neuen französischen Gesellschaftskomödie ist Christian Clavier. Der einst als Asterix an der Seite des schillernden Obelix-Darstellers Gérard Depardieu eher farblos aufspielende Clavier gehört mittlerweile zu den großen Komödienstars Frankreichs. Seit den 2010er Jahren ist er in zahlreichen Filmen zu sehen, etwa in Nur eine Stunde Ruhe (2014), Nicht ohne meine Eltern (2017) oder Ibiza – Ein Urlaub mit Folgen (2019). Meist übernimmt er dabei die Rolle des quirlig-ignoranten und bornierten Bourgeois. Gemeinsam mit Regisseur Chauveron kreierte Clavier nicht nur den bigotten Autor in Hereinspaziert!, sondern auch die Figur des Monsieur Claude, den Titelhelden von mittlerweile drei überaus erfolgreichen Culture-Clash-Komödien: Monsieur Claude und seine Töchter (2014), Monsieur Claude 2 (2017) und Monsieur Claude und sein großes Fest (2021). Claude und Marie Verneuil (Chantal Lauby) sind ein älteres Ehepaar in der französischen Provinz, gutbürgerlich, wohlhabend, konservativ. Nachdem bereits drei ihrer Töchter Männer mit Migrationshintergrund geheiratet haben, stürzt sie die Absicht ihrer jüngsten Tochter Laure (Élodie Fontan), nun den aus dem Senegal stammenden Schauspieler Charles (Noom Diawara) zu heiraten, vollends in depressionsähnliche Stimmungen.
 

Trailer Monsieur Claude und seine Töchter (KinoCheck, 17.06.2014)



Im ersten Teil des Kino-Serials lernt insbesondere Claude seine rassistischen Vorurteile gegenüber den jüdisch-, arabisch-, chinesisch- und senegalesisch-stämmigen Männern seiner Töchter abzubauen, ja, er beginnt die Multikulturalität seiner Großfamilie sogar ein Stück weit zu genießen. Die Monsieur-Claude-Filme führen diese Persönlichkeitsentwicklung humorvoll vor, nicht sauertöpfisch, glatzköpfig und mit der bösen Fratze des Rechtsradikalismus sondern in Gestalt eines kultivierten Mittelstandsbürgers, dessen Verhaltensweisen und Verfehlungen dem breiten Publikum einen Spiegel vorhalten können. Indem Monsieur Claude und seine Töchter zeigt, dass sich auch die Schwiegersöhne anfangs teils spinnefeind sind, weil sie selbst noch voller Ressentiments gegenüber der Kultur des Anderen stecken, und zudem mit Charles‘ Vater André (Pascal N’Zonzi) eine konservativ-gaullistische Parallelfigur zu Claude eingeführt wird, die sich genauso ignorant und rassistisch verhält, reflektiert Chauverons Film generell die Abgrenzungsmechanismen gegen das Anderssein, die in jeder Gesellschaft stecken, durch positive Erfahrungen mit der fremden Kultur aber auch abgebaut werden können.
 

Fazit

Das französische Komödienwunder, dessen unterschiedliche Facetten zuvor beleuchtet wurden, ist eine Sammlung von Perspektiven auf das scheinbar Andere und Fremde, stets aus der Sicht der weißen Mittelstandsgesellschaft. Bei aller gesellschaftskritischer Schärfe und der bewußt provokanten Zuspitzung von Stereotypen und Rassismen, wodurch – wie etwa bei Hereinspaziert! – kritische Reaktionen von Betroffenengruppen ausgelöst wurden, zeigen die Komödien am Ende stets ein Bemühen der Protagonisten um Versöhnung, um das Beseitigen sozialer Ungleichheit und um eine Reduzierung von Vorurteilen und Ressentiments. Diese Lehrstückhaftigkeit der französischen Komödien zielt dabei auf eine Veränderung der Perspektive der weißen Mittelschicht ab, in deren Milieus die Erzählungen spielen und dem ein Großteil des Publikums angehört. Deren Rassismen und Vorurteile gegenüber unterpriviligierten Gruppen, die aufgrund ihres sozialen Status, ihrer Herkunft, ihrer Religion oder ihrer Hautfarbe, gesellschaftlich ausgegrenzt und an den Rand gedrängt sind, werden kritisch hinterfragt.

Gleichwohl kommt das Leben etwa der Menschen in den Banlieus der französischen Großstädte in den Gesellschaftskomödien nicht oder nur dann vor, wenn es darum geht – wie etwa in Ziemlich beste Freunde – eine Annäherung an und eine Integration in die Mittelstandsgesellschaft zu schaffen. Ein Ausnahmeschauspieler wie Omar Sy weckt mit seiner Figur des Driss zwar Sympathien für die Bewohner der Vorstädte, der Film von Olivier Nakache und Éric Toledano schafft aber ebensowenig wie die anderen zuvor analysierten Culture-Clash-Komödien ein wirkliches Verständnis für die Lebensweisen sozialer Gruppen, die am Rande der Gesellschaft leben und/oder sich rassistischer Anfeindungen erwehren müssen. Die Repräsentanten solcher Lebensweisen sind immer nur Nebenfiguren und keine Protagonisten. Indem die Komödien die bürgerliche Welt als das Nonplusultra modernen Lebens zeigen, bilden sie die Spaltung zwischen der multikulturellen Peripherie (u.a. in den Vorstädten) und dem weißen Zentrum der französischen Gesellschaft geradezu modellhaft ab (eine Spaltung, die sich gerade wieder in den nächtelangen Krawallen in den französischen Städten nach dem Todesschuß eines Polizisten auf den 17-jährigen Vorstadtbewohner Nahel M. entlädt).

Hierbei rekurrieren die Auflösungen der Culture-Clash-Konflikte oft auf konservative Werte. Der Verweis auf traditionelle Familienstrukturen und -rituale dient zur Glättung der Konflikte. In Monsieur Claude 2 outet sich Charles‘ Schwester Viviane (Tatiana Rojo) als lesbisch. Als ihr Vater André davon erfährt, dass seine Tochter eine Frau heiratet, bricht er den Kontakt zu ihr ab. Erst Claude kann ihn mit dem Verweis darauf, wie wichtig der Familienzusammenhang sei, davon überzeugen, doch noch zur Hochzeit zu kommen. Als André die Kirchengemeinde und seine Tochter in Weiß sieht, kommt es zu einer rührseligen Versöhnungsszene. Als in Nicolas Cuches Komödie Meine schrecklich verwöhnte Familie der Schwindel des Vaters auffliegt, wollen die Kinder kurzzeitig nichts mehr von ihm wissen. Doch schließlich kommt es zur Familienversöhnung, in deren Verlauf sich Vater und Kinder gegenseitig ihre Versäumnisse gestehen.

Hier wie in fast allen beschriebenen Komödien sind die dargestellten Familienstrukturen patriarchal und die Protagonisten durchweg männlich. So liegt beispielsweise der Erfolgskomödie Ziemlich beste Freunde ein äußerst traditionelles Männerbild zugrunde. Philippe stellt Driss auch deshalb ein, weil er mit ihm die Leidenschaften für schnelle Autos und das Umwerben schöner Frauen teilt. Und wenn Drees Bastien (Thomas Solivérès) den Freund von Philippes Tochter Elisa (Alba Gaïa Kraghede Bellugi), wegen seiner langen Haare anmotzt, fühlt man sich in den Generationskonflikt der 1970er Jahre versetzt. Damals waren die französischen Gesellschaftskomödien anarchistisch, subversiv und auf Skandal gebürstet. Themroc (1973) oder Das große Fressen (1973) desavouierten und karikierten mit großem Spaß gesellschaftliche Konventionen. Filme wie Luis Buñuels surrealistische Komödien Der diskrete Charme der Bourgeoisie (1972) oder Das Gespenst der Freiheit (1974) übten beißende Kritik an der Doppelmoral und dem Gewaltpotential, dass dem Bürger- und Großbürgertum innewohne. Frühe Queer-Komödien wie Ein Käfig voller Narren (1978) oder Abendanzug (1986) dekonstruierten traditionelle Rollenbilder und stellten schon damals die Genderfrage.

Auch die modernen französischen Komödien greifen Tabuthemen auf und provozieren mit politisch unkorrektem Humor. Doch der Gestus ihrer Gesellschaftskritik ist sanfter, der Humor augenzwinkernd. Er greift die Grundfeste der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr an. Dass die gut funktionierende Komödienwelle aus Frankreich gerade auch beim deutschen Publikum so gut ankommt, sollte Filmschaffende hierzulande ermutigen, auf die nicht weniger hitzigen, manchmal auch hysterischen gesellschaftlichen Debatten über Zuwanderung oder „Cancel Culture“ mit Humor in intelligenten Culture-Clash-Komödien zu antworten und es nicht bei wenigen Remakes französischer Gesellschaftskomödien wie Der Vorname (2018) oder Contra (2020) zu belassen.