Kontexte. Beschränkte Sicht.

Uwe Breitenborn

Dr. Uwe Breitenborn ist hauptamtlicher Prüfer bei der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF), Dozent, Autor und Bildungsreferent bei der Medienwerkstatt Potsdam.

Digitalität und Vernetzung fördern neben einer vollumfänglichen Zugänglichkeit auch die Fragmentierung medialer Produkte. Nennen wir es Häppchen oder Snippet Culture, es sind oftmals nur kleine Einheiten, entlang derer sich große Urteile bilden. Dekontextualisierung ist ein virulentes Thema gegenwärtiger Medienkultur, das für den Jugendmedienschutz relevant ist. Trotzdem gilt: Kontext ist King. Wie auch die Diskussion über Squid Game zeigte.

Printausgabe tv diskurs: 26. Jg., 1/2022 (Ausgabe 99), S. 62-65

Vollständiger Beitrag als:


Als im Oktober 2021 die Squid Game-Erregungswelle durch die Medien rollte, wurde wieder einmal anschaulich, wie viel Kraft eine aufsehenerregende Kontextualisierung entwickeln kann. Hatten viele noch gar nichts von dem Netflix-Produkt mitbekommen, war spätestens am letzten Oktoberwochenende jede(r) informiert, dass es sich bei der Serie um ein „hochgefährliches“ oder recht „sehenswertes“ Produkt handeln müsse – je nach Perspektive.

In einer zuweilen alarmistischen Berichterstattung überschlugen sich die Nachrichten über Squid Game-Vorfälle an Schulen, bei denen offensichtlich das nachahmende Spiel der Kinder zu übergriffigen und gewaltaffinen Übertreibungen führte. So wurden beispielsweise Verlierer beim Nachspielen auf Schulhöfen geohrfeigt. Einige Schulen appellierten, den Kindern die Serie zu verbieten. Es gab Berichte über eine Situation in Pinneberg, wo Kitakinder ein nachgeahmtes Spiel mit den Worten beendeten: „Ich töte dich.“ Erzieherinnen suchten daraufhin das Gespräch mit den Eltern. Und so ging es weiter.
 

Netflix: Squid Game | Official Trailer




Die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV) erklärte gegenüber dpa, es sei schon manches nachgespielt worden, aber das habe nun eine neue Qualität angenommen (kha/dpa 2021). Schulen warnten Eltern, Landesmedienanstalten mahnten. Und noch Anfang Dezember 2021 veröffentlichte das Schulpsychologische und Inklusionspädagogische Beratungs- und Unterstützungszentrum (SIBUZ) in Pankow einen Elternbrief, in dem auf die seelischen Folgen der Serie hingewiesen wird (BLZ/mow 2021).

Mehr Aufmerksamkeit für eine Serie war selten. Netflix wird es freuen. Mittlerweile hat sich die Situation erwartbarerweise beruhigt. Was heißt das für den Jugendmedienschutz? Und welche Rolle spielt die (De‑)Kontextualisierung? Die Sache ist vertrackt.


Kontext: das Unbehagliche

Jugendschutz sei, realistisch betrachtet, nur im Kino durchsetzbar. So fasste Joachim von Gottberg (Gottberg 2013, S. 339) pointiert das Dilemma der heutigen Medienlandschaft hinsichtlich des Jugendmedienschutzes zusammen, denn im Kern heißt dies: Gesetzliche Altersbeschränkungen sind im Internet kaum durchsetzbar. Eine publikumsspezifische Segmentierung, die eine Gesellschaft in unterschiedliche Informations- und Wahrnehmungswelten gliedert, ist aufgrund der Vernetzung heutzutage nur schwer zu organisieren, so argumentiert auch Bernhard Pörksen. Es regiere das Prinzip der integrierenden Konfrontation.

„Alles wird potenziell allen gezeigt. Alles wird im Extremfall für alle sichtbar; unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft und sozialem Status wird man mit den unterschiedlichsten Informationen lebensweltlicher, ideologischer oder sexueller Natur konfrontiert. Und es wird in nie gekannter Leichtigkeit und Geschwindigkeit möglich, gerade noch bestehende Informations- und Wahrnehmungsenklaven, Welt- und Wirklichkeitsblasen, die algorithmisch oder auch primär sozial, kulturell oder weltanschaulich-ideologisch bestimmt sein mögen, zu verschieben und aufzusprengen – mit der Folge einer allgemeinen Beunruhigung und Verstörung, einer systemisch bedingten Behaglichkeitskrise […]“ (Pörksen 2018, S. 123).

Das längere Zitat beschreibt ganz gut, was auch bei Squid Game eintrat. Irritation und Unbehagen. Gleichzeitig sind sich Eltern, Schulen und gesellschaftliche Akteure darüber einig, dass Kinder und Jugendliche vor entwicklungsbeeinträchtigenden Medieninhalten geschützt werden sollen, wie der Fall Squid Game griffig zeigte. Dabei offenbart dieses Phänomen noch ein anderes Dilemma.


Kontext: die Fragmente

Digitalität und Vernetzung fördern neben einer vollumfänglichen Zugänglichkeit auch die Fragmentierung medialer Produkte. Nennen wir es Häppchen oder Snippet Culture, es sind oftmals nur kleine Einheiten, entlang derer sich große Urteile bilden. Ob bei YouTube, TikTok oder auf anderen Kanälen: Entrissenes und Fragmente sind überall zu finden. Auch Squid Game ist in blutigen Einzelteilen auf den Plattformen präsent. Der Ausschnitt wird zur Signatur des Ganzen, das Fragment überstrahlt die Gesamtheit. Pörksen spricht auch von „kollabierenden Kontexten“ (ebd., S. 124). Dekontextualisierung ist also ein Befund der gegenwärtigen Medienkultur, der für den Jugendmedienschutz relevant ist, denn sie unterläuft das Prinzip der Gesamtwirkung eines Werkes, das ein wichtiges Kriterium in der Beurteilung ist.

Die komplexe Wirkung eines Werkes reduziert sich hier auf kleine Ausschnitte, die ihrer Kontexte enthoben werden. Das Fragment wird zu einem herrschenden Prinzip, schafft aber auch Spielräume für neue Kontexte. Die Meme-Kultur ist ein gutes Beispiel dafür. Und so waren es vor allem die einzelnen Gewaltaspekte in Verbindung mit nachahmenden Spielen Minderjähriger, die das punktuelle Entsetzen über Squid Game prägten. Die Serie erhielt hierdurch einen Realitätsbezug, der verstörte – auch, weil bei jüngeren Kindern unter 16 Jahren mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht die nötigen Erfahrungskontexte vorauszusetzen sind, die eine hinreichende Kontextualisierung (Einordnung) der brutalen Inszenierung ermöglichen, wie sie durch den Jugendmedienschutz gefordert ist. So ist teilweise eine Dekontextualisierung zu beobachten, aber es sind auch andere Kontexte relevant, die den Hype befeuern.
 

Kontext: das Unsichtbare

Das österreichische Portal Saferinternet.at weist u.a. auf das Mediennutzungsverhalten von Kindern und Jugendlichen hin, für die solch eine Serie eine willkommene Herausforderung darstelle, da es hier um einen emotionalen „Kick“ und das Überschreiten von Grenzen gehe. Durch die mediale Aufmerksamkeit werde zudem ein gemeinschaftsbasiertes Gesprächsthema generiert, mit dem sich Kinder und Jugendliche in sozialen Gruppen gut positionieren könnten. „Reale Mutproben“, soziale Anerkennung, aber auch Abgrenzung spielten hier eine große Rolle (Saferinternet.at 2021). Auch im Statement der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz (AJS) Nordrhein-Westfalen wird auf die Verantwortung von Eltern und Erziehenden hingewiesen, Kindern zu helfen, wenn sie die verstörenden Szenen von Squid Game gesehen haben, zumal wenn sie altersmäßig noch weit unter dem Freigabealter von 16 Jahren sind. Die Faszination der Serie auf Heranwachsende sei nachvollziehbar, setze die Serie doch inhaltlich auf jugendaffine Themen wie den Traum vom großen Geld und das Interesse an Challenges (AJS 2021).

An der altersgruppenüberschreitenden Rezeption zeigt sich aber auch, wie weit Kinder und Jugendliche außerhalb des Radars von Eltern und Sorgeberechtigten Zugang zu nicht altersgerechten Medieninhalten haben und welche Bedeutung ihnen zukommen kann. Einerseits beklagen wir Dekontextualisierung, andererseits erleben wir neue Kontextualisierungen. Wie geht das zusammen?

In seinem Buch Meta! Das Ende des Durchschnitts spricht Dirk von Gehlen von digitalen Medien als Kontext-Medien. Kontexte steuerten unsere Wahrnehmung und unsere Erwartung. „Der Inhalt wird also nicht wie bisher beim Sender erstellt und dann gefiltert, der Inhalt entsteht beim Empfänger durch die Kombination von Daten“ (Gehlen 2017, S. 155). Der Begriff „Daten“ lässt sich hier auch mit Information oder Erfahrung übersetzen. In einer Welt, in der ein Werk verlustfrei und ununterscheidbar zu duplizieren ist, bekommt der Kontext ungeahnte Bedeutung, da er unsere Wahrnehmung steuert. Und dieser Ansatz ist nun wahrlich nicht neu, man denke nur an Peter L. Bergers und Thomas Luckmanns Buch Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (1969). Gehlen führt auch aus, dass der singuläre Inhalt allein an Wert verliere. Doch der Kontext eines Textes könne dem Inhalt Bedeutung und Wertschätzung zurückbringen (vgl. Gehlen 2017, S. 22).

Und so ist folgerichtig, dass vor allem auch der ambivalente Kontext einer Jugendbeeinträchtigung Squid Game zu einem Hit machte. Je mehr darüber geschrieben wurde, desto größer wurde die Attraktivität. In gewisser Weise ist auch hier der sogenannte Streisand-Effekt zu beobachten, bei dem der Versuch, eine unliebsame Information zu unterdrücken, das Gegenteil bewirkt. Das Interesse an dem ambivalenten Produkt wächst.
 

Netflix: Tote Mädchen lügen nicht: Letzte Staffel | Offizieller Trailer



Kontext: das Dilemma

Der Teufel steckt im Detail, vor allem, wenn das Detail die Sicht verstellt. Es gibt eine große Lust an kleinteiliger Analyse, die sich an einem Faktum aufreibt. Der Erregungsdiskurs über Squid Game wirkte oft ein bisschen einsilbig (ausführlicher siehe Breitenborn 2021). Natürlich laufen in dieser Serie diverse Wirkungsrisiken für jüngere Kinder auf Hochtouren, die nicht zu verharmlosen sind: Ängstigung durch die brutalen Gewaltakte, sozialethische Desorientierung aufgrund des zynischen Gesamtansatzes und Gewaltverherrlichung, da die Serie in einer höchst selbstzweckhaften Weise auf den Schauwert von Gewaltszenarien setzt. Aber das ist nur die Oberfläche. Darunter findet sich eine außerordentlich spannende Gesellschaftskritik und Sozialstudie.

Barbara Schweizerhof sieht in der moralischen Zweideutigkeit aller Figuren der Serie, die eben gerade nicht wie ein „Spiel“ wirke, eine große Anziehungskraft. Als Zuschauer fühle man sich hier auf eine Weise ernst genommen und direkt angesprochen, wie es bei US-Serien mit ihrem Anspielungsreichtum und ihren Genre-Verspieltheiten selten geschehe (Schweizerhof 2021). Neben den kapitalismuskritischen Fragen sind hier auch Aspekte von Teambildung und sozialem Handeln relevant. Welche Teams kommen weiter, welche Rollen nehmen die einzelnen Mitglieder ein? Was sind sinnvolle Teamstrategien? Auch das ist spannend. Insofern ist die Serie auch ein komplexes Gesprächsangebot für junge Heranwachsende. Am Ende ist – bei aller Dekontextualisierung – der Kontext das Entscheidende.

Der Hype um Squid Game illustriert, wie Trends viral gehen und in „reales“ Handeln transformiert werden. Was ist das nächste Ding? Wer erinnert sich noch an den Pokémon Go-Hype, bei dem viel auf die Unfallgefahren hingewiesen wurde, weil Kinder „blindlings“ durch Straßenverkehr und Botanik stapften, um virtuelle Wesen zu jagen. Oder Tote Mädchen lügen nicht, die US-Serie mit dem Teenager-Suizid-Thema? Und nicht zu vergessen der dystopische Mehrteiler Die Tribute von Panem. Auch das ist nichts für zartbesaitete Seelen. Wie auch immer, es bleibt anspruchsvoll, die Realität heutiger Mediennutzungen in Einklang mit den Zielen des Jugendmedienschutzes zu bringen. Und so gilt nach wie vor: Kontext ist King.
 

Literatur:

Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz Nordrhein-Westfalen (AJS): AJS-Statement zur Netflix-Serie „Squid Game“. Schon Vorschulkinder haben Zugang zu expliziten Gewaltdarstellungen. Köln, 15.10.2021. Abrufbar unter: https://ajs.nrw (letzter Zugriff: 01.11.2021)

Berger, P. L./Luckmann, T.: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt am Main 1969 (Original: 1966)

BLZ/mow: Land Berlin warnt Eltern: Schützen Sie Ihre Kinder vor Squid Game. In: Berliner Zeitung, 02.12.2021. Abrufbar unter: https://www.berliner-zeitung.de

Breitenborn, U.: Grünes Licht, rotes Licht? Ist Squid Game wirklich so gefährlich?. In: FSF-Blog, 08.11.2021. Abrufbar unter: https://blog.fsf.de

Gehlen, D. von: Meta! Das Ende des Durchschnitts. Berlin 2017

Gottberg, J. von: Kulturelle Grenzen statt gesetzlicher Altersfreigaben. In: H. Friedrichs/T. Junge/U. Sander (Hrsg.): Jugendmedienschutz in Deutschland. Wiesbaden 2013, S. 339 – 343

kha/dpa: Kitakinder ahmen Spiel aus „Squid Game“ nach. In: Spiegel.de, 29.10.2021. Abrufbar unter: https://www.spiegel.de (letzter Zugriff: 14.12.2021)

Pörksen, B.: Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung. München 2018

Saferinternet.at: Squid Game: Gewalt in Medieninhalten. In: Saferinternet. at, 15.10.2021. Abrufbar unter: https://www.saferinternet.at (letzter Zugriff: 29.10.2021)

Schweizerhof, B.: Spiel mit dem Tod. In: Der Freitag, 41/2021, S. 22. Abrufbar unter: https://www.freitag.de (letzter Zugriff: 06.11.2021)