Pillendesaster
Die filmische Repräsentation der amerikanischen Opioidkrise
Megakrise
1996 bringt die Familie Sackler mit ihrem Unternehmen Purdue Pharma das Schmerzmittel OxyContin auf den US-Markt. Es wird eine bittere Erfolgsgeschichte und der Beginn eines gigantischen Drogendesasters in den USA – die Opioidkrise nimmt ihren Lauf. OxyContin wird aggressiv beworben. Das Medikament besitze angeblich nur ein sehr geringes Suchtpotenzial, so der Pharmakonzern. Das Gegenteil ist der Fall. Es wirkt nach dem gleichen Prinzip wie Heroin, aber deutlich stärker. Und schneller. Profithungrige Verkäuferteams, die eher Drückerkolonnen sind, schwärmen aus, umgarnen und überreden Ärzte, OxyContin auch bei moderaten Schmerzen zu verschreiben, beispielsweise bei Zahnschmerzen.
Die fatalen Folgen sind schnell sichtbar. Das scheinbar harmlose Medikament entpuppt sich als veritables Rauschmittel, das in den meisten Fällen schnurstracks in eine Abhängigkeit führt. Aus Patienten werden Süchtige. Da OxyContin vergleichsweise teuer ist, steigen viele direkt auf Heroin um. Dies trägt dazu bei, dass die Zahl der Heroinsüchtigen in den USA außerhalb der Ballungsgebiete stark zunimmt. OxyContin, das auch „Hillbilly Heroin“ genannt wird, ist dabei nur eines von vielen problematischen Schmerzmitteln, die zur Opioidkrise führen (Stichwort: Fentanyl). Insgesamt sterben seit Beginn der Epidemie bis 2020 mehr als 450.000 Menschen in den USA durch Opioide. Purdue Pharma hingegen erzielt allein mit OxyContin einen Umsatz von rund 35 Mrd. US-Dollar. 2007 wird Purdue zu einer Strafzahlung von 634,5 Mio. US-Dollar verurteilt. Ein Klacks angesichts der Profite.
„Weg vom Schmerz, hin zur Freude“
„Opioid“ ist ein Sammelbegriff für eine Gruppe natürlicher und synthetischer Substanzen, die morphinartige Eigenschaften aufweisen. Das Medikament OxyContin basiert auf dem semisynthetischen Opioid Oxycodon. Es wirkt schnell schmerzlindernd, hat eine euphorisierende Wirkung und macht extrem abhängig. „Weg vom Schmerz, hin zur Freude“ – das ist die Philosophie des Purdue Pharma-Präsidenten Richard Sackler. Es ist die Basis eines Megageschäfts. Das OxyContin-Desaster ist mittlerweile Stoff zweier erfolgreicher Streamingserien sowie einiger Dokumentationen. Sie zeigen eine Realität, die sich fundamental von lustigen Kifferanekdoten oder Hangovers unterscheidet. Die mit Opioiden verbundene Abwärtsspirale ist für viele Amerikaner eine Katastrophe.
„Wenn ich aufhöre, sterbe ich, wenn ich nicht aufhöre, sterbe ich auch.“
Dopesick nennt man im Englischen die Begleiterscheinungen eines Opioidentzugs. Nicht nur Kritiker sind sich einig, dass die gleichnamige Serie die bessere zum Thema ist. Sie ist aufwühlend, teils elegisch und gibt uns eine Nahaufnahme der privaten Höllen der OxyContin-Abhängigkeit.
Die junge Betsy arbeitet unter Tage in einer Kohlemine. Als sie ihre verletzungsbedingten Schmerzen behandeln lässt, verschreibt ihr der sympathische lokale Arzt Dr. Samuel Finnix (Michael Keaton) guten Gewissens OxyContin. Er geht davon aus, dass es unbedenklich ist. Die Schmerzstillung gelingt schnell, der Teufelskreis beginnt. Rieke Havertz beschreibt in der „Zeit“ den Protagonisten und damit die Ausgangssituation sehr treffend: „Samuel Finnix ist genau der Hausarzt, den eine abgelegene, ländliche Gemeinde braucht. Einer, der sich kümmert, abends noch bei seinen Patientinnen vorbeifährt, um sicherzugehen, dass die alte Dame ihre Pillen nicht vergisst. Einer, der die Zwänge kennt, dass die Schulter einfach wieder funktionieren muss, damit der Gehaltsscheck weiter reinkommt. Einer, der gern frittiertes Hähnchen isst und eher Fleecewesten als Arztkittel trägt“ (Havertz 2021). Er wird im Laufe der Geschichte selbst OxyContin-abhängig und steht als Figur stellvertretend für Hunderttausende, die unverschuldet in die Katastrophe schlitterten. Verzweifelt kämpft die junge Bergarbeiterin Betsy Mallum (Kaitlyn Dever) nicht nur gegen ihre Oxy-Abhängigkeit, sondern auch um ihre sexuelle Identität und das Bedürfnis, auszubrechen. Sie repräsentiert damit eine ganze Palette an Problemen – und es ist schmerzhaft zu sehen, wie sie unter die Räder gerät.
Trailer Dopesick (Disney Deutschland, 13.10.2021 )
Die Serie ist ein Gesellschaftspanorama Amerikas. Man hat nicht so oft Gelegenheit, an den Küchentischen der Armen zu sitzen. Hier gibt es viele Verlierer. Symptomatisch auch das Gespräch mit dem verzweifelten Junkiemädchen Elizabeth, das Finnix für eine Therapie gewinnen will: „Wenn ich aufhöre, sterbe ich, wenn ich nicht aufhöre, sterbe ich auch.“ Trotzdem ist die Serie nicht entmutigend. In Danny Strongs Dopesick wird die Geschichte von unten sowie aus der Perspektive der Kämpfer gegen die anschwellende Katastrophe erzählt. Ob die jungen, toughen Anwälte, die das Pharmaimperium bekämpfen, oder Michael Stuhlbarg als Richard Sackler – der Cast ist hervorragend.
Alle tragischen und kriminellen Facetten werden hier durchbuchstabiert. Das Puzzle der Ermittler, die Ignoranz und Korruption oberster Behörden und die Verzweiflung der Betroffenen. Bizarrerweise war es erst die Trump-Administration, die dem Spuk entgegentrat und 2017 den nationalen Notstand ausrief.
„Als in Virginia die Menschen schon längst aus Verzweiflung in Apotheken einbrechen, um an die angeblich nicht abhängig machenden Pillen zu kommen, sie zerstoßen und schnupfen, um die Wirkung zu erhöhen, zielt Purdue auf den Weltmarkt. Deutschland müsse das nächste Ziel sein, erklärt Richard Sackler in einer Szene. Der Markt mit den striktesten Regulierungen. Wenn es dort funktioniere, sagt Sackler, dann könne nach den USA auch ganz Europa und schließlich die Welt dank OxyContin vom Schmerz befreit werden“ (ebd.). Es hat nicht geklappt.
Fokussiert sich Dopesick vor allem auf eine Nahaufnahme der Krise, indem die Serie die OxyContin-Opfer ins Zentrum rückt, blickt Painkiller direkt in die Schaltzentrale des Pharmakonzerns.
Trailer Painkiller | Stranger Than Fiction: Inside the Making of Painkiller (Netflix, 15.08.2023)
Drogenbaron mit Hund
Die Serie Painkiller sprang im Spätsommer 2023 auf Platz eins der Netflix-Seriencharts. Sie verfolgt in einem teils grellen poppig-artifiziellen Stil mehrere Erzählstränge, die jeweils unterschiedliche Facetten der Krise abbilden. Die Serie nimmt Richard Sackler (Matthew Broderick) ins Visier, der oft mit seiner riesigen Bulldogge Unch auftaucht – eine rücksichtslose Machtdemonstration. Als Charakter wirkt er aber auch fragil, krude, schlau, brutal, karikaturesk – alles in allem höchst ambivalent. Jeder einzelnen Episode sind reale Personen vorangestellt, die auf den Tod eines Familienmitglieds hinweisen. In der Regel sind es ihre Kinder, die als junge Erwachsene an OxyContin zugrunde gingen. Damit hat die Serie einen starken Link in die Realität. Im Fokus sind aber auch die Marketing-Glücksritter, teils naiv, teils skrupellos, die Ärzte dazu bringen, OxyContin zu verschreiben. Verführung ist hier ein großes Thema. „Worüber Painkiller gelungen zu erzählen weiß“, so Cichosch in der „taz“, ist vor allem „das aggressive Marketingimperium um das vermeintlich neue Medikament. Die interessanteste Figur ist denn auch die der jungen, etwas naiven Shannon Schaeffer (Madelaine West Duchovny). Erster Zweifel an ihrem Produkt wird vom rasch einströmenden Erfolg besänftigt, doch bleibt die Pharmavertreterin trotz Vertriebler-Events mit tanzenden Oxy-Pillen, Firmen-Porsche und Avancen diverser Kunden frei von Zynismus“ (Cichosch 2023).
In kurzen, knalligen Sequenzen wird zudem die Geschichte von Purdue Pharma erläutert. Stilistisch erinnert diese Farce teilweise an Scorseses The Wolf of Wall Street (2013) und McKays The Big Short (2015), hyperventilierende Satiren aus dem Herzen des Finanzkapitalismus. Ausgebremst wird die Hyperventilation bei Painkiller allerdings durch die Opfergeschichten, allen voran die des Familienvaters Glen Kryger (Taylor Kitsch). Aber auch die stoische Staatsanwältin Edie Flowers (Uzo Aduba) und die bereits genannte Figur der Shannon Schaeffer, die im Aggro-Marketing von Purdue Pharma unterwegs ist und rauschhaft erlebt, wie Erfolg korrumpiert, setzen dem grotesken Szenario letztlich eine Ernsthaftigkeit entgegen, die das Publikum auf ihre Seite zieht.
Die Opioidkrise unterscheidet sich von anderen Drogenkrisen, da sie wie ein Tsunami über das Alltagsleben von Mr. und Mrs. Jedermann hereinbrach. Stinknormale Familien standen plötzlich am Abgrund. Die Netflixserie Painkiller stützt sich auf eine Recherche des Journalisten Patrick Radden Keefe, der 2017 im „New Yorker“ das dubiose Pillenbusiness der Sacklers offenlegte, sowie auf Barry Meiers Buch Pain Killer. Hinter dem Format und Noah Harpster, die u. a. auch die Drehbücher zu Maleficent – Mächte der Finsternis und Der wunderbare Mr. Rogers verfassten. Regisseur Peter Berg (Hancock, Deepwater Horizon) legte eine Hochglanzproduktion vor, die vielleicht überstilisiert, eine Nummer zu schrullig und schemenhaft geraten ist, aber letztlich das Publikum unterhält und wirksam für das Thema sensibilisieren kann.
Heroine und „Hillbilly Heroin“
Auch im nonfiktionalen Bereich ist das Thema mit großer Wucht angekommen. Hier gibt es seit längerem Dokus. Exemplarisch dafür steht der Film Oxyana. Der Dokumentarfilm von 2013 (Regie: Sean Dunne) porträtiert Menschen aus der Kohlebergbaustadt Oceana im Wyoming County (West Virginia). Viel Elend ist hier zu sehen. Im Opioidstrudel Versunkene beschreiben ihre Suchterfahrungen und wie sie damit leben. Ein Mitarbeiter der Notaufnahme erzählt, dass etwa täglich ein Patient an einer Überdosis Drogen stirbt. Teenagermädchen prostituieren sich für eine einzige Dosis OxyContin. Es ist ein bitteres Amerikabild, das die Auswirkungen von Armut, Perspektivlosigkeit und einer kolossal fehlgesteuerten Pharmapolitik zeigt, ohne die Protagonisten vorzuführen. In eine ähnliche Richtung ging auch die oscarnominierte Kurzdoku Heroin(e) von Elaine McMillion Sheldon von 2017.
Trailer Oxyana (Sean Dunne, 01.07.2013)
Wer sich den preisgekrönten Film Oxyana anschauen möchte, kann dies auf YouTube tun. Außerordentlich interessant sind hier auch die fast 9.000 Kommentierungen zum Film, die ganz persönliche Krisenerfahrungen hinzufügen. Hier seien nur zwei Äußerungen angeführt:
Man, I feel for these folks. Watching this and being 8 years clean of Oxy makes me feel so damn grateful that i was able to escape that pharmaceutical hell.“ (@masterbeattie973)
I’m addicted heavily, and I am entering rehab tomorrow in a neighboring city … wish me luck guys. This video really helped realize it’s not just me.“ (@joshuamullins5451)
Ganz anders funktioniert der Film All the Beauty and the Bloodshed, der 2022 den Goldenen Löwen in Venedig gewann. Der preisgekrönte US-Dokumentarfilm von Laura Poitras über die Fotografin Nan Goldin, die selbst OxyContin-abhängig war, erzählt von ihrem Kampf gegen die Familie Sackler.
Die mächtigen Sacklers inszenierten sich gern als Philanthropen und Kunstsponsoren. Renommierte Museen weltweit besaßen z. B. „Sackler Wings“. Goldins Kampagne zielte genau darauf und folgte dem Schlachtruf „Take down their name“. Neben ihrem interessanten OEuvre ist es vor allem ihre engagierte Lebensgeschichte, die diesen Film trägt. Sie erreichte mit ihrer Bewegung P.A.I.N. (Prescription Addiction Intervention Now), dass das scheinheilige Mäzenatentum der Sacklers gestoppt wurde. So wurde deren Name im Guggenheim, am New Yorker MET, in der National Gallery in London und im Louvre entfernt. Ihr gelang damit eine symbolische Delegitimation der Sackler-Familie, die für viele Opferfamilien wichtig war.
Trailer All The Beauty And The Bloodshed (HBO, 27.02.2023)
Es ist erstaunlich, dass die mediale Aufbereitung des Themas erst jetzt an Fahrt aufgenommen hat. Sie wird uns erhalten bleiben. Beiden Streamingserien kommt dabei eine Schlüsselrolle zu, da sie über ihren Entertainmentfaktor Türen öffnen. Übrigens: 2021 meldete Purdue Pharma Insolvenz an und plant nun eine Reorganisation unter dem Namen Knoa Pharma.
Literatur:
Cichosch, K. J.: Netflix-Serie „Painkiller“. Boni mit Plüschpillen. In: taz, 23.08.2023. Abrufbar unter: https://taz.de
Havertz, R.: „Dopesick“. Das Geschäft mit dem Schmerz. In: Zeit online, 12.11.2021. Abrufbar unter: https://www.zeit.de
Keefe, P. R.: The Family That Built an Empire of Pain. In: New Yorker, 23.10.2017. Abrufbar unter: https://www.newyorker.com