„Let’s not talk about it“

Die argentinische Dokumentationsreihe spricht vorbehaltlos Tabus an, ohne diese zu verletzen

Nils Brinkmann

Nils Brinkmann studierte Publizistik, Kunstgeschichte und Soziologie (M.A.). Seit vielen Jahren prüft Nils Brinkmann als hauptamtlicher Prüfer bei der FSF, ebenso prüft er im Beschwerde- und Gutachterausschuss der Freiwilligen Selbstkontrolle Multimedia (FSM).

Programm Let’s not talk about it
 Dokumentation, ARG 2022
SenderDisney+, ab 22.02.2023

Online seit 11.05.2023: https://mediendiskurs.online/beitrag/lets-not-talk-about-it-beitrag-1124/

 

 

Dass Streaming-Portale nicht nur hochwertige Fernsehserien anbieten, sondern auch ebenso qualitativ ansprechende Dokumentarfilme bereithalten, beweist derzeit Disney+, das mit der Reihe Let’s not talk about it (Original: Hache: Lo Que No Se Nombra) in einer ersten, sieben Folgen umfassenden Staffel des argentinischen Investigativ-Journalisten Jorge Lanata zahlreichen tabubeladenen Themen auf der Spur ist, die in dem ca. halbstündigen Format intensiv und umfassend beleuchtet werden. Die für den „National Geographic“ produzierte Dokureihe berichtet aus südamerikanischer Perspektive über zumeist kontrovers diskutierte Themen wie Sterbehilfe, Angststörungen, dem Darknet, soziale Netzwerke und ihre Gefahren, Bandenkriege oder auch von der Frage, was Menschen generell glücklich macht.

Bild: © 2022 Disney und seine verbundenen Unternehmen.


 

Sehr einfühlsam, aber auch mit dem gebotenen Abstand führt Jorge Lanata Gespräche mit Betroffenen und lässt diese frei zu Wort kommen. Dass die Reihe in spanischsprachiger Originalfassung – deutsch untertitelt – ausgestrahlt wird, verleiht der Dokumentation zusätzliche Authentizität. Hierbei werden durchaus heikle Themen wie Selbstjustiz im Rahmen von Bandenkriegen (etwas irritierend unter der Überschrift „Gerechtigkeit“ abgehandelt) oder auch die verfänglichen Seiten des Influencer:innen-Lebens, das über die bloße Generierung von „Likes“ schnell hinausgeht, offengelegt und in aller Klarheit kritisiert. Etwa, wenn eher zufällig gepostete Fotos von einer großen Anhänger:innenschaft geteilt werden, was zu weiteren Begehrlichkeiten bis hin zu erotischen Inhalten der vielfach noch minderjährigen Hosts führen kann.

Jorge Lanata gelingt es, das Vertrauen der Interviewpartner:innen zu gewinnen, sodass diese weitgehend frei und bisweilen selbstkritisch ihr Verhalten bzw. ihre Motivation zu bestimmten Verhaltensweisen oder Entscheidungen analysieren. So kann das Fernsehpublikum sich in die jeweiligen Protagonist:innen hineinversetzen, um Verständnis für deren Lebensrealität zu entwickeln, wobei man sehr schnell feststellt, dass sich Südamerika (die Reportagen sind nicht nur auf Argentinien beschränkt) und Europa in Vielem durchaus ähneln.
 


Freigegeben ab …
 

Der FSF lagen vier der sieben Episoden zur Prüfung vor, drei wurden für das Hauptabendprogramm ab 20.00 Uhr, verbunden mit einer Altersfreigabe ab 12 Jahren freigegeben. Die Episode zum Thema Sterbehilfe kann aufgrund der sehr empathischen und respektvollen Machart im Tagesprogramm ausgestrahlt werden. Obwohl durchaus jugendschutzrelevante Themen wie der Umgang mit sozialen Medien (zu denen auch Amateur-Porno-Seiten, z.B. „Onlyfans“, zählen), Selbstjustiz oder die Untiefen des Darkwebs beleuchtet werden, gelingt es Jorge Lanata stets, einen kritischen Blick auf die verhandelten Themen zu behalten und möglicherweise sozialethisch desorientierende Aussagen, z.B. in Bezug auf Selbstjustiz oder die vermeintlich attraktiven Seiten des Influencer:innen-Lebens, zu relativieren. Eine leicht oberlehrerhafte Attitüde ist ihm dabei allerdings nicht abzusprechen. Gleichwohl ist seine Kritik, z.B. an Instagram & Co., durchaus berechtigt und bietet sich für weitere Diskurse – auch und gerade mit jugendlichem Publikum - meinungsbildend an. Die Bildebene vermeidet dabei spekulative oder gar reißerische Szenen konsequent, ohne dass jedoch die eindrucksvolle Wirkung der vorgestellten Themen auf der Strecke bleibt.

Die Dokureihe zeigt einmal mehr, dass gut recherchierter Dokumentarjournalismus kein Privileg der öffentlich-rechtlichen Sender sein muss und sich der Blick über den europäisch-US-amerikanischen Tellerrand sehr lohnen kann.
 

Bitte beachten Sie:
Bei den Altersfreigaben handelt es sich nicht um pädagogische Empfehlungen, sondern um die Angabe der Altersstufe, für die ein Programm nach Einschätzung der Prüferinnen und Prüfer keine entwicklungsbeeinträchtigenden Wirkungsrisiken mehr bedeutet.

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Sendezeiten und Altersfreigaben