Medienstrategien im modernen Krieg

Werner C. Barg

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Prof. Dr. Werner C. Barg ist Autor, Produzent und Dramaturg für Film und Fernsehen sowie Honorarprofessor im Bereich Medienwissenschaft der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF. An der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg leitet er in der Abteilung Medien- und Kommunikationswissenschaft den Ergänzungsstudiengang „Medienbildung“ des Zentrums für Lehrer*innenbildung (ZLB)

Der Beitrag geht dem Verhältnis von Medien und Krieg nach und zeigt, wie sich spezifische, historisch gewachsene Medienstrategien im aktuellen Ukraine-Krieg mit neuen Formen verbinden.

Online seit 24.02.2023: https://mediendiskurs.online/beitrag/medienstrategien-im-modernen-krieg-beitrag-772/

 

 

Die Ausweitung des militärischen Wahrnehmungsfeldes

Ausgehend von seinen philosophischen Betrachtungen zu einer „Ästhetik des Verschwindens“, die der Medienphilosoph Paul Virilio (1986) durch die permanent schneller werdenden sozialen wie medialen Vorgänge in modernen postindustriellen Gesellschaften begründet sieht, leitet er für die Medienstrategien moderner Kriege „eine ständige Ausweitung des militärischen Wahrnehmungsfeldes“ (Virilio 1991, S. 155) ab. Für den Medientheoretiker war „der Erste Weltkrieg […] der erste mediatisierte Krieg der Geschichte“ (ebd., S. 156), weil die Medien Film und Fotografie für „die Aufklärungsfliegerei eine beherrschende Rolle bei der Durchführung der Operationen“ (ebd.) gewannen.

Im Zweiten Weltkrieg gelang es den Kampfpiloten der Royal Air Force dann die Luftschlacht um England gegen die deutsche Luftwaffe u. a. auch deshalb zu gewinnen, weil ihre Nachtjäger bereits im August 1940 „als erste mit Funkortung durch elektromagnetische Wellen ausgestattet“ (ebd., S. 160) waren. Dieses „Bordradar“ ermöglichte es dem britischen Piloten, „die Dorniers und Messerschmitt 110, die in einer Entfernung von fünf Kilometern durch die Nacht flogen, auf einem Bildschirm unterhalb seiner Windschutzscheibe zu ‚sehen‘“ (ebd.) und angreifen zu können, bevor die gegnerischen Piloten ihn überhaupt wahrgenommen hatten.
 

Ballistik des Lichts

Aktueller Endpunkt dieser Entwicklung sind „Waffen, die, selbst unsichtbar, sichtbar machen: Radar, Sonar, die hochempfindlichen Kameras der Beobachtungssatelliten“ (ebd., S. 159), schließlich der Einsatz bewaffneter Drohnen, den die US-Armee im „Krieg gegen den Terror“ in den 2000er‑Jahren perfektionierte, um möglichst zielgenau vermeintlich feindliche Kämpfer zu töten, dabei aber nicht selten Unschuldige und Zivilisten traf. Derzeit setzen die russischen Angreifer fast tagtäglich die schwer zu ortenden Drohnen völkerrechtswidrig direkt für gezielte Angriffe auf die kritische Infrastruktur und sogar auf die Zivilbevölkerung selbst in den ukrainischen Städten und Provinzen ein.
 

Bündelung medientechnologischer Strategien im Ukraine-Krieg

Für den aktuellen Ukraine-Krieg kann zudem konstatiert werden, dass alle „‚Waffengattungen‘“(Virilio 1997, S. 37) zum Einsatz kommen, die sich im Laufe der Kriegsgeschichte herausgebildet haben, von den Obstruktionswaffen im klassischen Verteidigungskrieg (z. B. Stellungskrieg) über den brutalen Einsatz von Zerstörungswaffen (z. B. Raketenangriffe) bis hin zu einer zunehmenden Nutzung von Kommunikationswaffen (z. B. Satellitenaufklärung), zu denen auch Cyberangriffe und Falschinformationskampagnen mit sogenannten „Fake News“ (Mascolo 2022) zu zählen sind, die Virilio in seiner, in den 1990er‑Jahren publizierten Theorie noch wenig im Blick hatte.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum die ukrainische Staats- und Militärführung darauf drängt, ganz spezifische schwere Waffen des Westens wie etwa den Kampfpanzer Leopard 2 erhalten zu wollen. Der moderne Kampfpanzer ist mittlerweile nicht nur eine Zerstörungswaffe, sondern mit seiner Wärmebildtechnik und seiner Schussreichweite von fünf Kilometern längst zu einer „unsichtbar sichtbar machenden“ Kommunikationswaffe geworden, also zu jener Waffengattung, die mehr und mehr über Sieg und Niederlage im modernen Krieg entscheidet.
 

Tödliche Kommunikation

Dass schließlich im modernen Krieg selbst das Handy zu einer Kommunikationswaffe werden kann, zeigt die Titelstory der „Süddeutschen Zeitung“ vom 03.01.2023: „Russland hat nach den ukrainischen Raketenanschlägen im Donbass in der Nacht zu Neujahr den Tod von 63 Soldaten bestätigt.“ (Süddeutsche Zeitung vom 03.01.2023, S. 1) Die ukrainische Seite behauptet, 400 Soldaten getötet und mehr als 300 verletzt zu haben. Getroffen wurde eine Truppenunterkunft, die das ukrainische Militär „wegen der hohen Aktivität von Datenverkehr mit Mobiltelefonen“ (ebd.) hatte orten können. Die Opferzahlen sind nicht verifizierbar. Als Fakt darf aber festgestellt werden, dass Handykommunikation aufgrund präziser Datenüberwachungssysteme im Krieg zu einer tödlichen Falle für die Nutzer werden kann.
 

Wenn Demokratien Krieg führen

Für die Betrachtung von Medienstrategien in modernen Kriegen greift die medientechnologische Perspektive allerdings zu kurz. Seit dem Zweiten Weltkrieg waren zunehmend auch demokratisch verfasste Gesellschaften im Zuge des „Kalten Krieges“ in „heiße“ kriegerische Auseinandersetzungen verstrickt. Am Beginn der 1950er‑Jahre kämpften US-Soldaten im Korea-Krieg, und Frankreich war in den Indochina- und später in den Algerien-Krieg verwickelt. Ab Mitte der 1960er‑Jahre bis 1973 führten die USA dann Krieg in Vietnam; in den frühen 1990er‑Jahren gemeinsam mit britischen Truppen einen ersten Golfkrieg gegen den Irak und nach den New Yorker Anschlägen vom 11. September 2001 schließlich den sogenannten „Krieg gegen den Terror“ in Irak und Afghanistan.

Für die Medienstrategien dieser Kriege gelten die konventionellen Regeln der Kriegspropaganda, wie sie etwa Bussemer im Folgenden beschreibt, nur eingeschränkt: „Typische Techniken sind etwa Täuschung, Desinformation und die (Zer)Störung der Kommunikationsinfrastruktur des Feindes.“ (Bussemer 2013, S. 7)

In offenen demokratischen Gesellschaften können solche Propagandastrategien, die neben den Militärs von den politischen Kräften in den kriegsführenden Regierungen getragen werden, durch freie, um Aufklärung des tatsächlichen Kriegsgeschehens bemühte Nachrichtenmedien unterlaufen werden. Kritische Berichterstattung aus dem Kriegsgebiet kann die von der Regierung propagierte Haltung zum Krieg wenden und einen Umschwung in der öffentlichen Meinung zum Krieg bewirken.
 

Kritische Kriegsberichterstattung wendet öffentliche Meinung

Hierfür ist die Wahrnehmung des Vietnam-Krieges in der US-Gesellschaft ein gutes Beispiel: 1971 deckte die Veröffentlichung eines Teils der insgesamt 7.000 Seiten umfassenden Pentagon Papiere1 durch die „Washington Post“ und die „New York Times“ auf, dass dem sogenannten Tonkin-Zwischenfall, durch den die USA 1964 in den Krieg eintraten, Falschinformationen von Militär, Geheimdiensten und Regierung zugrunde lagen (vgl. Langels 2014). Die veröffentlichten Pentagon-Papiere stellten zudem Einschätzungen des Vietnam-Krieges seitens des US-Verteidigungsministeriums dar. Sie verdeutlichten, dass der Vietnam-Krieg nicht zu gewinnen war und dass diese Tatsache den verantwortlichen Militärs und Politikern schon früh klar war, von ihnen gegenüber der Öffentlichkeit aber vertuscht wurde.

War die Mehrheit der US-Bevölkerung anfänglich den Bemühungen der Regierung gegenüber positiv eingestellt, durch einen Krieg den Einfluss des kommunistischen Nordvietnams auf den Süden des Landes einzudämmen, brachten besonders Bildinformationen über die Grausamkeiten des Krieges bereits Ende der 1960er‑Jahre die öffentliche Meinung in den USA ins Wanken. Am 1. Februar 1968 ging ein Pressefoto um die Welt. Es zeigte, wie der Polizeichef Saigons einen nordvietnamesischen Gefangenen per Kopfschuss liquidiert (vgl. yka/dpa 2018). Einen Monat später veröffentlichte das US-Magazin „Life“ einen Report über das Massaker von My Lai mit fast 130 Toten, das US-Soldaten unter Zivilisten in zwei südvietnamesischen Dörfern angerichtet hatten.
 



Die Veröffentlichung der Pentagon Papers wendete 1971 die öffentliche Meinung schließlich endgültig gegen ein weiteres US-Engagement in Vietnam. 1973 wurde es mit einem Waffenstillstandsabkommen dann tatsächlich beendet, nachdem die Proteste der US-Friedens- und Bürgerrechtsbewegung immer stärker geworden waren.
 

Der telematische Krieg

Medienstrategisch gänzlich anders gestaltete sich dagegen im Zweiten Golfkrieg der Eintritt der US-Armee und ihrer Verbündeten in den Konflik mit Luftangriffen auf Bagdad im Januar 1991. Der Nachrichtensender CNN übertrug live. Der Krieg, der Saddam Husseins Armee wieder aus Kuwait vertreiben sollte, wurde zum Reality-TV. Das „Auge“ der bunkersprengenden Bombe, dessen stürzender Blick hinein in den explodierenden Bunkerschacht einer irakischen Kommandozentrale als unverkennbare Ikone in Erinnerung bleibt, markierte den Beginn eines neuen medialen Kriegszeitalters, „in dem die Waffen zur unmittelbaren Kommunikation dominieren werden, und das dank eines weltweiten Nachrichtensystems und einer allgemeinen Fernüberwachung“ (Virilio 1997, S. 38).
 

See how the Gulf War began: 'The skies over Baghdad have been illuminated' (CNN, 25.01.2023)



Während das Fernsehen aus dem Vietnam-Krieg nur zeitversetzt berichten konnte, strahlten 1991 die TV-Networks die Kriegsbilder weltweit als ersten elektronischen Krieg in Echtzeit aus, als einen telematischen Krieg, der „durch eine totale Überwachung des elektromagnetischen Umfelds über Irak und eine vollständige Störung der Telekommunikation“ (ebd., S. 97) begann und die Bombardierung Bagdads vorbereitete. Telematisch auch deshalb, weil einerseits die Bomberpiloten nun ihre Ziele wie auf einer Videospielkonsole anvisierten und zerstörten, während die Fernsehzuschauer die Live-Kriegsaction wochenlang wie durch „ein geheimes Videozielgerät“ (ebd., S. 92) wahrnehmen konnten.

So strebt der telematische Krieg zum einen die totale Kontrolle über die Kommunikation an und nutzt zum anderen die Mediatisierung des Kriegsgeschehens, um auf Seiten der Zuschauer eine möglichst hohe Unmittelbarkeit des „Kriegs in Echtzeit“ (ebd., S. 39) zu bewirken, während auf Seiten der Piloten über „das Zielen per Bildschirm“ (ebd., S. 45) eine möglichst hohe (emotionale) Distanz durch eine mediale Abstrahierung ihrer tödlichen Tat aufgebaut werden soll.

Als ab April 2022 mit dem Rückzug aus der Westukraine absehbar war, dass die russische Armee ihre Kriegsziele nicht schnell erreichen können wird, propagierten die Staatsmedien das Feindbild, die Ukraine bedrohe Russlands staatliche Integrität. Wenig später erweiterten die TV-Kommentatoren dieses Feindbild noch und sehen Russland seither im Abwehrkampf gegen die gesamte westliche Wertegemeinschaft (vgl. Hartwich 2023).

Flankiert und ergänzt wird die mediale Kriegspropaganda durch veröffentlichte Statements von Wladimir Putin und seiner Gefolgsleute wie etwa Dmitrij Medwedew, die im Fernsehen oder auch in den sozialen Netzwerken immer wieder ein Atomkriegsszenario heraufbeschwören und durch diese Desinformationskampagne besonders in der Bevölkerung westlicher Länder Angst schüren wollen (vgl. Durach 2022).
 

Russland: alte und neue Propagandastrategien

Im aktuellen russischen Angriffskrieg auf die Ukraine finden sich viele der zuvor beschriebenen Medienstrategien wieder. So verfolgt beispielsweise das russische Staatsfernsehen seit dem Beginn des Krieges ganz offen die Ziele der klassischen Kriegspropaganda. Mit den von Bussemer beschriebenen Methoden von Falsch- und Desinformation gilt es, „die Moral in der Heimat hochzuhalten […] und den Feind propagandistisch zu bekämpfen“ (Bussemer 2013, S. 7). So verbreiteten die Staatsmedien anfänglich das von Wladimir Putin als Kriegsgrund bemühte Narrativ, es gelte, die ukrainische Bevölkerung von einem angeblichen Nazi-Regime zu befreien.
 

Wladimir Putin zum Angriff Russlands auf die Ukraine am 24.02.22 (Phoenix, 24.02.2022)



Kritik der Militärblogger als perfide Kriegspropaganda

Zugleich entwickeln sich in der russischen Propagandalandschaft auch einige neue Methoden, Medien persuasiv einzusetzen. Nach der Mobilmachung im September 2022 rumorte es in Teilen der russischen Bevölkerung. Männer flüchteten, um nicht eingezogen zu werden. Kritik an der Kriegsführung wurde laut. Das Phänomen der Militärblogger, kurz Miblogger genannt, entstand. Meist Soldaten an der Front, nutzen die Miblogger in der Regel den Telegram-Kanal im Internet für Kriegsberichte und damit verbundener Kritik an der Militärführung. So halten sie das Kriegsthema in der russischen Öffentlichkeit virulent und verbinden ihre Kritik zumeist mit der Forderung nach einer Verstärkung und Effektivierung der Kriegsaktionen. Kritische Kriegsberichterstattung wird so zu einer neuen, perfiden Form der Kriegspropaganda, die aktuell die Staatsführung nun in ihre „offizielle“ Informationspolitik einzubeziehen beginnt (vgl. pn 2023).
 

Putins autokratische Mediengesellschaft

Kriegskritische Äußerungen, die auf eine Beendigung des Krieges abzielen, wurden dagegen in Putins autokratischer Mediengesellschaft etwa durch die Sprachregelung, das Wort „Krieg“ in Verbindung mit dem Ukraine-Krieg nicht verwenden zu dürfen, und durch Mediengesetze1, die eine negative Berichterstattung über die russischen Streitkräfte unter Strafe stellen, mundtot gemacht.

Regierungskritische Sender und Zeitungen wurden nach Kriegsbeginn schnell verboten; deren Spitzenpersonal außer Landes getrieben. So wurde Russlands wichtigster Oppositionssender Doschd gleich zu Beginn des Ukraine-Krieges schon im März 2022 verboten. Im Sommer folgte dann das Verbot der größten oppositionellen russischen Zeitung „Novaja Gaseta“. Doschd übersiedelte nach Riga und sendete von dort Internetfernsehen, bis der Sender Ende 2022 auch in Lettland verboten wurde. Nun sendet Doschd aus dem Exil in den Niederlanden und arbeitet mit westlichen Medien, etwa mit dem Kultursender ARTE bei der Aufdeckung von russischen Falschinformationen zusammen (vgl. Borzunova 2022)
 

Ukraine: Meinungsfreiheit unter Kriegsrecht?

Schon vor dem Beginn des russischen Angriffskrieges ließ die ukrainische Staatsführung Ende 2021 zwei prorussische Sender verbieten (vgl. dpa 2021; SZ/dpa 2021). Am 21.03.2022 unterschrieb der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj dann ein Dekret, das die Zusammenlegung aller ukrainischen Sender vorsah. Das sollte zu einer einheitlichen Informationspolitik führen, wohl auch, um Informationen über die Abwehraktionen des ukrainischen Militärs nicht an die Öffentlichkeit und damit auch an den Gegner gelangen zu lassen (vgl. Reuters 2022). Das Dekret stand unter dem Vorbehalt des Kriegsrechts. Sein Inkrafttreten wurde nicht klar geregelt.

Schon zuvor hatten die vier größten ukrainischen Sender 1+1 media, StarLightMedia, Media Group Ukraine und Inter Media Group beschlossen, gemeinsam mit dem Kultur- und Informationsministerium das neue Nachrichtenprogramm United News zu starten. Auch hier war die Begründung, russischen Falschmeldungen, etwa durch den Auslandssender Russia Today, begegnen zu wollen (vgl. Jungblut 2022).

Diese Maßnahmen können einerseits als verständliche Notwehrreflexe gegenüber einer als übermächtig erscheinenden russischen Propagandamaschinerie auch im eigenen Land verstanden werden. Besonders das erlassene Dekret zeugt aber andererseits von einem starken Misstrauen der ukrainischen Staatsführung gegenüber dem Verantwortungsbewusstsein von TV-Redaktionen, eigenständig zu entscheiden, welche Informationen über den Kriegsverlauf veröffentlicht werden oder nicht. Ob staatlich verordnet oder freiwillig – eine derartige Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit unter Kriegsrechtbedingungen höhlt die Grundfeste eines demokratischen Mediensystems aus und wurde vom Deutschen Journalistenverband daher zu Recht als „Zensur“ (DJV 2022) kritisiert.

In der Summe führen die medienpolitischen Maßnahmen zu einer Kanalisierung und Zentralisierung der Kommunikation, wobei seitens des Staates die Auftritte Selenskyjs zum zentralen Element der Informationspolitik über die Lage in der Ukraine nach innen wie nach außen wurden.
 

Selenskyjs postmoderne Performance

Auch wenn sie die ersten drei Jahre der Präsidentschaft Selenskyjs kritisch sieht, weil es u. a. „offensichtlich große Toleranz für Korruption und einige zwielichtige Leute in seinem Umfeld“ (Rudenko 2023) gab, bewertet Olga Rudenko, Chefredakteurin der staatsfernen Zeitung „Kjiv Independent“, das Handeln des ukrainischen Präsidenten seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges positiv: „Er macht einen sehr guten Job, wenn es um Öffentlichkeitsarbeit geht.“ (Ebd.)

Als ehemaliger Schauspieler und Comedian beherrscht der Politiker Selenskyj die mediale Präsentation und freie Rede vor der Kamera perfekt. Seine Auftritte können in mehrfacher Weise als postmodern betrachtet werden. So bedient sich seine Medienstrategie effektvoller Anleihen des populären Kinos. Wenn er gleich zu Kriegsbeginn vor bewegter Selfie-Kamera in Kiew steht, mit sanfter Stimme und freundlichem Blick den Falschmeldungen im Internet entgegentritt, er hätte die Armee zum Niederlegen der Waffen aufgefordert, und seine Landsleute ermuntert, die Ukraine niemals aufzugeben (vgl. AFP Deutschland 2022), dann gleichen solche Auftritte den Videos von Katniss Everdeen (Jennifer Lawrence), mit denen sie in Tribute von Panem – Mockingjay, Teil1 (USA 2014) die Bevölkerung von Panem zum Aufstand gegen das Regime von President Snow (Donald Sutherland) auffordert.
 

LEBENSZEICHEN VON SELENSKYJ: Tapferer Präsident der Ukraine ruft Bürger zum Kampf auf (WELT Netzreporter, 26.02.2022)



Wenngleich Selenskyjs Videobotschaften nicht so dramatisch in die Höhe getrieben sind wie im fiktiven Blockbuster, verfehlen sie ihre persuasive Wirkung nicht. Medienprofi Selenskyj und die Medienstrategen um ihn herum haben aus dem ukrainischen Präsidenten im Krieg „einen Kämpfer gegen dunkle Mächte“ (Scharnigg 2022/23) geformt.

Zu dieser Inszenierung gehört, dass sein Militär-Outfit sich postmoderner Bezüge zur Kriegsgeschichte bedient und dem „Siren Suit“, dem Bunker-Overall gleicht, den Winston Churchill im Zweiten Weltkrieg bei manchen Treffen mit Verbündeten und bei einzelnen seiner Radioansprachen trug. Damit drückte er Solidarität mit der kämpfenden Truppe aus, während er seinen Landsleuten Mut zusprach, den Krieg gegen die Nazis durchzuhalten und letztlich zu gewinnen. Selenskyj muss und kann diese Rolle jetzt selbst sehr gut verkörpern, weil es bei Putins Angriffskrieg – ähnlich wie seinerzeit beim deutschen Angriffskrieg auf Großbritannien – um nichts weniger geht als um die Existenz seines Landes.

Mit Recht prangert Selenskyj die gezielten mörderischen völkerrechtswidrigen Raketenangriffe der russischen Armee auf die ukrainische Zivilbevölkerung an, benennt russische Kriegsverbrechen als Genozid an seinem Volk und bezeichnet – wie gerade wieder bei seiner Video-Ansprache während der Eröffnungsfeier der Berlinale 2023 – den ukrainischen Abwehrkampf als Krieg zwischen Zivilisation und Tyrannei. Selenskyjs Äußerungen sind folgerichtig und nachvollziehbar, geht es doch letztlich um die Erreichung des persuasiven Kommunikationsziels, von den westlichen Staaten weitere Militärhilfe und Waffenlieferungen zu erhalten, um gegen den übermächtigen Gegner bestehen, ja ihn gar zum Aufgeben bewegen zu können.

Kehrseite dieser Medienstrategie ist es, Kritik am ukrainischen Militär möglichst ganz zu vermeiden, sogar – wie beschrieben – durch Mediengesetze zu unterbinden und über Fehlverhalten in der ukrainischen Gesellschaft, etwa Korruption, nicht zu berichten. Die kritische ukrainische Journalistin Olga Rudenko erklärt, in welchen Zwiespalt ukrainische Journalisten aufgrund dieser Medienstrategie unter Kriegsrecht geraten sind:

Wir haben kürzlich einen Artikel über verschwundene Waffen in der ukrainischen Armee veröffentlicht. […] Es ist ein Tabu, weil es die westliche Unterstützung für die Ukraine beeinflussen kann. […] Tatsächlich könnten wir dafür strafrechtlich verfolgt werden. Aber ich glaube, wenn man die Aufmerksamkeit darauf lenkt, dann gibt es eine Chance auf Verbesserung.“ (Rudenko 2023, S. 19).


Deutsche Nachrichtenmedien: einseitige kritische Kriegsberichterstattung

Westliche Nachrichtenmedien, wie etwa das öffentlich-rechtliche deutsche Fernsehen, könnten solche mutigen Ansätze investigativen Journalismus in ihrer Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine viel stärker aufnehmen, haben sich aber gleich zu Beginn des Ukraine-Krieges dafür entschieden, mehrheitlich auf die ukrainische Medienstrategie einzuschwenken: Die kritische Kriegsberichterstattung lenkte den Blick auf die verbrecherische Kriegsführung des Aggressors. TV-Reportagen und ‑Brennpunkte schalteten zu Beginn des Krieges zu Ukrainern auf Dachböden und in Kellern, die von den brutalen Luftangriffen der russischen Armee berichteten. Das Leiden der Zivilbevölkerung unter dem russischen Bomben- und Raketenhagel prägte eine stark personalisierte und emotionalisierende Berichterstattung.

An den Grenzbahnhöfen präsentierten überwiegend TV-Reporterinnen Schicksale geflüchteter ukrainischer Frauen und ihrer Kinder. Deutsche Militärexperten sprachen viel über die russischen Angriffsstrategien. Was in der kritischen investigativen Berichterstattung über frühere Kriege wie etwa den sogenannten „Krieg gegen den Terror“ selbstverständlich war, findet in den deutschen Nachrichtenmedien heute bezüglich des Ukraine-Krieges kaum statt: Seinerzeit in den 2000er‑Jahren wurde die schmutzige, menschenverachtende Seite des Krieges nicht nur beim Gegner (z. B. Al‑Quaida-Terror in besetzten Gebieten), sondern auch in der Kriegsführung der demokratischen, vornehmlich der US-Streitkräfte aufgedeckt (z. B. die Foltertechnik des Waterboardings; der Folterskandal in Abu Graib oder Drohnenangriffe auf Unschuldige). Die aktuelle Haltung der kritischen Kriegsberichterstattung über den Ukraine-Krieg hierzulande ist es dagegen, kritischen Fragen zur Kriegsführung der ukrainischen Armee, etwa zu Formen von „friendly fire“, zu sogenannten Kollateralschäden von Militäroperationen oder zu Korruption in der Armee wenig nachzugehen.

So erfahren die deutschen TV-Zuschauer fast nichts über die Gegenaktionen der ukrainischen Armee und deren Taktik. Wenn überhaupt, dann meistens nur, wenn die Aktionen erfolgreich waren, wie im Frühjahr 2022 bei der Zurückdrängung der russischen Armee aus der Westukraine. Diese Sicht auf den Krieg gründet sich auf eine durchaus verständliche, ja geradezu natürliche menschliche Reaktion, dem Schwächeren helfen und den sich offensichtlich über alle Menschenrechte hinwegsetzenden „Bullys“ der Weltpolitik Einhalt gebieten zu wollen. Es ist eine moralische Haltung, die sich dabei über spezifische Grundsätze des Qualitätsjournalismus wie Ausgewogenheit, Pluralität, Vielfalt und Objektivität hinwegsetzt. Diese Weglassung kann auch als eine Form der Propaganda gesehen werden.
 

Anmerkungen:

1) 2011 von der US-Regierung komplett freigegeben, sind die Papiere heute im National Archive einsehbar: Pentagon Papers | National Archives

2) Hier beziehe ich mich u. a. auf Recherchen von Melanie Fiebich und Fabian Meier, Studierende im Fachbereich Medienwissenschaft der Filmuniversität Babelsberg KONRAG WOLF, im Rahmen meines Seminars „Medien und Politik“ im WS 2022/23

Literatur:

AFP Deutschland: Selenskyj in Videobotschaft aus Kiew: „Ich bin hier.“ In: YouTube, 26.02.2022. Abrufbar unter: www.youtube.com

Borzunova, M.: Fake News. 2022: Wie Russlands Propaganda immer aggressiver wurde. In: arte, 2022. Bis 04.01.2024 abrufbar unter: www.arte.tv

Bussemer, T.: Propaganda. Theoretisches Konzept und geschichtliche Bedeutung, Version: 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 02.08.2013. Abrufbar unter: docupedia.de, DOI: http://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.239.v1

DJV: Zwangsfusion. Wie demokratisch ist das, Herr Selenskyj? In: DJV Blog, 21.03.2022. Abrufbar unter: www.djv.de

dpa: Pressefreiheit. Selenskyj verbietet zwei Oppositionssender in der Ukraine. In: Handelsblatt, 29.12.2021. Abrufbar unter: www.handelsblatt.com

Durach, F.: Putin-Scherge Medwedew zeigt Russlands Atomschlag-Logik. In: Merkur, 05.11.2022. Abrufbar unter: www.merkur.de

Hartwich, I.: Unerbittliche Propaganda auf allen Kanälen: Russland stellt sich dem Heimpublikum als friedliebendes Land dar, das vom Westen bedroht wird. In: Neue Zürcher Zeitung, 12.02.2023. Abrufbar unter: www.nzz.ch

Jungblut, P.: Ukrainische Medien: Russische Sender in Europa abschalten. In: BR24, 26.02.2022. Abrufbar unter: www.br.de

Langels, O.: Tonkin-Zwischenfall. Als die USA in den Vietnamkrieg eintraten. In: Deutschlandfunk Kultur, 02.08.2014. Abrufbar unter: www.deutschlandfunk.de/

Mascolo, G.: Putins stille Waffen. In: Süddeutsche Zeitung, 03./04.09.2022, S. 15

Reuters: Citing martial law, Ukraine president signs decree to combine national TV channels into one platform. In: Reuters, 20.03.2022. Abrufbar unter: www.reuters.com

Rudenko, O.: „Wir sind nicht neutral“. Interview mit Nicolas Freund. In: Süddeutsche Zeitung, 04.01.2023, S. 19

pn: Sie lügen für Geld. Putin rekrutiert Militärblogger und besticht sie mit hohen Posten. In: Focus online, 17.01.2023. Abrufbar unter: www.focus.de

Scharnigg, M.: Der Außenverteidiger: Wolodimir Selenskij. In: Süddeutsche Zeitung, 31.12.2022/01.01.2023, S. 54

SZ/dpa: Ukraine. Weitere Sender der Opposition geschlossen. In: Süddeutsche Zeitung, 29.12.2021. Abrufbar unter: www.sueddeutsche.de

Virilio, P.: Ästhetik des Verschwindens. Berlin 1986

Virilio, P.: Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung. Frankfurt a. M. 1991

Virilio, P.: Krieg und Fernsehen. Frankfurt a. M. 1997

yka/dpa: Jetzt ist es 50 Jahre alt. Dieses Bild änderte den Vietnamkrieg – und den Blick auf die USA. In: Focus online, 27.01.2018. Abrufbar unter: www.focus.de