Mit Kunst gegen Mediensüchte?

Die Social-Media-Ausstellung „Be.Like.Me“ der Stiftung Welt der Versuchungen in Erfurt

Nicola Döring

Prof. Dr. Nicola Döring ist Psychologin und leitet das Fachgebiet „Medienpsychologie und Medienkonzeption“ an der Technischen Universität Ilmenau. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören Inhalte, Nutzung und Wirkung digitaler Medien einschließlich sozialer Medien und Tools der Künstlichen Intelligenz.

Die im Jahr 2021 gegründete Stiftung Welt der Versuchungen ist Initiatorin eines neuen Ausstellungshauses in der Thüringer Landeshauptstadt Erfurt. An der Schnittstelle von Kunst, Wissenschaft, Gesundheitsförderung und Suchtprävention soll die ehrliche Auseinandersetzung mit allen möglichen Abhängigkeiten gefördert werden. Die vom 16. August bis zum 15. November 2024 gezeigte Ausstellung „Be.Like.Me. Social Media und ich“ widmet sich den Versuchungen sozialer Medien. In den nächsten Jahren werden unter anderem Ausstellungen zu digitaler Pornografie und zu Onlineglücksspiel folgen. Was kann der künstlerische Zugang der Medienpädagogik bieten?

Online seit 10.10.2024: https://mediendiskurs.online/beitrag/mit-kunst-gegen-mediensuechte-beitrag-772/

 

 

Das Medienzeitbudget in Deutschland ist in den letzten Dekaden kontinuierlich angestiegen. Onlinemedien und die allgegenwärtigen Smartphones spielen dabei eine wichtige Rolle. Rechnet man alle Formen der Mediennutzung zusammen, so zeigt sich, dass in Deutschland im Jahr 2023 im Schnitt gut elf Stunden pro Tag mit Mediennutzung verbracht wurden (vgl. Vaunet 2023). Die Mehrzahl der Jugendlichen war dabei regelmäßig – nicht selten mehrmals am Tag – auf sozialen Medien wie WhatsApp (94 %), Instagram (62 %) und TikTok (59 %) aktiv (vgl. mpfs 2023). Es besteht kein Zweifel, dass insbesondere digitale Medien im Tagesverlauf sehr oft und teilweise auch stundenlang konsumiert werden und dass es nicht selten schwerfällt, sich ihrem Reiz zu entziehen. Das gilt auch (oder gerade), wenn man sich eigentlich anderen Dingen widmen sollte oder wollte. Menschen bezeichnen daher sich selbst und andere immer öfter als mediensüchtig: Von „Internet-Sucht“ ist die Rede und von „Handy-Sucht“ oder auch spezifischer von „TikTok-Sucht“ und von „Online-Pornografie-Sucht“.
 

Anerkennung und Prävention von Mediensüchten

„Mediensucht“ ist dabei jedoch ein umgangssprachlicher Begriff. Denn die offiziellen Krankheitskataloge haben bislang lediglich die Computerspielstörung und die Online-Glücksspielsucht sowie zwanghaftes Sexualverhalten (wozu auch die Online-Pornografie-Nutzungsstörung zählt) als separate Störungsbilder anerkannt. Bei anderen Formen der exzessiven Nutzung digitaler Medien wird aktuell anhand des Forschungsstandes noch kontrovers diskutiert, ob hier abgrenzbare Krankheitsbilder vorliegen oder nicht – zum Beispiel wenn es sich um Symptome bereits bekannter Störungen handelt. So ist übermäßige Mediennutzung als eine Art Selbstbehandlung nicht untypisch bei Menschen, die beispielsweise unter sozialen Ängsten oder Depressionen leiden. Zudem kann eine sehr intensive Mediennutzung durchaus zweckmäßig und gesund sein, etwa wenn sie im Zusammenhang mit Bildung, Beruf oder Hobbys stattfindet.

Unabhängig von der genauen psychiatrischen Einordnung besteht aber kein Zweifel, dass eine Reihe von Menschen zeitweise oder dauerhaft eine problematische Nutzung digitaler Medien mit negativen Konsequenzen bei sich und Angehörigen bemerkt. Problematischer Medienkonsum wird daher im Rahmen der Suchtprävention und der Medienpädagogik zunehmend thematisiert: Es geht beispielsweise um die Entwicklung von Fähigkeiten der Gefühlsregulation und Problembewältigung, um bei Belastungen nicht auf Suchtverhalten auszuweichen. Es geht aber auch um den Aufbau von Medienkompetenz, etwa um zu durchschauen, wie digitale Medien mit ihren Algorithmen es schaffen, die Aufmerksamkeit so stark in den Bann zu ziehen und wie man beispielsweise durch achtsame Nutzung und Digital Detox gegensteuern kann. Präventionsmaßnahmen betreffen dabei nicht nur individuelle Verhaltensänderungen, sondern auch die Verhältnisprävention, also den gesellschaftlichen Umgang mit Medien und ihre technische und rechtliche Gestaltung (vgl. Lopez-Fernandez/Kuss 2020; Romero Saletti et al. 2021).
 

Die Stiftung Welt der Versuchungen

Die Stiftung Welt der Versuchungen, gegründet im Jahr 2021, initiiert ein neues Ausstellungshaus in der Thüringer Landeshauptstadt Erfurt (vgl. welt-der-versuchungen.de). Das Konzept des Hauses verbindet Kunst, Wissenschaft, Gesundheitsförderung und Suchtprävention mit dem Ziel, sich umfassend mit aktuellen Formen der Sucht auseinanderzusetzen. Dabei stehen nicht nur klassische Suchtmittel wie Alkohol, Nikotin und Cannabis im Fokus, sondern auch digitale Medien. Gefördert wird das Ausstellungshaus vom Deutschen Bundestag und dem Thüringer Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie. Das Projekt arbeitet eng zusammen mit der Suchthilfe in Thüringen (vgl. sit-online.org).

Das in den nächsten Jahren zu errichtende Ausstellungshaus soll einen Ort der Begegnung, des persönlichen Gesprächs und der direkten Erfahrung bieten. Ohne pädagogischen Zeigefinger will es Menschen unterschiedlichster Altersgruppen und Hintergründe mit bildender Kunst, interaktiven Installationen, Filmen, Vorträgen, Lesungen, Tanz und Musik erreichen. In der Suchtpräventionsarbeit gibt es nicht den einen Ansatz. Das innovative Projekt ergänzt das Portfolio, indem es inmitten der Gesellschaft wirkt und das weitgehend schambehaftete Thema entstigmatisiert und enttabuisiert. Daher setzt es auf direkte Begegnung und analoge Erlebnisse vor Ort.
 


Das in den nächsten Jahren zu errichtende Ausstellungshaus soll einen Ort der Begegnung, des persönlichen Gesprächs und der direkten Erfahrung bieten. Ohne pädagogischen Zeigefinger will es Menschen unterschiedlichster Altersgruppen und Hintergründe mit bildender Kunst, interaktiven Installationen, Filmen, Vorträgen, Lesungen, Tanz und Musik erreichen.“


 

Die Social-Media-Ausstellung „Be.Like.Me“

Noch bis zum 15. November 2024 zeigt die Stiftung Welt der Versuchungen die von der ersten Vorständin der Stiftung und Chefkuratorin Dr. Susanne Rockweiler federführend gestaltete Ausstellung „Be.Like.Me. Social Media und ich“ (siehe Abbildung 1). Diese Ausstellung widmet sich den sozialen Medien, die für jüngere aber auch für ältere Menschen einen so starken Reiz ausüben können, dass es nicht selten zu eigentlich ungewollter übermäßiger Nutzung kommt. Da das neue Ausstellungshaus erst errichtet werden muss, wird die Ausstellung in angemieteten Räumen in der Erfurter Innenstadt gezeigt, gut erreichbar mitten in der Fußgängerzone (Am Anger 28/29).
 

Abbildung 1. Key Visual, BE.LIKE.ME. Social Media und ich – ein Projekt der Stiftung Welt der Versuchungen. Created with Midjourney by Naroska, 2024. Quelle: https://www.facebook.com/photo/?fbid=946018747565083&set=a.562059479294347


 

Auf zwei großflächigen Etagen bietet die Ausstellung zwölf künstlerische Positionen. Schulklassen verbringen bei den Führungen in der Regel rund zwei Stunden damit, die einzelnen Objekte zu entdecken. Wer sich auf Erkundungstour begibt, findet für jedes Werk eine offene Frage, die zur aktiven gemeinsamen Auseinandersetzung mit dem jeweiligen künstlerischen Impuls einlädt (vgl. Be.Like.Me-Erkundungstour). Als Einblick in die Ausstellung sollen im Folgenden sieben ausgewählte Werke kurz vorgestellt werden.
 

Erfurt Unfiltered und sechs weitere Werke

Die netzbasierte Videoinstallation Erfurt Unfiltered. TikTok and the Emerging Face of Culture von Marc Lee vermittelt nicht nur geistig, sondern auch unmittelbar körperlich den Eindruck des Eintauchens in die Social-Media-Welt: In einer vom sonstigen Ausstellungsraum abgetrennten Kabine steht man zwischen drei überpersonengroßen Projektionswänden, auf denen in einem Endlosstream lokale und internationale TikTok-Videos abgespielt werden. TikTok übt für viele Menschen bereits auf dem kleinen Smartphone-Screen große Anziehungskraft aus. Diese wird durch die riesigen Projektionswände nun vervielfacht. Der Künstler überblendet die TikTok-Videos immer wieder durch Zwischenfragen an das Publikum, um zum Nachdenken anzuregen.

Die Fotoserie Family Portraits von Maria Mavropoulou ist ein Kommentar auf zeitgenössische familiäre Geselligkeit im Digitalzeitalter. Man sieht Schlafzimmer, Wohnzimmer und Esszimmer im Halbdunkel. Die Menschen sind nicht sichtbar, sie werden durch ihre eingeschalteten Digitalgeräte vertreten, deren Bildschirme hell leuchten, aber leer sind. Die Bilder haben eine magische und unheimliche Ausstrahlung.

Beim Publikum sehr beliebt ist die interaktive Multimediainstallation Your:R:Code von Peter Weibel und Bernd Lintermann (siehe Abbildung 2). Man tritt nacheinander vor insgesamt fünf nebeneinander angeordnete große Paneele. Jedes Paneel zeigt ein Abbild des gegenüberstehenden Körpers in unterschiedlichen Codes: Beginnend mit einem einfachen Spiegelbild, über eine Schätzung von Merkmalen wie Körpergröße, Geschlecht und Alter setzt sich die Analyse fort zu präferierten Social-Media-Plattformen und genetischen Codes. Die Paneele mit den fließenden Codierungen haben eine sehr ansprechende, futuristische Ästhetik, gleichzeitig machen sie spürbar, wie die Technologien der Künstlichen Intelligenz die Nutzenden informationell inkorporieren.
 

Abbildung 2. Installationsansicht mit Besucherin vor dem Objekt Your:R:Code 2017, von Peter Weibel und Bernd Lintermann, © ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe. Foto: Jonas Zilius. Quelle: https://www.facebook.com/photo?fbid=971356155031342&set=pcb.971356215031336


 

Einen hohen Faszinations- und Gruselfaktor vermittelt auch die computerbasierte Installation TrustAI von Bernd Lintermann und Florian Hertweck. Hier sitzt man am Bildschirm einem durch einen sprechenden Frauenkopf verkörperten System der Künstlichen Intelligenz gegenüber. Die KI verwickelt den Menschen in ein Gespräch, stellt diverse persönliche Fragen. Sie spielt dabei mit der Neugier des Publikums, das sich auf das Experiment einlässt, um zu sehen, wohin das Gespräch führt. Bis die KI dann schließlich zurückspielt, was sie über das Gegenüber bereits herausgefunden hat. Manche Gesprächsverläufe enden sogar damit, dass die KI plötzlich das äußere Erscheinungsbild der Nutzenden annimmt.
 


Das interaktive Spiel mit den vielfältigen materialen Objekten macht sehr viel Spaß, vermittelt eindringliche Erlebnisse und diverse Aha-Effekte. Schön ist gerade für das jüngere Publikum auch der Doppeleffekt, dass hier Kunst einen neuen Blick auf Medien ermöglicht und dass gleichzeitig über das alltagsnahe Social-Media-Thema zeitgenössische Kunst greifbarer wird.“



Die Kuratorin Susanne Rockweiler führt fast täglich Gruppen durch die Ausstellung und ist daher mit den unterschiedlichen Reaktionen des Publikums gut vertraut. Als ein Ausstellungsbesucher nach längerer Anreise vor Ort sein Handy laden wollte, konnte sie umgehend weiterhelfen. Denn die Installation Recharge von Dries Depoorter ist genau dafür gemacht. Geboten wird eine Ladestation mit passenden Ladekabeln für unterschiedliche Handymodelle. Daneben ein Liegestuhl, der während des Akkuladens folgerichtig auch den Menschen zum Aufladen seiner Kräfte einlädt. Nach kurzem Ausprobieren wird klar: Der Ladevorgang des Handys wird nur fortgesetzt, solange der Mensch im Liegestuhl die Augen geschlossen hält. „Wovon träumst du?“ ist die Frage, die man sich beim Erkunden dieses Werkes auf Vorschlag der Ausstellungsmacherin stellen kann.

Neben dem Innehalten und Träumen, wie es das Werk Recharge anregt, gibt es noch einen zweiten künstlerischen Vorschlag gegen die Mediensucht: achtsames Atmen. Beim partizipativen Kunstprojekt Breathe With Me von Jeppe Hein greift man zum in blaue Farbe getauchten Pinsel und malt eine senkrechte Linie – so lang wie der eigene Atem reicht (siehe Abbildung 3).
 

Abbildung 3: Partizipative Gestaltung von Breathe With Me von Jeppe Hein. Installationsansicht Be.Like.Me., Courtesy: Jeppe Hein. Quelle: https://www.facebook.com/photo?fbid=971356158364675&set=pcb.971356215031336



Wer schließlich beim Verlassen der Ausstellung achtsam genug ist, um noch einen letzten Blick auf die Wände zu werfen, sieht rechts einen flackernden Neonschriftzug. Die Leuchtschriftinstallation von Paula Wolber kommentiert die Kontroversen und Ambivalenzen rund um soziale Medien mit einem einzigen Wort: „Naja“. Sie entlässt uns somit mit einem augenzwinkernden und nachdenklichen Kommentar. Auch wenn die Ausstellung durch ein umfassendes Konzept der Kunstvermittlung begleitet wird, wird sie dem Selbstanspruch gerecht, nicht pädagogisch zu belehren, sondern vor allem kreativ zu inspirieren.

Das interaktive Spiel mit den vielfältigen materialen Objekten macht sehr viel Spaß, vermittelt eindringliche Erlebnisse und diverse Aha-Effekte. Schön ist gerade für das jüngere Publikum auch der Doppeleffekt, dass hier Kunst einen neuen Blick auf Medien ermöglicht und dass gleichzeitig über das alltagsnahe Social-Media-Thema zeitgenössische Kunst greifbarer wird.
 

Ausblick

Die Ausstellung „Be.Like.Me“ ist noch bis zum 15. November 2024 in Erfurt zu sehen und bietet Führungen für Gruppen. Sie wird sich danach voraussichtlich als Wanderausstellung buchen lassen. Zukünftige Ausstellungen der Stiftung Welt der Versuchungen werden sich in den nächsten Jahren mit den Verführungen von digitaler Pornografie und Onlineglücksspiel befassen. Im Jahr 2025 wird anlässlich der Legalisierung zunächst Cannabis thematisiert. Einen Vorgeschmack auf das analoge Ausstellungserlebnis bieten die umfangreichen Hintergrundinformationen im Web, auf Facebook und Instagram sowie der liebevoll gestaltete gedruckte Ausstellungskatalog.
 

Literatur:

Be.Like.Me-Erkundungstour: Be.Like.Me. Social Media und ich. Erkundungstour. In: welt-der-versuchungen.de. Abrufbar unter: www.welt-der-versuchungen.de (letzter Zugriff: 07.10.2024)

Lopez-Fernandez, O./Kuss, D. J.: Preventing Harmful Internet Use-Related Addiction Problems in Europe. A Literature Review and Policy Options. In: International Journal of Environmental Research and Public Health; Ausgabe 17(11):3797, 2020

mpfs: JIM-Studie 2023. Jugend, Information, Medien. Abrufbar unter: www.mpfs.de (letzter Zugriff: 07.10.2024)

Romero Saletti, S. M./Van den Broucke, S./Chau, C.: The effectiveness of prevention programs for problematic Internet use in adolescents and youths. A systematic review and meta-analysis. Cyberpsychology.  In: Journal of Psychosocial Research on Cyberspace, 2/2021/15. Abrufbar unter: cyberpsychology.eu (letzter Zugriff: 07.10.2024)

sit-online.org: Suchthilfe in Thüringen. Abrufbar unter: sit-online.org (letzter Zugriff: 07.10.2024)

Vaunet : VAUNET-Mediennutzungsanalyse. Mediennutzung in Deutschland 2023. Abrufbar unter: vau.net (letzter Zugriff: 07.10.2024)

welt-der-versuchungen.de: Welt der Versuchungen. Das neue Ausstellungshaus. Abrufbar unter: www.welt-der-versuchungen.de (letzter Zugriff: 07.10.2024)