Poltergeister der Unterhaltung: Paranormal Television

Uwe Breitenborn

Dr. Uwe Breitenborn ist hauptamtlicher Prüfer bei der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF), Dozent, Autor und Bildungsreferent bei der Medienwerkstatt Potsdam.

Auf den Bildschirmen wimmelt es von Spuk- und Geisterformaten, gern auch Paranormal Television genannt. Im angelsächsischen Raum haben diese Produktionen Konjunktur, allen voran in den USA – den „Unheimlichen“ Staaten von Amerika. Auch hierzulande funktionieren diese Formate hervorragend. Ob Paranormal Witness – Unerklärliche Phänomene, Paranormal Investigation – Geistern auf der Spur oder passend zur aktuellen Situation Paranormal Lockdown (auf Deutsch etwas banal: 72 Stunden im Geisterhaus), immer werden mit eindringlichem Authentizitätsanspruch übersinnliche Erscheinungen thematisiert. Ähnliches gilt auch für deutsche Produktionen wie z.B. Haunted – Seelen ohne Frieden. Ein Trend ist dabei unübersehbar: weniger Augenzwinkern, mehr Täuschung. Und wie in anderen Reality-Doku-Formaten verschwinden auch hier die Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentation.

Printausgabe tv diskurs: 25. Jg., 1/2021 (Ausgabe 95), S. 44-47

Vollständiger Beitrag als:

 

Reality-TV oder einfach nur TV-Reality?

Dass Nonfiktion – gern auch manchmal als Realität verkannt – und Fiktion im medialen Kontext nahe beieinanderliegen, ist eine Binsenweisheit. Dokumentation und Fiktion galten einst als getrennte Modi der Repräsentation. „Beide Modi verbindet der Aspekt der Narration, denn es geht eben um das Erzählen von möglichen oder realen Welten“ (Mikos 2017, S. 223).

Im Zeitalter digitaler Medienkonvergenz verschwimmen die Grenzen zwischen den Medienformaten. Die Mediengeschichte ist reichhaltig bestückt mit sogenannten Mockumentarys, Fake-Dokus und Realitätstäuschungen. Wie man es auch nennen mag, das Prinzip ist lange bekannt, sei es die Rob-Reiner-Produktion This Is Spinal Tap (1984) über eine fiktive Metalband, David Holzman’s Diary (1967) oder der kasachische Irrwitz Borat von 2006. 2012 sorgte beispielsweise die fiktionale Doku This Ain’t California für Furore. Fake History oder legitime künstlerische Interpretation? Schon Mitte der Nullerjahre hob eine kontroverse Diskussion über Scripted Reality an, wobei es auch um die Frage ging, ob diese Formate nicht eine Erosion des Vertrauensverhältnisses in mediale Formatierungen darstellen. Was ist echt, was Fake? Manche sahen gravierende Wirkungsrisiken und jugendschützerische Belange berührt, andere vertrauten auf Medienkompetenz (siehe dazu auch Bergmann/Gottberg/Schneider 2012).
 

KinoweltTV: Trailer This Is Spinal Tap



Die Produzenten solcher Formate mieden zudem den Realitätsbegriff und verwendeten lieber die Zuschreibung Scripted Entertainment, die letztlich auch zielführender ist. Denn wenn man es richtig bedenkt, ist der Begriff „Reality-TV“ irreführend. Der gern verwendete Terminus beschreibt letztlich das Phänomen, dass eine bestimmte Art von „Realität“ verstärkt als dokumentarisch anmutende Fiktion Einzug in die Programme hielt, nämlich jene Realität, bei der in der Regel keine Kamera dabei ist (Unfälle, Kriminalfälle, Straftaten etc.), sodass sie zum Zwecke der Darstellung nachinszeniert werden musste (vgl. Mikos 2017, S. 229). Mit den Smartphones hat sich die Footage-Situation für diese Formate noch einmal signifikant verändert, da viel Bildmaterial zirkuliert.

Eine ganze Armada sogenannter Reality- und True-Crime-Formate geistert mittlerweile über die Bildschirme. In der Bauart ähnlich sind auch Reality-Doku-Formate, die sich mit paranormalen Phänomenen beschäftigen. Während bei True-Crime-Formaten zumeist eine plausible, zuweilen auch wissenschaftsbasierte Klärung des Falles erfolgt, sind Paranormalitätsshows weitaus spekulativer angelegt. Der vermeintliche Realitätscharakter jener unerklärbaren Erscheinungen wird vor allem durch die Inszenierung behauptet. Scripted Reality und Reenactments sind ein wichtiger Bestandteil der Haunted-Formate, deren Inszenierungen auf Spannung, Irrationalität und zuweilen auf horroraffine Schockelemente setzen.
 

Historische Linien

Neu ist das nicht. Geistergeschichten haben als fiktionales und nonfiktionales Subgenre schon seit den 1950er‑Jahren ihren festen Platz im angelsächsischen Fernsehen. Der Ursprung dieser TV-Shows lässt sich in den USA sowie in Großbritannien vor allem auf Produktionen lokaler Nachrichtensender zurückführen. So gab es 1949 auf NBC die Serie Believe It or Not!, die mysteriöse Geschichten aus der Presse aufgriff. Als früher Klassiker gilt die ABC-Network-Serie One Step Beyond (1959 – 1961). Während die im gleichen Jahr startende Serie The Twilight Zone erkennbar fiktional war, wurden in den 30‑minütigen Folgen von One Step Beyond paranormale Phänomene vorgestellt, die auf „tatsächlichen“ Überlieferungen („human records“) basierten.

Die Formate wurden vielfältiger. Mit „Bringing the occult to the air“ wurde 1977 die kanadische CBC-Television-Quizshow Beyond reason beworben. Mystery, Crime und Ghoststorys entwickelten sich zu einem stabilen Programmsegment mit Tendenz zum Horrorbereich. Damit verengten sich auch Räume für ironische und distanzierende Rezeptionsmodi.

Die Welt des Paranormalen und Übersinnlichen firmiert auch unter dem Begriff „PSI“. 2003 widmete sich die sechsteilige ARD-Serie Dimension PSI diesen Phänomenen. Mit faktenbasiertem Kontext wurden historisch verbriefte paranormale Ereignisse eingeordnet und zuweilen dekonstruiert. Erwartungsgemäß blieben viele Phänomene aber auch rätselhaft, wie beispielsweise die Telekinese-Fähigkeiten der Russin Nina Kulagina. Der 23. Buchstabe des griechischen Alphabets ψ ist der Anfangsbuchstabe des Wortes Psyche (ψυχή), was auch Seele bedeuten kann. PSI wurde zu einem Containerbegriff für alle möglichen paranormalen Phänomene: Telekinese, Geister und Spuk, Reinkarnation, Telepathie oder Hellseherei. Derzeit firmiert vieles unter den Kobegriffen „Paranormal“ oder „Haunted“. In der Aufmerksamkeitsökonomie haben derartige Inhalte immer eine führende Position. Das macht sie insbesondere auch für Kinder und Jugendliche faszinierend.
 

Stranger than Fiction

Auch die Paranormalformate sind inzwischen zu einer Konfektionsware der TV-Unterhaltung geworden. Der dokumentarische Gestus wird insbesondere durch Talking Heads (Zeugen, Betroffene, Experten), durch überlieferte oder vermeintliche Originalaufnahmen bedient. Fiktionale Elemente wie Reenactments („Dramatizations“) illustrieren oft in horroraffiner Weise das Grauen.

Dringend erwünscht: Erregung, Ängstigung, Schock.

Verstärkt wird der Authentizitätscharakter vor allem auch durch die Kameraarbeit. Die szenischen Inserts vermitteln oft ein Feeling des Dabeiseins, gern wackelt die Handkamera. Nachtsichtgeräte tun ihr Übriges. Als stilbildend für das Genre gilt u.a. das Mockumentary The Blair Witch Project (1999). Das Spezifische der realistisch anmutenden Filmperspektive resultiert daraus, dass die Schauspieler quasi selbst mit der Kamera unterwegs sind. „Durch diese subjektive Kamera wird der Blick des Zuschauers zum Blick der Protagonisten“ (Schroer/Bullik 2017, S. 73). Aber auch in früheren Produktionen ist die angstgetriebene Hatz aus subjektiver Perspektive schon vorhanden. Erinnert sei an die Kellerszene mit Jodie Foster in Das Schweigen der Lämmer (1991). Dieses Stilprinzip ist ein veritabler Bestandteil im Bereich der Ghost- und Spukstorys. Die Simulation von Unmittelbarkeit entfaltet offensichtlich eine Sogwirkung auf Zuschauer. Sie ziehe die Zuschauer in eine Gegenwart, so Schroer und Bullik, die vergessen lasse, dass sie fiktiv ist.
 

Movieclips Classic Trailers: Trailer The Blair Witch Project



Ein drittes Gestaltungselement sind Scripted-Reality-Inszenierungen. So fahnden in der Serie Die Geister von Shepherdstown (2016) die Geisterjäger Nick Groff, Bill Hartley und Elizabeth Saint gemeinsam mit dem Police Officer Mike King nach Spukgeistern in der titelgebenden Kleinstadt in West Virginia. Der dokumentarische Gestus wird hier verstärkt, indem zu Beginn einer Episode beispielsweise ein authentisch klingender Notruf bei der Polizei eingeht. Auch wenn der Abspann eine Relativierung des dokumentarischen Charakters durch einen kurzen Hinweis auf Fiktionalisierungen („Dramatizations“) enthält, verfängt der Gesamteindruck der medialen Anmutung, dass wir es hier mit einem realen Geschehen zu tun haben. „Der dokumentarische Charakter einer filmischen Darstellung resultiert aus dem Anspruch eines direkten Referenzverhältnisses zur vorfilmischen Wirklichkeit“ (ebd., S. 61). Dargestellte Orte, Ereignisse und Personen sind also nicht frei erfunden. Ja, Shepherdstown existiert in West Virginia, aber ob das auch für die geschilderten Ereignisse gilt, ist fraglich und schwerer zu durchschauen.

Die Mediengeschichte kennt unzählige Beispiele, bei denen dieses letztlich vertrauensbasierte Referenzverhältnis aufgebrochen wurde. Besonders das inszenatorische Insistieren auf „Authentizität“ der Ereignisse macht diese Produktionen recht eindringlich. Gerade in Scripted-Reality-Produktionen gibt es durch die Darsteller und die Plot-Konstruktion eine Art Authentifizierungspakt zwischen Zuschauern und Produzenten, bei dem das Dokumentarische nur noch inszenatorisch aufscheint (vgl. Mikos 2017, S. 233 f.). Auch wenn das Geschehen nicht real „dokumentiert“ ist, wird es dokumentarisch inszeniert. Auch im Reality-Doku-Bereich sind diese hybriden Formen auffindbar und werden durch Netztechnologie und ‑konsum vorangetrieben.
 

Der Sleeper-Effekt

 

Das Gefährliche an Halbwahrheiten ist, dass immer die falsche Hälfte geglaubt wird.“

Dieser lakonische Satz von Hans Krailsheimer lässt sich getrost auf viele Haunted-Paranormal-Reality-Doku-Formate beziehen. Wahrheit hat immer auch etwas mit Vertrauen und Glaubwürdigkeitseinschätzungen zu tun. In der Psychologie kennt man den sogenannten Sleeper-Effekt, der besagt, dass Menschen mit der Zeit ihre kritische Einschätzung einer als unglaubwürdig wahrgenommenen Kommunikationsquelle vergessen. Übrig bleibt dann nur noch deren inhaltliche, eventuell zweifelhafte Botschaft, die immer stärker haften bleibt. Anders gesagt: Es tritt eine Gewöhnung ein, die zunehmend die Glaubwürdigkeit der Quelle außer Acht lässt. Die Folge: Nach einiger Zeit glauben Medienkonsumenten Dinge, die sie sonst nie geglaubt hätten. Wer Parallelen zur US-Wahl 2020 ziehen möchte, kann dies gern tun. Das ist bei der Einordnung von Realityformaten, die sich paranormalen Phänomenen widmen, nicht zu unterschätzen. Je mehr davon konsumiert wird, desto stärker scheint die kritische Distanz zu schwinden. Wie schon bei Scripted Reality gibt es daher eine intensive Diskussion um die Wirkmacht solcher Paranormalformate, auch hinsichtlich jugendschützerischer Aspekte.
 

Willkommen in der Geisterbahn

That’s Entertainment! Ein dokumentarischer oder bildungsrelevanter Anspruch besteht bei den Paranormalformaten nicht. Mag hier und da ein Schimmer von wissenschaftlicher Grundierung auftauchen, so verschüttet die zumeist raunende Inszenierung aus Spekulation, Andeutung, permanenter Angstkultur und Geisterkitsch die zarte Pflanze Erkenntnis. Fragmentarisches dominiert. Es geht hier nicht um Spiritualismus und Inspiration, sondern um eine hochspekulative Angstbeschwörung. Haunted-House- und Paranormalformate sind als Horror-Entertainment-Subgenre etabliert. Das Programm-Framing für diese Angebote ist eindeutig: Reality, Doku, Paranormal, Horror. Die Serien adressieren ganz klar das Bedürfnis nach Angstlust und authentischem Grusel. Die Reenactments weisen durch die Fokussierung auf Angst, Panik und Verunsicherung teilweise eine hohe Intensität auf. Ein stressiger, aber begehrter Mix aus Unerklärbarem, Verschwörungen und Halbgarem. Die „alternative“ Faktenwelt lässt grüßen.

Das momentane gesellschaftliche Klima wirkt dahin gehend eher wie ein Treibhaus, daher sind solche Formate recht anschlussfähig. Problematisch bleibt generell die unwidersprochene und nicht relativierte Behauptung von paranormalen Geistererscheinungen. Da oft auf eine rationale Erklärung der Phänomene verzichtet wird, besteht durchaus auch ein Risiko hinsichtlich einer Desorientierung, wenn Zuschauer den zweifelhaften Gehalt der Formate und ihren gescripteten oder konstruierten Charakter nicht durchschauen.

Mit wachsendem Angebot steigt aber auch die formatbezogene Medienkompetenz der Zuschauer. Ob diese vermutete Kompetenz den bereits erwähnten Sleeper-Effekt aushebeln kann, hängt aber von unterschiedlichen, teils bildungs- und erfahrungsbezogenen Faktoren ab. Viele werden die paranormalen Horrorstorys als spezielle Unterhaltungsformate goutieren. Es mag sein, dass Kinder und Jugendliche – und nicht nur die – irrationalen Lesarten von Welt zuneigen und die Formate zumindest bei einem Teil der Rezipienten eine Denkverweigerung unterstützen, die Angst vor der Scary World schürt.

Letztlich konstruieren all diese paranormalen Geschichten pseudowissenschaftlich-kausale Beziehungen zwischen obskuren Ereignissen und dem unerklärbaren Wirken einer Geisterwelt. Ironische oder relativierende Ansprechhaltungen sind eher selten.

Sind diese Formate desinformierend? Vielleicht. Es kommt darauf an, was die Zuschauerinnen und Zuschauer damit machen. So verhält sich der Diskurs ähnlich wie der zu Scripted Reality. Die gleichen Fragen stellen sich auf einer anderen Ebene heute wieder. Das Gros der Zuschauer wird die paranormalen Formate wohl als das sehen, was sie sind: zeitgenössische Geisterbahnen.
 

Literatur:

Bergmann, A./Gottberg, J. von/Schneider, J.: Scripted Reality auf dem Prüfstand. Teil 1: Scripted Reality im Spiegel einer exemplarischen Inhaltsanalyse. Berlin 2012

Mikos, L.: Scripted Reality und die Fiktionalisierung des Dokumentarischen. In: C. Heinze/T. Weber (Hrsg.): Medienkulturen des Dokumentarischen. Wiesbaden 2017, S. 223 – 235

Schroer, M./Bullik, A.: Zwischen Dokument und Fiktion. Grenzbewegungen des Dokumentarischen. In: C. Heinze/T. Weber (Hrsg.): Medienkulturen des Dokumentarischen. Wiesbaden 2017, S. 61 – 84