Regulierung am Ende?

Streamingdienste betreiben Jugendschutz nach eigenen Vorstellungen

Joachim von Gottberg

Prof. Joachim von Gottberg ist Geschäftsführer der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) und tv-diskurs-Chefredakteur.

Bei Streamingdiensten wie Netflix und Co. scheint der Jugendschutz nicht so konsequent geregelt zu sein wie in anderen Medien. Dieses Ungleichgewicht sollte zu einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung führen, welche Art Jugendschutz für Medien überhaupt gewollt und auch sinnvoll ist.

Printausgabe tv diskurs: 21. Jg., 3/2017 (Ausgabe 81), S. 1-1

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Allein Netflix verfügt über 52 Mio. Abonnenten außerhalb des US-Heimatmarktes. Da diese jedoch nicht nach Ländern aufgeschlüsselt werden, lässt sich nicht genau sagen, wie viele deutsche Abonnenten es gibt (Quelle: FAZ“ vom 20. Juli 2017). Video-on-Demand-Portale sind auf dem Vormarsch und machen vor allem dem DVD-Markt mächtig Konkurrenz.

Umso mehr schmerzt es die Anbieter von DVDs, dass sie erhebliche finanzielle und organisatorische Aufwendungen leisten müssen, um die gesetzlichen Jugendschutzbestimmungen zu erfüllen: So dürfen z.B. selbst Kinderfilme ohne eine (kostenpflichtige) FSK-Freigabe nur an Erwachsene abgegeben werden. Fernsehsender trifft es nicht ganz so hart, sie können einen großen Teil des unbedenklichen Programms selbst einschätzen und müssen die Inhalte nur in Zweifelsfällen bei der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) prüfen lassen. Allerdings unterhalten sie für die Prüfung des laufenden Programms z.T. ganze Abteilungen von Jugendschutzbeauftragten, die bedenkliche Inhalte vor der Ausstrahlung sichten und bewerten. Kommen sie zu der Einschätzung, dass ein Inhalt ab 16 Jahren freigegeben werden sollte, ist die Ausstrahlung erst ab 22.00 Uhr erlaubt. Dadurch werden erheblich weniger Zuschauer erreicht, was zu beträchtlichen Einbußen bei den Werbeeinnahmen führt.

Ob dieser regulative Aufwand Kinder und Jugendliche tatsächlich vor gefährdenden Inhalten schützt, ist zweifelhaft. Denn für Streamingdienste, die ihren Sitz nicht in Deutschland haben, gilt zwar das deutsche Jugendschutzrecht, Sanktionen bei Verstößen sind allerdings nicht durchsetzbar. Netflix beispielsweise hat seine Europazentrale in den Niederlanden, sodass dort das niederländische Recht angewendet werden muss. Anders als Geldbußen bei Verstößen im Straßenverkehr sind vergleichbare Abkommen in Bezug auf die Einhaltung von Jugendschutzbestimmungen schwierig, weil dadurch der freie Warenverkehr behindert würde.

Netflix und Co. können daher anders als die Konkurrenzmedien Kino, DVD und Fernsehen selbst entscheiden, ob und wie Jugendschutz eine Rolle spielt. Nach den AGB bei Netflix muss man mindestens 18 Jahre alt sein, um einen Vertrag abschließen zu können. Testanmeldungen zeigen jedoch, dass die Angabe eines Kontos ausreicht. Die Eingabe eines falschen Geburtsdatums wird mit diesem offenbar nicht abgeglichen bzw. stoppt die Anmeldung nicht. Bei Amazon kann man sich ebenfalls ohne Weiteres als Minderjähriger anmelden. Eine Altersabgleichung mit dem Konto findet allerdings dann statt, wenn man auf 18er-Inhalte zugreifen will. Alle anderen Angebote sind dagegen zugänglich. Bei Netflix kann der Hauptnutzer für seine Kinder verschiedene Konten mit Altersdifferenzierungsmöglichkeiten anlegen, allerdings kann sich das Kind auch als Hauptnutzer anmelden. Eine besondere PIN müsste der Hauptnutzer gesondert erstellen.

Bestehen FSK-Freigaben, so werden diese sowohl bei Amazon als auch bei Netflix angegeben, allerdings ohne das FSK-Kennzeichen. Von wem die Altersangaben stammen und auf welcher Grundlage sie gefällt werden, ist für den Nutzer also nicht transparent. Völlig unverständlich ist dieses etwas konzeptionslos wirkende Umgehen mit dem Jugendschutz bei Streamingdiensten nicht. Da sie international agieren und Jugendschutz überall völlig unterschiedlich gewichtet und geregelt wird, ist es unmöglich, sich in allen Ländern gleichermaßen rechtskonform zu verhalten.

Als Netflix vor einigen Wochen mit der Serie Tote Mädchen lügen nicht wegen der Befürchtung, die Serie könnte Jugendliche zum Selbstmord verleiten, in die Kritik geriet, hielt sich die Politik auffallend zurück. Offensichtlich herrscht überall Ratlosigkeit, wie man mit diesen Regulierungsdifferenzen umgehen soll. Derzeit wird auf europäischer Ebene die sogenannte AVMD-Richtlinie verhandelt, die auch neue Bestimmungen zum Jugendschutz enthalten soll. Ob uns solche Regulierungsformen in der digitalen Welt weiterbringen, bleibt abzuwarten. Was fehlt, ist ein breiter gesellschaftlicher Diskurs über die Frage, welche Form von Jugendschutz Eltern und Jugendliche eigentlich wollen und brauchen.

Ihr Joachim von Gottberg