Rückzug statt Diskurs
Ravensburger Verlag entschuldigt sich für „Winnetou“-Buch. Ein Kommentar
Das Prädikat „Besonders wertvoll“ der Deutschen Film- und Medienbewertung (FBW) für die Karl-May-Verfilmung Der junge Häuptling Winnetou führte schon im Ausschuss zu vehementer Kritik der überstimmten Minderheit. Das Buch zum Film wurde daraufhin vom Verlag zurückgezogen. Aber auch dagegen hagelte es Proteste.
Karl May war nie im Wilden Westen
Am 25. Februar 1842 wird Karl May in Sachsen geboren. Seine beruflichen Chancen sind nicht gut, die Familie ist arm, neun seiner 14 Geschwister sterben. May ist blind und kann erst mit fünf Jahren geheilt werden. 1899 bricht er zu seiner ersten Seereise auf, allerdings nach Ägypten: „Als May nun jedoch das Mittelmeer überquert, reist er vor allem einer Angst davon – der vor Entdeckung. Dass er mit 57 Jahren zum ersten Mal tatsächlich Europa verlässt, hat vor allem einen Grund: Er hofft, Zweifel an seiner Legende unter einer Brieflawine zu ersticken. Poststempel aus der Ferne sollen seine Abenteuer beglaubigen.“ (Schwenke 2018) Trotzdem: May war einer der erfolgreichsten Schriftsteller. Er verfasste 70 Bücher und verkaufte davon 200 Millionen Exemplare weltweit, seine Bücher wurden in 40 Sprachen übersetzt.
Seine Bücher wurden sowohl in der ehemaligen DDR als auch in der alten Bundesrepublik verfilmt, in Bad Segeberg gibt es jährlich die Karl-May-Festspiele. „Berühmtheit erlangte May vor allem durch seine ‚Reiseerzählungen‘, die ab 1892 in Buchform veröffentlicht wurden. May schildert darin aus der Ich-Perspektive die abenteuerlichen Erlebnisse seiner Helden in der ganzen Welt, vor allem im ‚Wilden Westen‘ Nordamerikas und im Orient. Karl Mays Eintreten für Humanismus, Toleranz und Friedensliebe ist heute aktueller denn je“, heißt es auf der Startseite des Karl May Museums Radebeul.
Geschichtliche Vermächtnisse entsprechen selten heutiger Ethik
Die Hinterlassenschaften bedeutender Personen der Geschichte sind von der heute angestrebten Ethik der Vielfalt weit entfernt. Das Streben nach Gleichheit von Ethnien und Menschen mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen hat erst in der zweiten Hälfte der 20. Jahrhunderts langsam begonnen – trotz Karl May, der damals mehr gelesen und verfilmt wurde als heute. Der große Philosoph der Aufklärung, Emanuel Kant, der die Vernunft vor die Religion stellte und das heutige Denken stark mitgeprägt hat, war in gewisser Weise Rassist, er unterschied in der Wertigkeit zwischen Weißen, Schwarzen und Indianern (vgl. Beckmann 2020). Martin Luther war ein Gegner der Juden und bezeichnete sie als Lügner (vgl. Luther 2016). Sollen wir nun alle literarischen Vermächtnisse vergangener Zeiten umschreiben oder verbieten? Muss man nicht eher lernen, sie historisch einzuordnen und aus heutiger Perspektive zu interpretieren? Kann man nicht auch darauf vertrauen, dass Kinder und Jugendliche in der heutigen Welt leben und dass die Geschichte des jungen Häuptlings Winnetou als eine symbolische Erzählung von Freundschaft zwischen unterschiedlichen Gruppen wahrgenommen wird, die mit unserer heutigen Realität in Deutschland nicht allzu viel zu tun hat?
Die Kontroverse: Der junge Häuptling Winnetou
Diese Fragen führten zum Streit um die Bewertung des Films Der junge Häuptling Winnetou, der am 11. August 2022 in die Kinos kam. Die Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW) in Wiesbaden hat dem Film das Prädikat „Besonders wertvoll“ erteilt, aber in dem Ausschuss von fünf Mitgliedern gab es erheblichen Streit: Drei votierten für das Prädikat, zwei dagegen – und das mit viel Getöse.
Trailer Der junge Häuptling Winnetou (KinoCheck Familie, 06.08.2021)
Die Befürworter*innen des Prädikats argumentierten: „Der märchenhafte Abenteuerfilm ist dank seiner spannenden und kindgerecht erzählten Geschichte und den großen Bildern aus einer fremden Welt ein großes Kinderfilmvergnügen. Winnetou, der Sohn des Apachenhäuptlings Intschu tschuna, will seinem Vater unbedingt beweisen, wieviel Verantwortung er übernehmen kann. Doch genau in der Nacht, in der Winnetou seine erste Wache hält, läuft ihm ausgerechnet der schlitzohrige Tom über den Weg und sorgt für mächtig Ärger zwischen Winnetou und seinem Vater. Und dann versucht auch noch der fiese Gangster Todd Crow, das Gold des Stammes zu ergaunern. Nun liegt es an Winnetou, seiner Schwester und Tom, den Stamm zu retten. Ob Verfolgungsjagden zu Fuß und zu Pferd, eine witzig agierende Gaunerbande oder kleine Nachwuchsheld:innen, mit denen man mitfiebern und mitfühlen kann – mit DER JUNGE HÄUPTLING WINNETOU haben Regisseur Mike Marzuk und seine Co-Autorin Gesa Scheibner einen Abenteuerfilm geschaffen, der mit seiner märchenhaften Erzählung das kindliche Publikum gut unterhalten wird.“ (FBW 2022)
Die Kritik an der Entscheidung fasste Bettina Buchler, Direktorin der FBW, in einem Interview mit dem „Spiegel“ zusammen: „Die haben das Klischee und das falsche Idyll bemängelt, das Folkloristische und die Abwesenheit der Lebensrealität der indigenen Völker Nordamerikas als nicht auszeichnungswürdig erachtet. Bemängelt wurden die ihrer Ansicht nach verkitschten Elemente aus dem Karl-May-Kosmos, den man als rückwärtsgewandt empfunden hat und so nicht auszeichnen wollte.“ (Buchler in: Frank 2022)
Solche Unterschiede in der Bewertung kommen in den Ausschüssen regelmäßig vor. Normalerweise wird dann abgestimmt und das Mehrheitsvotum gilt. Ungewöhnlich ist die Vehemenz, mit der die zwei kontroversen Ansichten aufeinandertrafen: „Erst in einer sehr ausführlichen Debatte ist es möglich, bestimmte Kritikpunkte im Einzelnen darzulegen. Das ist bei dieser Besprechung sehr intensiv passiert. Und die Fürsprecher haben sich dieser Diskussion dann auch gestellt. Es wurde intensiv und lange diskutiert. Aber die Fronten konnten nicht aufgelöst werden. Es blieb bei der einfachen Mehrheitsentscheidung“, so Buchler. Genauso kontrovers wie die Stimmung im Ausschuss ist die Reaktion der Öffentlichkeit: „Wir haben bereits viele Zuschriften bekommen, die die Auszeichnung kritisieren. Andere verstehen nicht die Kritik daran“, erklärt Buchler (ebd.).
Die Prädikate der FBW sind Verwaltungsakte, die Jury wird von den für die Kultur zuständigen Ministerien der Länder besetzt. Filme mit einem Prädikat haben bessere Voraussetzungen, um an Mittel der Filmförderung zu gelangen. Normalerweise arbeitet die FBW im Stillen, aber auch in der Vergangenheit gab es bereits Kritik an der Vergabe von Prädikaten, zum Beispiel als 1988 der Actionfilm Rambo III mit einem Prädikat bedacht wurde (vgl. Gaserow 1988). Danach war es lange ruhig. „Wir hatten das zuletzt so heftig bei ‚Inglourious Basterds‘, da gab es auch gepfefferte Reaktionen – etwa darauf, wie im Film der Deutsche dargestellt wird. Filme, die spalten, sind willkommen. Weil sie Prozesse abbilden“, so Buchler (Frank 2022).
Der unversöhnliche Streit
Der Ravensburger Kinderbuchverlag hatte an einem solchen offenen Diskurs offenbar kein Interesse und zog das Buch zum Film in vorauseilendem Gehorsam zurück. Ob ein solches Verhalten einer pluralistischen Diskussionskultur, wie wir sie in Deutschland zu haben glauben, gerecht wird, ist die eigentliche Frage.
Der Verlag begründet seinen Rückzug: „‚Euer Feedback hat uns deutlich gezeigt, dass wir mit den Winnetou-Titeln die Gefühle anderer verletzt haben. Das war nie unsere Absicht‘, erklärte Ravensburger. Der Verlag entschuldigte sich dafür, sich nicht kritisch genug mit dem sensiblen Thema auseinandergesetzt zu haben. ‚Die Entscheidung, die Titel zu veröffentlichen, würden wir heute nicht mehr so treffen‘, hieß es in dem Statement. Der Verlag wolle aus seinen Fehlern lernen.“ (Naethbohm 2022) Aber wessen Gefühle wurden durch das Buch verletzt? Wer hat sich vom Buch angesprochen gefühlt und beschwert? Es ging wohl eher um die Gefühle der Kritiker*innen.
Gegen den Rückzug des Verlags gibt es nun ebenfalls heftige Kritik: „Es geht um einen Lieblingshelden der Deutschen. Die Worte ‚Winnetou‘ und ‚Verbot‘ in einem Satz lösen Reflexe aus, wecken alte Gefühle. Der ehemalige Politiker Sigmar Gabriel twittert, einst wegen Winnetou geweint zu haben. Dies habe ihn ebenso wenig zum Rassisten gemacht wie Tom Sawyer & Huckleberry Finn, schreibt er: ‚Und deshalb bleibt Winnetou im Bücherregal für meine Kinder.‘ Er informiert nicht darüber, ob er die Ravensburger-Titel bereits erworben hat oder es sich bei ihm zu Hause um Ausgaben der seit 1893 erschienen Romane von Karl May (1842–1912) handelt.“ (Geißler 2022)
Auch die NDR-Kinderbuchexpertin Katharina Mahrenholtz (2022) hält den Rückzug des Verlags für übertrieben: „Nein, diese Aufregung ist sicher nicht berechtigt. Das Buch ist es gar nicht wert, dass alle darüber sprechen. Es gibt so gute Kinderliteratur und nun reden alle über ein Buch, das eben einfach nur sehr banal einen Film nacherzählt: ‚Der junge Häuptling Winnetou‘ ist eine völlig unspektakuläre, ziemlich platte Geschichte von zwei Jungen, Winnetou als etwa Zwölfjähriger und ein Weißer namens Tom Silver, die sich erst streiten, dann anfreunden und am Ende den Stamm der Apachen vor den bösen Weißen retten. Zwischendurch gibt es betrunkene Pokerspieler, Prügeleien im Saloon, Wanted-Plakate, Verfolgungsjagd mit Pferdekutsche, Blutsbrüderschaft – alles sehr erwartbar.“
Dagegen begrüßt Linda Poppe vom Verein Survival International die Kritik an dem Film und den Verkaufsstopp des Buches: „‚Es sind vielleicht fiktive Geschichten, aber sie vermitteln ja ein Bild von indigenen Völkern, was nicht der Realität entspricht.‘ Sie vermittelten auch ein Bild davon, wie Siedler in der Figur von Old Shatterhand mit Indigenen zusammengearbeitet hätten – das entspreche ebenfalls nicht der Realität, so Poppe. ‚Sondern es ging um Gewalt, um Krankheit, um Ausbeutung. Jetzt diese Geschichten zu erzählen und schlimmer noch, sie unseren Kindern zu erzählen, wo wir es eigentlich besser wissen müssten, das halte ich für falsch.‘“ (Helling 2022)
Fazit
Die Kritik wäre gerechtfertigt, wenn es nur Bücher und Filme im Stile von Karl Mays Romanen gäbe. Dann hätte das wahrscheinlich Einfluss auf die Konstruktion das Bildes von Indianern bei Jugendlichen. Aber fast alle fiktiven Geschichten greifen Klischees auf und bilden so gut wie nie die Realität ab. Auch der Tatort, ganz abgesehen von vielen anderen Krimiserien, bildet nur sehr bedingt die Arbeit der Polizei ab: Das weiß jede*r Zuschauer*in. Um zu unterhalten und die Rezipient*innen in eine andere Welt eintauchen zu lassen, werden immer Klischees benutzt, die sich aber in der Gesamtschau medialer Inhalte relativieren.
Das Anliegen der Kritiker*innen ist durchaus nachvollziehbar, der Streit schärft die ethischen Konturen – aber die Vehemenz schießt über das Ziel hinaus. Bücher vom Markt zu nehmen, passt nicht in eine pluralistische Gesellschaft. Ethik entwickelt sich nicht durch die besserwisserische Forderung nach ethischen Maßstäben, sondern durch Argumente und Überzeugungen im Diskurs.
Quellen:
Beckmann, A.: War Philosoph Immanuel Kant ein Rassist? In: Deutschlandfunk, 17.12.2020. Abrufbar unter: www.deutschlandfunk.de
Birkenstock, G./Gassen, A.: Karl May: Vom Kriminellen zum Erfolgsautor. In: Deutsche Welle, 03.04.2012. Abrufbar unter: www.dw.com
FBW: Der junge Häuptling Winnetou. FBW-Pressetext. In: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW), o.J. Abrufbar unter: www.fbw-filmbewertung.com
Frank, A.: Winnetou-Film spaltete die FBW-Jury. „Es wurde intensiv diskutiert. Aber die Fronten konnten nicht aufgelöst werden.“ Interview mit Bettina Buchler. In: SPIEGEL Kultur, 24.08.2020. Abrufbar unter: www.spiegel.de
Gaserow, V.: Rambo III – Prädikat wertvoll. Interview mit Dr. Gerd Albrecht. In: TAZ-Archiv, 10.08.1988. Abrufbar unter: taz.de
Geißler, C.: Kulturelle Aneignung. Ravensburger-Verlag cancelt Winnetou: Zensur oder nicht?. In: Berliner Zeitung, 23.08.2022. Abrufbar unter: www.berliner-zeitung.de
Helling, P.: Sturm der Entrüstung um zurückgezogene „Winnetou“-Bücher. In: NDR.de, 24.08.2022. Abrufbar unter: www.ndr.de
Karl May Museum: Karl May – Fantast, Bestseller-Autor und Visionär. Biografie & Werk. In: Karl May Museum Radebeul, o.J. Abrufbar unter: www.karl-may-museum.de
Luther, M.: Von den Juden und ihren Lügen. Neu bearbeitet und kommentiert von Matthias Morgenstern. Berlin 2016
Mahrenholtz, K.: „Der junge Häuptling Winnetou“: Viel Aufregung um ein banales Buch. In: NDR, 24.08.2022. Abrufbar unter: www.ndr.de
Naethbohm, P.: „Nicht mehr zeitgemäß“ – Verlag sorgt für großen Wirbel um Winnetou-Bücher: „Völlig absurd“. In: FOCUS online, 23.08.2022. Abrufbar unter: www.focus.de
Schwenke, P.: Karl Mays echte Orientreise. Ende Legende. In: SPIEGEL Geschichte, 16.12.2018. Abrufbar unter: www.spiegel.de