Streaming als neue Marktchance des Privatfernsehens

Werner C. Barg

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Prof. Dr. Werner C. Barg ist Autor, Produzent und Dramaturg für Film und Fernsehen sowie Honorarprofessor im Bereich Medienwissenschaft der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF.

Das deutsche Privatfernsehen ist aktuell für seine Spiel- und Castingshows berühmt, bei manchen auch berüchtigt. Die Mediatheken von RTL, ProSiebenSat.1 und anderen zeigen aber auch starke fiktionale Formate und bieten die Chance für einen Imagewechsel, der auch ökonomisch interessant sein kann.

Online seit 31.08.2023: https://mediendiskurs.online/beitrag/streaming-als-neue-marktchance-des-privatfernsehens-beitrag-772/

 

 

Die Zeiten, in denen TV-Movies und Serien von kommerziellen Sendern wie die RTL-Polizeiserie Abschnitt 40 (2001 – 2006) oder Wolffs Revier (1992 – 2006) bei Sat.1 genre- und stilbildend Fernsehgeschichte schrieben, sind lange her. Heute wird das Image des deutschen Privatfernsehens vornehmlich durch Spiel- und Castingshows geprägt. Ein erster Blick auf die Startseiten der Streamingangebote von RTL oder ProSiebenSat.1 zeigt, dass solche Formate auch hier dominieren. Bei RTL+ (Abruf: 17.08.2023, 12:10) sind es in erster Linie Shows, in denen Singles an exotischen Orten wie Thailand oder Mexiko in abgeschlossenen Arealen auf Partnersuche gehen, wie in Are you the one?, wahlweise ergänzt durch das unerwünschte Auftauchen ehemaliger Liebschaften (Ex on the Beach). Ebenfalls in diese Reihe gehört Stranger Sins, in dem Paare neue sexuelle Praktiken ausprobieren und erotische Fantasien ausleben möchten. Auch auf Joyn, dem Streamingdienst von Sat.1 und ProSieben, steht mit Beauty & the Nerd aktuell ein Reality-TV-Format zur Partnersuche auf Platz 1. Heidi Klums Show Germany Next Topmodel rangiert hier nach 17 Staffeln auf Platz 4 (vgl. Joyn).
 

„Der ist cute, den will ich“ - wer findet beim Kennenlernen zusammen? | Beauty & the Nerd (ProSieben Reality, 30.06.2023)



Streaming als Wachstumschance

Ähnlich wie die deutschen öffentlich-rechtlichen Sender haben auch die kommerziellen Anbieter die Konkurrenz durch die Streamer lange unterschätzt und zu spät erkannt, welchen hohen Stellenwert zeitungebundenes Fernsehen für das Sehverhalten großer Teile des Publikums hat. Gerade haben die Halbjahreszahlen der RTL Group wieder gezeigt, dass der aktuell schwache TV-Werbemarkt den Umsatz nach unten drückt. Er fiel bei RTL im Vergleich zum Vorjahr um 5,1 % von 3,3 auf 3,1 Mrd. Euro (vgl. Müller 2023). Als einziger Lichtblick erweist sich der Anstieg der Abonnementszahlen im Bezahlbereich von RTL+ (vgl. ebd.). Ein ähnlicher Trend zeigt sich auch bei Joyn (vgl. dpa-AFX 2023). Diese Befunde korrespondieren mit den Ergebnissen einer aktuellen Streaming-Nutzungsstudie der Unternehmensberatung Simon-Kucher (vgl. Rumbucher 2023). Diese ergab, dass die Mehrheit der deutschen Streamingnutzer nur noch bereit sind, maximal zehn statt – wie in früheren Befragungen – 15 Euro für ein einzelnes Abonnement zu zahlen. 84 % der Befragten sahen im Preis das Hauptkriterium, ein Streamingabo zu buchen oder es auch zu kündigen. Zugleich stieg die Akzeptanz, Werbeinhalte bei Streamern in Kauf zu nehmen. Weniger als die Hälfte der Befragten (47 %) nannten „keine Werbeinhalte“ als zentrales Kriterium für den Abschluss eines Abonnements. (Vgl. ebd.) Da die Streamingdienste deutscher Privatsender durchweg preiswerter sind als ihre US-Konkurrenz und zudem die vergleichsweise geringen Werbebrüche hinter der Bezahlschranke für die Nutzer offenbar weniger bedeutsam für eine Kaufentscheidung werden, bahnt sich hier eine Marktchance für deutsche Anbieter an – trotz der viel beschworenen Streamingkrise (vgl. Meyer 2023).
 

US-Streamingdienste suchen deutsche Partner

Das Marktpotenzial für kommerzielle deutsche Anbieter wird noch dadurch erhöht, dass wichtige US-Streamingdienste im kleineren deutschen Markt auf eine eigene Performance verzichten und sich lieber mit bereits vorhandenen Plattformen zusammenschließen. So hat sich etwa der Streamingdienst Paramount+ mit Amazon zusammengetan. Prime-Nutzer können diesen Kanal nun fürs Streaming hinzubuchen. Und der Medienkonzern WarnerMedia, zu dem neben dem Filmstudio Warner Bros. u. a. der Pay-TV-Sender HBO gehören, hat eine Kooperation mit der RTL Group abgeschlossen (vgl. Kaindl 2022). Daher werden viele der neuen Qualitätsserien und Filme von HBO für den deutschen Markt perspektivisch ausschließlich bei RTL+ laufen und vergleichsweise wenige bei WOW, der Streamingplattform des deutschen Pay-TV-Senders Sky. Er hatte bislang die HBO-Inhalte in Deutschland mehr oder weniger exklusiv im Serienabo angeboten. Diese Entwicklung mag im Juni 2023 auch zu der Entscheidung bei Sky beigetragen haben, sich von der Serienproduktion stärker zurückzuziehen und sich wieder auf das Kerngeschäft des deutschen Pay-TVs zu konzentrieren – der Übertragung von Sportereignissen (vgl. Huber 2023).

Aufgrund dieser veränderten Rahmenbedingungen stehen die Chancen für die deutschen Streamingdienste nicht schlecht, durch Diversität der Medieninhalte, besonders im Bereich fiktionaler Serien und Filme, neue Zuschauergruppen erreichen zu können.
 

RTL+: Qualitätsserien und Filme stärker ins Rampenlicht rücken

Schaut man bei Joyn, insbesondere aber bei RTL+ einmal genauer hinter die aufpolierte Sex-sells-Fassade, so entdeckt man schon jetzt ein im Vergleich zur US-Konkurrenz noch kleines, aber durchaus feines Angebot an fiktionalen Produktionen. Serien und Filme, die qualitätsvoll produziert sind und in ihrer Machart und in ihren gesellschaftskritischen Aussagen oft deutlicher in der Tradition der öffentlich-rechtlichen Fernsehproduktion stehen als die aktuellen Angebote von ARD und ZDF.
 

Zwei Seiten des Abgrunds –  gelungenes Beispiel für eine RTL-Qualitätsserie

Es ist eben nicht nur die ARD-Erfolgsserie Babylon Berlin, die im Zusammenspiel eines öffentlich-rechtlichen Senders mit dem Pay-TV-Anbieter Sky neue Erzählstandards im deutschen Fernsehen setzte. So präsentiert RTL+ die Miniserie Zwei Seiten des Abgrunds, die nun im Zuge des Deals mit WarnerMedia international von HBO vermarktet wird. Dieser „Ritterschlag“ für die RTL-Serienmacher, auf der Ebene international gehypter Qualitätsserien mitspielen zu dürfen, kommt nicht von ungefähr.

Auf der Grundlage der Drehbücher von Kristin Derfler erzählt Regisseur Anno Saul in sechs Episoden ein komplexes Thrillerdrama. Im Mittelpunkt stehen die Wuppertaler Polizistin Luise Berg (Anne Ratte-Polle) und Dennis (Anton Dreger), der Mörder ihrer ältesten Tochter Merle (Josephine Thiesen). Dass Dennis frühzeitig aus der Haft entlassen wird, wirft die Polizistin in das Trauma zurück, das sie durch seine Mordtat vor Jahren erlitten hatte. Berg wird von alten Schuldgefühlen geplagt: Sie hatte ihre Tochter damals dazu gebracht, in einem Kinderheim zu hospitieren und dem schwer übergewichtigen, scheinbar entwicklungsverzögerten und sprachgehemmten Dennis Nachhilfeunterricht zu geben.

Nach seiner Entlassung steht sie nun einem jungen smarten Mann gegenüber, der wegen guter Führung vorzeitig auf freien Fuß gesetzt wurde. Seiner Persönlichkeit scheint nichts mehr von dem anzuhaften, was er einmal war. Wenngleich die Umstände von Merles Tod nie gänzlich geklärt werden konnten, ist Luise fest davon überzeugt, dass Dennis der Täter war. Auch dass sich sein Charakter in der Haft gewandelt habe, glaubt sie nicht. Heimlich spioniert sie ihm nach und denkt schon bald, Beweise dafür zu finden, dass Dennis weiter mordet. Doch die Kollegen der Kriminalpolizei, der Justiz und des psychiatrischen Dienstes bleiben skeptisch. Als Luise und mit ihr das Publikum die Zusammenhänge zu durchschauen beginnt, die Derfler/Saul in ihrer Geschichte ebenso fein wie schicksalhaft verwoben haben, hat Dennis längst Luises jüngere Tochter Josi (Lea van Acken), mittlerweile auch ein Teenager, in seine Pläne eingesponnen.
 

Trailer Zwei Seiten des Abgrunds (RTL+, 10.05.2023)



Sensibel, doch mit radikaler Härte und großem Realismus, zeigen die Serienmacher die seelische Verletztheit ihrer weiblichen Hauptfigur und die Taten, die sich hieraus ergeben. Ebenso kompromisslos entfalten sie die grausame Vorgeschichte ihrer Figur Dennis, die Qualen dessen Kindheit, aus der heraus sich nun seine Taten speisen. So prallen in Derfler/Sauls Serienerzählung zwei menschliche Abgründe unbarmherzig aufeinander: der einer verzweifelten Mutter, die ihr Kind durch eine Bluttat verloren hat, und der eines psychisch geschundenen Menschen, der sich für das erlittene Unheil an der Welt zu rächen beginnt.  

Auch aufgrund der grandiosen schauspielerischen Leistungen von Anne Ratte-Polle und Anton Dreger entwickelt die Serie mit großem Raffinement eine Form der suggestiven Spannung, die in internationalen, vornehmlich US-Qualitätsserien gang und gäbe ist, sich im deutschen Seriengeschehen aber immer noch ziemlich rar macht: eine Spannung, die sich fast ausschließlich aus der Psychologie der Figuren, ihren psychischen Verwerfungen und Persönlichkeitsbrüchen, speist. In Zwei Seiten des Abgrunds gelingt der Aufbau dieser Spannung so grandios, dass sie die verzweigte, auf verschiedenen Zeitebenen angesiedelte Handlung souverän über alle sechs Episoden hindurch trägt. Gleichzeitig kreiert die Serie atmosphärische Szenarien des Unheimlichen und Bedrohlichen, die helfen, auch manch logische Schwäche der Story zu überbrücken.

Zwei Seiten des Abgrunds zeigt exemplarisch den Mut in den Fiktion-Redaktionen kommerzieller Anbieter, Stoffe von Produzenten aufzugreifen oder entwickeln zu lassen, in denen gesellschaftliche Tabus durchaus reißerisch als genrespezifische Spielfelder genutzt werden. So kann die RTL-Serie aufgrund ihrer schonungslosen Erzählung menschlichen Leids und menschlicher Grausamkeit insgesamt mit preisgekrönten internationalen Produktionen mithalten, etwa mit der HBO-Serie Big Little Lies (USA 2017 – 2019), der ABC/Amazon-Miniserie Little Fires Everywhere (USA 2020) oder Jane Campions und Gerard Lees Krimiserie Top of the Lake (Australien u. a. 2013 – 2017).
 

Trailer Top of the Lake (polyband, 15.10.2013)



Thema Kindesmissbrauch kratzt gesellschaftliche Tabus an

Die These, dass Erfahrungen sexualisierter Gewalt in der Kindheit Quell späteren Unheils und sich zuspitzender Gewaltspiralen sein können, vertreten auch die TV-Thriller Das Joshua-Profil (2018) und Passagier 23 – Verschwunden auf hoher See (2018). Beide sind nicht mehr ganz frische Verfilmungen von Romanen Sebastian Fitzeks, die sich auch auf der Streamingplattform von RTL finden lassen.

In Das Joshua-Profil wird ein Krimiautor versehentlich Opfer eines sogenannten Precrime-Programms, das die Aufgabe hat, Straftäter zu identifizieren, bevor diese straffällig werden. Um sich aus der Situation zu befreien, ist er gezwungen, sich mit seiner Vergangenheit zu konfrontieren und die Gewalterfahrung zu verarbeiten, die sein Bruder und er in der Kindheit durch den pädophilen Vater erleben mussten.

In Passagier 23 versucht ein Polizist das Jahre zurückliegende Verschwinden seiner Frau und seines Kindes auf einem Kreuzfahrtschiff aufzuklären. Hierbei kommt er einer Serie von Morden auf die Spur, die – begangen im rechtsfreien Raum auf hoher See – zu Täter führen, die sich ebenfalls für den an ihnen begangenen Kindesmissbrauch rächen.

Weniger reißerisch, dafür umso kritischer erzählt Regisseur Daniel Prochaska nach einer Vorlage des Schriftstellers und früheren Strafverteidigers Ferdinand von Schirach in der „RTL+ Original“-Serie Glauben (2021) in fiktionaler Form die sogenannten Wormser Prozesse nach. Im Zuge dieser Justizverfahren waren zwischen 1994 und 1997 25 Personen aus Worms des Kindesmissbrauchs angeklagt. Im Laufe der Prozesse stellte sich heraus, dass die Anschuldigungen unhaltbar waren, da sie durch fehlerhafte und stark suggestive Techniken bei der Befragung der betroffenen Kinder zustande gekommen waren.

Schirach/Prochaska verlegen das Geschehen der Wormser Prozesse in die Gegenwart und erzählen sie aus der Sicht einer fiktiven Figur, des Berliner Strafverteidigers Dr. Schlesinger (Peter Kurth). Er wird als Pflichtverteidiger eines der Beschuldigten in die ebenfalls fiktive westdeutsche Kleinstadt Ottern bestellt. Dort erlebt er, wie die Angeklagten durch gesellschaftliche Ausgrenzung und eine, auch von den Medien geschürte Vorverurteilung seelisch zerrütten und zusätzlich mit der Vernichtung ihrer materiellen Existenzgrundlagen zu kämpfen haben. Einer, der die Hetze über die Medien noch weiter anheizt, obwohl insbesondere für ihn die Unschuldsvermutung eine Leitlinie des Handelns sein sollte, ist der junge ehrgeizige Staatsanwalt Cordelis (Sebastian Urzendowsky). Ein Sieg im Prozess könnte einen Karrieresprung bedeuten, so sein Kalkül. Dies vereitelt Schlesinger. Durch sein akribisches Aktenstudium und weiterer Recherche kann er die Argumentation der Staatsanwaltschaft zu Fall bringen und einen Freispruch der Angeklagten erreichen.
 

Trailer Glauben (RTL+, 09.02.2021)



Kritisch hinterfragt die RTL-Serie die Hysterie, die Polizei und Justiz bei der Behandlung der Themen Pädophilie und Kinderpornografie an den Tag legen. Getrieben von einer populistischen Presse und den Feststellungen voreingenommener Ärzte, Sozialpädagogen und Gutachter kommt es zu schlampigen Ermittlungen und Vorverurteilungen. Die Serie verschweigt aber auch nicht die sozialen Folgen der Anfeindungen, die die Kleinstadtgesellschaft den vermeintlichen pädophilen Straftätern entgegenschmettert. Dem setzen Schirach/Prochaska ihre vielleicht etwas romantisierte Figur des Anwalts entgegen, der als Ruhepol im Sturm des Skandals wortkarg aber unbeirrt der Sache auf den Grund geht.
 

Besondere Rechtsfälle als Serienstoff

Nach Glauben setzte RTL die Zusammenarbeit mit Ferdinand von Schirach 2022 fort. Die Anthologie-Serie Strafe gründet sich auf einen gleichnamigen Kurzgeschichtenband, in dem der Autor besondere Rechtsfälle fiktionalisiert hat. Für die sechsteilige Serie inszenierten namhafte Regisseure wie Oliver Hirschbiegel, David Wnendt oder Helene Hegemann jeweils eine Kurzgeschichte als abgeschlossene Episodenhandlung. Es sind mutige und außergewöhnliche Inszenierungen, etwa wenn Hirschbiegel gleich in der ersten Folge Der Taucher einen skurrilen Rechtsfall aufrollt, der sich auf eine ganz besondere Spielart von Sexualität gründet, oder Wnendt in Ein hellblauer Tag mit großer Intensität einen tragischen Fall von Kindstod, Sühne und Schuld erzählt.
 

Faking Hitler

2019 wurde die „STERN“-Dokumentation Faking Hitler zu einem der erfolgreichsten Podcasts des Jahres. Zuerst veröffentlicht auf STERN PLUS, war der Podcast schließlich auf allen gängigen Audiotheken abrufbar. Die Audio-Dokumentation zeichnet einen der größten Presseskandale der Bundesrepublik nach: die Veröffentlichung vermeintlicher Hitler-Tagebücher 1983 im „STERN“. Die Tagebücher stellten sich schnell als Fälschung heraus und brachten die journalistische Glaubwürdigkeit des „STERN“ nachhaltig in Verruf.

Die Podcast-Dokumentation gründet sich im Kern auf die Telefonate zwischen „STERN“-Reporter Gerd Heidemann und dem Tagebuch-Fälscher Konrad Kujau, die die Macher im „STERN“-Archiv fanden. Mittlerweile kann man den Podcast auch auf RTL+ anhören, denn der Streamingdienst – auch eine Innovation – hat eine eigene Podcast-Rubrik.
 

Trailer Faking Hitler (RTL+, 26.11.2021)



Die Regisseure Tobi Baumann und Wolfgang Groos machten zusammen mit Headautor und Showrunner Tommy Wosch aus dem Podcast 2021 eine „RTL+ Original“-Miniserie. Mit Lars Eidinger als Heidemann und Moritz Bleibtreu als Kujau prominent besetzt, zeichnet die Serie das Geschehen um die Veröffentlichung der Tagebücher realistischer nach, als dies seinerzeit Regisseur Helmut Dietl mit Schtonk! im Sinn hatte. Dietls Kinofilm war die böse Groteske auf eine gewisse Faszination am Faschismus, die der Regisseur in linksliberalen Redaktionsstuben vermutete. Das Serienformat bietet nun die Möglichkeit, die Motivlage der Hauptcharaktere differenzierter auszuleuchten und der Komik, aber auch der Tragik ihres Handelns mehr Raum zu geben. Diese entfaltet sich besonders im Kontext des sich seinerzeit zum knallharten internationalen Business wandelnden investigativen Journalismus. Zudem zeigt Faking Hitler durch die Perspektive der fiktiven Figur der jungen Journalistin Elisabeth Stölzl (Sinje Irslinger) die unhinterfragten Sexismen und die ungebrochene Frauenfeindlichkeit in medialen Machtzentren wie der „STERN“-Redaktion. Trotz manch feministischer Bemühungen wurden diese Institutionen fast vollständig von Männern beherrscht.
 

In der Tradition des westdeutschen Action-Fernsehens

Von einer Frau im Kampf gegen eine Phalanx männlicher Ignoranz und Geltungssucht erzählt auch die Krimireihe Sonderlage – Ein Hamburg-Krimi (2023) auf RTL+. Henny Reents spielt die Polizistin Verena Clausen, die immer zum Einsatz kommt, wenn die Hamburger Polizei besonders knifflige oder sensible Fälle zu lösen hat. In Folge 1 (Der Angriff) übernimmt Clausen die Sonderlage, nachdem auf den Landungsbrücken ein Bombenanschlag verübt wurde. Sie muss mit ihrem Team einerseits die Motive der Attentäter ergründen, um sie fassen zu können, und andererseits weitere Anschläge im Hamburger Hafen verhindern. Hierbei fällt sie eine Reihe unbequemer Entscheidungen, die sie in Konflikt mit dem Leiter der Mordkommission Björn Busskamp (Lasse Myhr) und dem hinter ihm stehenden Polizeichef sowie dem Innensenator bringen.

In Folge 2 (Das Kind wird sterben) spitzt sich der Konflikt zwischen Clausen und ihren männlichen Kollegen zu: Nach der Entführung des Sohns eines reichen Hamburger Logistikunternehmers ist die Leiterin der Sonderlage darum bemüht, das Leben des Kindes und seiner mitentführten Nanny zu retten. Die ignorante Männergruppe um Busskamp will dagegen einen schnellen Fahndungserfolg durch die Festnahme der Täter, um in den Medien gut dazustehen. Schließlich findet Clausen heraus, dass hinter der Entführung noch ein ganz anderes Komplott lauert.
 

Trailer Sonderlage – Ein Hamburg-Krimi (RTL+, 08.02.2023)



Sonderlage – Ein Hamburg Krimi könnte als Konkurrenzprodukt zur erfolgreichen ZDF-Reihe Nachtschicht (seit 2003) von Autor/Regisseur Lars Becker gesehen werden. Beide Serien spielen in Hamburg, thematisieren die spezifischen Probleme der Polizeiarbeit in einer Groß- und Hafenstadt. Doch Regisseur Andreas Senn inszeniert Sonderlage härter, rasanter und actionreicher.

So steht die Serie eher in der Tradition des westdeutschen Action-Fernsehens mit Serien wie Sonderdezernat K1 (ARD 1972 – 1982) oder Peter Strohm (ARD 1989 – 1996). Die RTL-Serie setzt mit ihrer vorausschauenden und sensiblen Hauptfigur allerdings einen deutlichen Gegenentwurf zum Machismo solcher Serienhelden wie Strohm oder Schimanski (ARD 1997 – 2013), auch wenn sie nun nach nur zwei Episoden eingestellt wird.
 

Jenseits des Markenkerns von RTL

Natürlich gibt RTL nicht sein traditionelles Kerngeschäft auf. Gut abgelagerte US-Serienware, wie Two and a half Men (2003 – 2015) oder The Good Doctor (seit 2017), sind auf RTL+ ebenso zu finden wie konventionell, aber spannend gemachte Brit-Miniserien, etwa Agatha Christie: Ein Schritt ins Leere (GB 2022) oder das Psychiatrie-Drama Too Close (GB 2021). Andere Formate zeigen aber eben auch, dass es mehr zu bieten hat, als sein anfangs beschriebenes Image vermuten lässt. Mittlerweile lassen sich dort zahlreiche ambitionierte Film- und Serienprojekte finden. Ein Beispiel ist die Reihe Dünentod (2023), ebenfalls mit weiblicher Hauptfigur und wie andere Krimiformate auch auf Literatur basierend, nämlich auf Romanen von Sven Koch. Nach den ersten beiden Folgen werden nun drei weitere Episoden produziert. Auch die international renommierte, u. a. von Steven Spielbergs Amblin Television produzierte Serienverfilmung Brave New World (USA 2020) fällt positiv auf – lange galt der Zukunftsroman Schöne Neue Welt von Aldous Huxley als unverfilmbar.
 

Trailer Brave New World (RTL+, 28.09.2020)



Solche innovativen Ansätze von Qualitätsfernsehen mögen sich oft jenseits des traditionellen Markenkerns von RTL bewegen. Sie bieten dem Sender gleichwohl die Chance, die eigene Marke differenzierter zu präsentieren. Damit könnte der Sender es schaffen, neue kaufkräftige Zuschauergruppen anzusprechen, die bereit sind, die Bezahlschranke zu überwinden.
 

Joyn: Second Screen für Bestseller-Serien

Da ein Blick auf das Fernsehfilm- und Serienangebot von Joyn diesen Befund nicht ergibt, fällt der abschließende Blick auf den Streamingdienst von ProSiebenSat.1 kurz aus. Im Serienbereich dominieren vor wie hinter der Bezahlschranke Serien-Bestseller und Klassiker aus den USA sowie einige, allerdings durchweg ältere Eigenproduktionen das Angebot. Hinter der Paywall bei Joyn PLUS+ sind dies u. a. deutsche Mehrteiler wie Via Mala (1985) oder Der Seewolf (2009) und US-Serien-Klassiker wie The Walking Dead (USA 2010 – 2022) oder Serien-Bestseller wie Fargo (USA, seit 2014), die zuvor schon bei anderen Streamingdiensten zu sehen waren oder dort immer noch abrufbar sind. Interessant ist allenfalls noch die US-amerikanische Science-Fiction-Serie EUReKA – Die geheime Stadt (USA 2006 – 2012), die allerdings bereits 2008 ihre Deutschlandpremiere bei ProSieben erlebte und die vor der Bezahlschranke mit, hinter der Bezahlschranke ohne Werbung angesehen werden kann.

Auch mit Werbeunterbrechungen vor der Bezahlschranke gibt es noch die intelligent gemachte britische SciFi-Mystery-Serie Residue (GB 2015) zu sehen. In ihr findet eine Fotografin (Natalia Tena) auf einigen ihrer Bilder Indizien, um die Hintergründe einer verheerenden Explosion am Silvesterabend aufzuklären. Doch auch diese Serie hatte bereits 2015 bei Netflix Premiere. So sind bei Joyn PLUS+ kaum Ansätze für neueres Qualitätsfernsehen zu erkennen, abgesehen vielleicht von der spannenden sechsteiligen Serienverfilmung von Marc Elsbergs Thriller Blackout (2021), in der Moritz Bleibtreu in der Rolle des Hackers Pierre Manzano zu sehen ist, der einen europaweiten Stromausfall als Anschlag identifiziert und auf eigene Faust die Hintergründe aufklären will.
 

Trailer Blackout (KinoCheck Heimkino, 11.01.2023)



Filmangebot als Chance

Allerdings finden sich einige Perlen des internationalen Arthouse-Kinos vor der Bezahlschranke bei Joyn, wie Amores perros (Mexiko 2000) von Alejandro González Iñárritu oder Buffalo ’66 (USA 1998), das bemerkenswerte Regiedebüt des Schauspielers Vincent Gallo, der in seinem Film neben Christina Ricci selbst die Hauptrolle spielt. Ein Ausbau dieses Angebots mit anspruchsvollen Filmen, maßgeblich gespeist aus den Beständen des ProSieben-Programms, könnte ProSiebenSat.1 Media die Möglichkeit bieten, bei jenem neuen Streaming-Publikum weitere Abonnenten zu finden, dessen Profil Robert Blanchet (2011, S. 52) folgendermaßen umschrieben hat: „Es kommt aus der sozialen Oberschicht, ist gebildet, urban und jung.“
 

Literatur:

Blanchet, R.: Quality-TV. Eine kurze Einführung in die Geschichte und Ästhetik neuer amerikanischer Serien. In: R. Blanchet u. a. (Hrsg.): Serielle Formen. Marburg 2011, S. 37-72

dpa-AFX: ProSiebenSat.1 setzt auf Entertainment und Joyn – Wachstum durch Übernahmen. In: wall­street:online, 28.03.2023. Abrufbar unter: www.wallstreet-online.de (letzter Zugriff: 28.08.2023)

Huber, J.: Steigende Kosten, wachsende Konkurrenz. Sky Deutschland stellt Serienproduktion ein. In: Tagesspiegel Online, 29.06.2023. Abrufbar unter: www.tagesspiegel.de (letzter Zugriff: 28.08.2023)

Kaindl, F.: „Harry Potter“, „Batman“ und „Big Bang Theory“ künftig bei RTL+? Sender sichert sich Mega-Deal. In: tz.de, 21.02.2022. Abrufbar unter: www.tz.de (letzter Zugriff: 28.08.2023)

Meyer, M.: Streamingdienste in der Krise. Deutsche sparen bei Streaming-Abos. In: Deutschlandfunk, 18.07.2023. Abrufbar unter: www.deutschlandfunk.de (letzter Zugriff: 28.08.2023)

Müller, M.: Halbjahreszahlen. Deutscher TV-Werbemarkt zieht RTL-Group-Bilanz weiter runter. In: Blickpunkt:Film, 08.08.2023. Abrufbar unter: www.blickpunktfilm.de (letzter Zugriff: 28.08.2023)

Rumbucher, J.: Marktforschung. Abo-Streaming: „Keine Krise, aber Metamorphose“.In: Blickpunkt:Film, 12.07.2023. Abrufbar unter: www.blickpunktfilm.de (letzter Zugriff: 28.08.2023)