True Crime im Tagesprogramm?

Ein Einblick in die Kriterien und individuellen Vorstellungen von FSF-Prüfenden

Eva Maria Lütticke

Eva Lütticke studierte Medienwissenschaften (M.A.) an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF. Sie ist Redakteurin der Fachzeitschrift MEDIENDISKURS und Ansprechpartnerin für das Klassifizierungstool „YouKit“ bei der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF)

In einem qualitativen Forschungsdesign wurden im Rahmen einer Masterarbeit an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF Prüferinnen und Prüfer der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen(FSF) interviewt. Das Erkenntnisinteresse richtete sich auf die individuellen Kriterien und Vorstellungen der Prüfer*innen bei der Beurteilung von True-Crime-Formaten hinsichtlich einer Entwicklungsbeeinträchtigung von Kindern und Jugendlichen. Im Folgenden werden einige ausgewählte Ergebnisse vorgestellt.

Printausgabe mediendiskurs: 27. Jg., 2/2023 (Ausgabe 104), S. 78-81

Vollständiger Beitrag als:

Anlass und Zielsetzung der Forschungsarbeit

In den letzten Jahren dominierte vor allem ein Genre die Prüfungen der FSF: True Crime. Das True­-Crime-Genre zeichnet sich durch zahlreiche Genredifferenzierungen aus, die von der faktenorientierten Dokumentation bis hin zu Scripted-Reality-Formaten reichen. Auch inhaltlich gibt es eine große Bandbreite an Erzählmustern. Mal wird der Täter gefasst und verurteilt, in anderen Fällen kann man nur mutmaßen, wer das Verbrechen verübt hat. Thematisch reicht das Spektrum von verschwundenen Kindern, die nie wieder auftauchen, über Raub und Vergewaltigung bis hin zu Serienmördern, die über Jahrzehnte in der Bevölkerung Angst und Schrecken verbreiten. Diese Genrevielfalt stellt die Prüferinnen und Prüfer der FSF vor die komplexe Herausforderung, mögliche entwicklungsbeeinträchtigende Wirkungen zu ermitteln und einzuschätzen, inwieweit Kriterien relativierend oder verstärkend auf Kinder und Jugendliche wirken können.

Ziel der hier vorgestellten qualitativen Forschungsarbeit ist es, die handlungsleitenden, individuellen Vorstellungen und Wirkungshypothesen der Prüfenden in der Beurteilung von True-Crime-Formaten herauszuarbeiten.
 

Theoretische Grundlage und methodisches Vorgehen

Die Expertise der Studienteilnehmenden basiert auf ihrer Prüferfahrung und der damit verbundenen Prüfordnung der FSF. Gleichzeitig verfügen die Befragten über persönliche Erfahrungen mit True­-Crime-Formaten und haben aufgrund ihrer Biografie ein individuelles Verständnis von Mediennutzung und Medienwirkung. Um diese individuellen Vorstellungen und Wirkungshypothesen herauszuarbeiten, bedarf es eines theoretischen Bezugsrahmens, der das Alltagsverständnis und die Medienerfahrung der Befragten berücksichtigt. Hierfür bietet sich das Konzept der Subjektiven Medientheorien an. Die Grundidee der Subjektiven Medientheorien basiert auf dem Verständnis, dass jeder Mensch seine Umwelt reflektieren muss, um erfolgreich handeln zu können (vgl. Stiehler 1999, S. 12). Bezogen auf Medien bedeutet dies, dass

Menschen im Umgang mit den Medien, aber auch durch die mediale und personale Kommunikation über die Medien insgesamt, über einzelne Medienereignisse bzw. -erlebnisse, mehr oder minder spontan, Vorstellungen vom Funktionieren der Medien und Wertmaßstäbe ihnen gegenüber entwickeln“ (Schorb/Stiehler 1999, S. 7).

Der empirische Zugang erfolgte über das qualitative Verfahren des leitfadengestützten Expert*innen­-Interviews. Insgesamt wurden acht Interviews mit Prüfer*innen der FSF geführt. Die hochselektive Stichprobe kann keinesfalls repräsentative Ergebnisse liefern. Vielmehr handelt es sich um einen partiellen Ausschnitt, der jedoch über die Einzelfallanalyse hinausgeht (vgl. Keuneke 2017, S. 301).

Die inhaltlichen Schwerpunkte des Leitfadens waren:

  • Genrekonventionen: Welche Merkmale zeichnen True-Crime-Formate aus?
  • Annahmen über Zuschauer*innen: Für welche Altersgruppe sind True-Crime-Formate besonders attraktiv und warum?
  • Wirkungsannahmen: Welche Risikodimensionen spielen bei der Bewertung von True-Crime-Formaten eine Rolle?
     

Bild: Frank Lütticke


 

Die Ergebnisse der Studie

Die Auswertung der Interviewtranskripte erfolgte anhand eines Kategoriensystems, das deduktiv und induktiv aus dem Datenmaterial gebildet wurde. Ziel war es, das Antwortspektrum aller Befragten abzudecken.

Dabei soll klar werden, inwieweit die einzelnen Aussagen voneinander abweichen und woraus diese Unterschiede resultieren“ (Hajok/Mann/Lauber 1999, S. 39).

Im Anschluss wurden die detaillierten Ergebnisse zu verallgemeinernden Mustern reduziert. Welche Auffassungen wurden explizit oder implizit besonders häufig genannt? Aber auch: Wo gab es die größte Diskrepanz zwischen den befragten Expert*innen?
 

Es ist vom Einzelfall abhängig

True-Crime-Formate sind in ihrer Aufbereitung sehr vielfältig. Zwar gibt es klare Genrekonventionen, entscheidend für die Bewertung ist jedoch die Verknüpfung der einzelnen ästhetischen und inhaltlichen Elemente. Es verwundert daher nicht, dass die Prüferinnen und Prüfer betonen, dass sie jedes Prüfobjekt im Einzelfall hinsichtlich seiner Wirkung auf Kinder und Jugendliche betrachten müssen. Dies untermauert die Prüfpraxis, in der ein Prüfgremium jedes Format einzeln im Hinblick auf eine mögliche Entwicklungsbeeinträchtigung von Heranwachsenden betrachtet und diskutiert.
 

Anschlussfähigkeit als zentrales Kriterium

Trotz der Einzelfallbetrachtung gibt es einen Aspekt, den alle Studienteilnehmenden in ihrer Wirkungsvermutung hervorheben, und das ist die Anschlussfähigkeit des Formats für Kinder und Jugendliche. Je anschlussfähiger das Format ist, desto wirksamer ist es im Hinblick auf eine Entwicklungsbeeinträchtigung. Die Anschlussfähigkeit ist gegeben, wenn kindliche Identifikationsfiguren vorhanden sind, wenn die Handlung im häuslichen Umfeld stattfindet und z. B. die Eltern eine zentrale Rolle spielen. Wenn also die Tat in irgendeiner Form in der Lebenswelt der Heranwachsenden verortet ist. Die Prüferinnen und Prüfer versetzen sich dabei in die Lage der Kinder und Jugendlichen und stellen sich die zentrale Frage: Könnte mir das auch passieren?
 

Performative Gewaltdarstellungen sind kritisch einzuordnen

True-Crime-Formate handeln häufig von Gewaltverbrechen. Nicht selten wird die Gewalt zu Unterhaltungszwecken inszeniert, um eine besonders schockierende Wirkung auf die Zuschauerinnen und Zuschauer zu erzielen. Entscheidend für die Beurteilung ist, wie die Tat visuell und auditiv aufbereitet wird: je drastischer und expliziter, desto wirkungsvoller. Hinzu kommt, dass die Expert*innen spekulative und reißerische Darstellungen in ihrer Wirkungsvermutung nochmals verstärkt empfinden.
 

Die Täterperspektive ist immer problematisch

Sobald der Täter die Möglichkeit hat, aus seiner Perspektive zu erzählen, sehen die Prüfenden die große Gefahr einer desorientierenden Wirkung auf Kinder und Jugendliche. Durch die Täterperspektive kann eine Faszination für den Täter entstehen, die bei der Beurteilung besonders kritisch zu bewerten ist. Zwar wird diese Perspektive in True-Crime-Formaten eher selten eingenommen, aber wenn, dann urteilen die Befragten mit einer höheren Altersfreigabe oder einer späteren Sendezeit, um Kinder und Jugendliche nicht dem Risiko einer Entwicklungsbeeinträchtigung auszusetzen.
 

Sexualisierte Gewalt und das weibliche Opfer

Hinsichtlich der Darstellung von sexualisierter Gewalt, die in der Regel dem weiblichen Opfer zugefügt wird, gibt es Unterschiede in den Aussagen der Prüferinnen und Prüfer. Die meisten stufen sexualisierte Gewalt als drastischer ein als andere Gewaltdarstellungen. Das wiederkehrende Narrativ des weiblichen Opfers, das häufig in Geschlechterstereotypen erzählt wird, ist jedoch nur über mehrere Folgen hinweg erkennbar. Hier ergibt sich eine Ambivalenz, da die Prüfenden vom Einzelfall ausgehen müssen. Insbesondere die interviewten weiblichen Personen scheinen für das Thema sensibilisiert zu sein.
 

Tagesprogramm

Die Aussagen der Prüfenden zur Frage, ob True Crime im Tagesprogramm ausgestrahlt werden darf, differenzierten stark zwischen „es sollte kein Thematisierungsverbot geben“ und „ich gehöre zu den Prüfenden, die sehr stark gegen das Tagesprogramm votieren, weil ich das Format einfach wirklich gänzlich ungeeignet für Kinder finde“. Insgesamt ist sich die Mehrheit aber einig, dass es True-Crime­-Formate geben kann, die so sachlich und zurückhaltend inszeniert sind, dass nichts gegen eine Platzierung im Tagesprogramm spricht. Dies sei aber sehr, sehr selten der Fall.
 

Schlussfolgerung

Die Studienteilnehmenden haben ihre Rolle als FSF-Prüfer*innen verinnerlicht. Ihre Wirkungsvermutungen basieren auf den Kriterien der FSF-Prüfordnung, die allen Prüfentscheidungen zugrunde liegt, auf ihren persönlichen Erfahrungen sowie auf „Fremddaten“ (z. B. Wissen über den Scary-World-Effekt). Auch wenn die Prüferinnen und Prüfer selten pauschalisierende Aussagen trafen – es kommt immer auf den Einzelfall an –, wurden doch Kausalzusammenhänge hergestellt („wenn – dann“, „je – desto“, „weil – deshalb“ etc.).

In wenigen Fällen gab es unterschiedliche Auffassungen. Dass vor allem die Prüferinnen einen besonderen Fokus auf das weibliche Opfer und die damit häufig einhergehende sexualisierte Gewalt legten, kann auf das Geschlecht und eine mögliche Identifikation zurückzuführen sein. Eine Ambivalenz ergab sich bei der Bewertung struktureller Gewalt (z. B. Femizide). Die Prüferinnen sind sich bewusst, dass sie bei der Bewertung nur vom Einzelfall ausgehen können, dennoch stufen einige Prüferinnen Femizide in der inhaltlichen Bewertung als drastischer ein. Die Subjektiven Medientheorien der Prüferinnen und Prüfer müssen nicht widerspruchsfrei sein, sondern folgen einer inneren, subjektiven Plausibilität.

Bezogen auf die soziodemografischen Daten der Befragten ließen sich keine weiteren Muster erkennen, etwa dass ältere Prüfer*innen anders entscheiden als jüngere oder Filmwissenschaftler*innen anders als Jurist*innen. Auffällig war jedoch, dass insbesondere bei den ersten Assoziationen zum True-Crime-Genre einige Prüfende sich dem Thema eher visuell, andere eher inhaltlich näherten. Ein abschließendes Muster lässt sich daraus jedoch nicht ableiten.

Vielmehr muss betont werden, dass die Expert*innen ein fundiertes Genrewissen aufweisen und alle Aspekte des Genres in ihre Wirkungsvermutungen mit einbeziehen. Sie können zwischen den Wirkungsvermutungen auf Kinder und Jugendliche je nach Altersstufe und ihren eigenen Empfindungen beim Sehen von True-Crime-Formaten abstrahieren.
 

Literatur:

Hajok, D./Mann, A./Lauber, A.: Fernsehnutzung. In: B. Schorb/H.-J. Stiehler (Hrsg.): Idealisten oder Realisten? Die deutschen Kinder- und JugendfernsehmacherInnen und ihre Subjektiven Medientheorien. München 1999, S. 39–71

Keuneke, S.: Qualitatives Interview. In: L. Mikos/C. Wegener (Hrsg.): Qualitative Medienforschung. Ein Handbuch. Konstanz/München 20172, S. 302–312

Schorb, B./Stiehler, H.-J. (Hrsg.): Idealisten oder Realisten? Die deutschen Kinder- und JugendfernsehmacherInnen und ihre Subjektiven Medientheorien. München 1999

Stiehler, H.-J.: Subjektive Medientheorien – Zum Begriff. In: B. Schorb/H.-J. Stiehler (Hrsg.): Idealisten oder Realisten? Die deutschen Kinder- und JugendfernsehmacherInnen und ihre Subjektiven Medientheorien. München 1999, S. 12–25