Verträge mit begrenzter Wirkung
GNTM-Kandidatin darf beweisbare Kritik veröffentlichen
Sie war eine sehr ehrgeizige Kandidatin für Germany’s Next Top Model (GNTM) und ist 2020 bis ins Finale gekommen. Lijana Kaggwa (jetzt Risen) aus Kassel hätte nicht nur den Titel, sondern auch 100.000 Euro Prämie gewinnen können. Aber im letzten Moment gab sie auf der Bühne ihren Austritt aus der Show bekannt. Ihre Gründe erläutert sie in einem Video, das mit dem Satz angekündigt wird: „GNTM 2020 neigt sich langsam dem Ende zu. Ich war wohl die Kandidatin, die am meisten polarisiert hat. Immer wieder wurden Wünsche nach einem Statement laut. Ich finde, jetzt ist der richtige Zeitpunkt gekommen. Dieses Statement enthält eine wichtige Botschaft am Ende!“ (Risen 2020).
Lijana's Statement: Ich erzähle die ganze Wahrheit (Lijana Risen, 09.05.2020)
Anfangs war Lijana Risen bereit, alles für den Sieg zu unternehmen. Ihre direkte Art fand aber sowohl bei ihren Mitkandidatinnen als auch beim Publikum nicht immer Anklang. Die Folge: Es gab einen Shitstorm in den sozialen Netzwerken mit konkreten Drohungen gegen sie, ihre Familie und ihren Hund. Das stürzte sie in eine psychische Krise, die bis zu Suizidgedanken führte, sodass sie sich einem Auftritt im Finale nicht mehr gewachsen sah (vgl. Schröder 2022).
Die Kritik an den harten Bedingungen der Show, die praktisch kein privates Leben mehr ermöglichen und die Kandidatinnen teilweise gegen ihren Willen dazu bringen, in aufreizenden Posen teilweise unbekleidet zu posieren, ist nicht neu. Der Youtuber Rezo hat in einem Video die aus seiner Sicht entwürdigenden Regeln angeprangert (Rezo 2020).
Lijana Risen kritisierte die Show aufgrund ihrer eigenen Erfahrung: „Selbstzweifel, Suizidgedanken, Polizeischutz. Die traurige Wahrheit hinter GNTM. 2020 habe ich bei GNTM teilgenommen, bin bis ins Finale gekommen und dann aber freiwillig live ausgestiegen. Der Grund? Ich habe aufgrund der Teilnehme extrem unter Cybermobbing gelitten, der ins reale Leben übergeschwappt ist. Ich erhielt Morddrohungen, mein Hund wurde versucht zu vergiften, ich wurde auf offener Straße bespuckt, beleidigt und schlussendlich bekam ich Polizeischutz“, so Risen in der schriftlichen Ankündigung (Risen 2020). Durch die Produktionsfirma und die Moderation sei ständig Streit zwischen den Kandidatinnen initiiert worden, die Worte seien ihnen nahezu manipulativ in den Mund gelegt worden. „Harmonie sei schließlich zu langweilig und käme beim Publikum nicht gut an. Hass ist einfach viel eindrucksvoller als Liebe“, so die 25-Jährige in ihrem Video (Risen 2022).
Germany’s next Topmodel - was passiert wirklich hinter den Kulissen? (Lijana Risen, 17.05.2022)
Mit dieser Kritik, so ProSieben, verstoße die Ex-Kandidatin gegen die vertraglich vereinbarte Schweigepflicht und klagte dagegen. Damit hatte der Sender vor dem Landgericht Hamburg aber nur eingeschränkten Erfolg. Gemäß der Urteile vom 5. und 13. Juli 2022 muss Risen aus einer Stunde Material nur sechs Szenen herausschneiden. „Die Videos mit dem Kern ihrer Kritik können weiter ausgestrahlt werden. Sie darf weiterhin sagen: Wir wurden manipuliert, uns wurden Handlungsstränge vorgeschrieben“, so Risens Anwalt Simon Bergmann (Zarges 2022).
Wie weit die Verträge bezüglich der Schweigepflicht gültig sind, wurde in dem Prozess nicht abschließend geklärt: „Die Gegenseite hatte wohl schon geahnt, dass die Klausel rechtlich problematisch sein kann und sich deshalb nur hilfsweise darauf berufen. Der Hinweis des Gerichts veranlasste sie dann dazu, diesen Aspekt fallen zu lassen. Mutmaßlich wollte man ein Präzedenzurteil vermeiden, in dem das Gericht schriftlich begründet, warum eine solche umfassende Schweigepflicht unwirksam ist.“ (ebd.)
Ein genereller Freibrief sei das Urteil allerdings nicht: Vorwürfe, die nicht beweisbar sind, dürfen nicht veröffentlicht werden. „Im konkreten Fall musste meine Mandantin drei Verträge unterzeichnen und in allen findet sich eine gleichlautende Geheimhaltungsklausel, die es ihr untersagt, jemals über irgendwas im Zusammenhang mit den Produktionsbedingungen zu reden. Das ist eine sogenannte ‚Catch-All-Klausel‘, quasi ein lebenslanger Maulkorb. In der Vergangenheit haben solche Klauseln dazu geführt, dass Teilnehmerinnen sich nicht an die Öffentlichkeit gewagt haben. Anlass dazu hätte es sicher gegeben, aber das Drohpotenzial schien wohl zu übermächtig.“ (ebd.) Es muss also im Einzelfall immer abgewogen werden. Trotzdem: „Das wird sicher Leuchtturmcharakter haben, weil man sich künftig nun mit sehr guten Chancen auf die Unwirksamkeit einer solchen Klausel berufen kann. Ich gehe davon aus, dass Sender und Produktionsfirmen ihre Verschwiegenheitsklauseln im eigenen Interesse überarbeiten werden. Wenn ich mir vorstelle, ich wäre die Gegenseite und würde meiner Geheimhaltungsklausel vertrauen, dann hätte ich doch das ganze Video verbieten lassen und nicht nur ein paar Sätze aus insgesamt zwei halbstündigen Videos von Lijana.“ (ebd.)
Die Aussagen von Risen und das Ergebnis des Prozesses haben für mehr Transparenz gesorgt und könnten zur Folge haben, dass die Kandidatinnen in Zukunft nicht nur an die Show, die Berühmtheit und den erhofften Sieg denken, sondern sich die Härte des Geschäfts bewusst machen und abwägen, ob ihnen die Teilnahme den dreimonatigen Stress in der Show und die starke Reduzierung von Freiheit und Privatleben wert ist. Vielleicht hat die öffentliche Kritik ja auch Konsequenzen für die Produktionsbedingungen.
Quellen:
Rezo: GNTM Exposed: Mi$$brauch, Lügen und Minderjährige. In: Youtube, 25.05.2022. Abrufbar unter: www.youtube.com
Risen, L.: Lijana's Statement: Ich erzähle die ganze Wahrheit. In: Youtube, 09.05.2020. Abrufbar unter: www.youtube.com
Risen, L.: Germany’s next Topmodel – was passiert wirklich hinter den Kulissen?. In: Youtube, 17.05.2022. Abrufbar unter: www.youtube.com
Schröder, A.: Ex-GNTM-Teilnehmerin Lijana aus Kassel enthüllt: „Es wird manipuliert“. In: Hessischen/Niedersächsischen Allgemeine (HNA), 27.05.2022. Abrufbar unter: www.hna.de
Zarges, T.: DWDL.de-Interview mit Rechtsanwalt Simon Bergmann. „Tiefgreifende Einschränkungen elementarer Freiheitsrechte“. In: DWDL, 21.07.2022. Abrufbar unter: www.dwdl.de