Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß
Bisher Verborgenes wird heute in sozialen Medien sichtbar
Die Euphorie, mit der zu Beginn der digitalen Revolution das Internet als grunddemokratisches Medium gepriesen wurde, hat sich in Internetskepsis verwandelt. Grenzüberschreitungen wie Fake News, Hate Speech oder Mobbing haben den Ruf des Netzes ramponiert. Die Neue Rechte bedient sich der sozialen Netzwerke und schimpft auf die etablierte Politik und die klassischen Medien, die sich angeblich in einer konzertierten Aktion der Vermittlung von Falschdarstellung verschrieben haben. Dabei ist es eigentlich nichts Neues, dass man in der Politik dem Gegner unterstellt, die Unwahrheit zu sagen, und für sich die Wahrheit in Anspruch nimmt. Auch die Tonalität, über die wir uns bei manchem Post auf Facebook oder Twitter zu Recht beschweren, unterscheidet sich vermutlich nur wenig von manchen Parolen, die an Stammtischen, in Würstchenbuden oder auf Familienfeiern nach einem bestimmten Alkoholpegel schon immer ausgegeben wurden.
Trotz Gatekeepern in Form von ausgebildeten Journalisten haben Falschdarstellungen auch in der Vergangenheit und ohne soziale Medien zur Entstehung von Kriegen und Gewalt beigetragen. Hier sei nur an den Irakkrieg erinnert, der nicht zuletzt damit begründet wurde, dass Saddam Hussein über Massenvernichtungsmittel schlimmsten Ausmaßes verfüge, die es zu zerstören gelte. Dies war eine bewusste politische Lüge, wie es der damalige US-Außenminister Colin Powell später zugab. Zumindest die US-Medien sind dieser Lüge gefolgt, sie haben sie nicht aufgedeckt und damit einen Krieg mit unterstützt, dessen Folgen wir heute noch in Form von Terroranschlägen zu spüren bekommen. Auch illegale und unfaire Methoden in Wahlkämpfen, die heute den Social Bots oder Fake News angekreidet werden, sind nichts Neues. Hier sei nur an den Fall Barschel erinnert. Damals wurde versucht, über das Ausspionieren der Intimsphäre den Gegenkandidaten in Misskredit zu bringen. Der „Stern“ veröffentlichte gefälschte Hitler-Tagebücher, die selbst von Fachleuten zuerst für echt gehalten worden waren. Schon immer war die Darstellung von Wirklichkeit mit Interpretation je nach politischem Standpunkt geprägt. Der Journalist als Gatekeeper wurde vermutlich für glaubwürdiger gehalten als ein Post bei Twitter oder Facebook, deshalb waren Lügen vielleicht nicht so häufig, dafür aber umso wirksamer.
Menschen, die jenseits eines akzeptablen Wertekonzepts reden und agieren, hat es immer gegeben, und so ist es auch nicht verwunderlich, dass sie ihre Meinungen öffentlich verbreiten, seitdem dies technisch möglich ist. Bertolt Brecht, der in seiner Radiotheorie die Vorstellung geäußert hatte, dass dieses Medium vielfältiger und interessanter geworden wäre, wenn jeder über einen Rückkanal verfügt hätte, war aus heutiger Sicht wohl naiv. Er wäre über die Art der gegenwärtigen Äußerungen in sozialen Netzwerken vermutlich entsetzt. Aber sowohl vor Fremdenfeindlichkeit als auch vor antidemokratischen Überzeugungen haben manche Politologen schon lange gewarnt. Diese Gesinnungen hatten allerdings in den Medien der Gatekeeper keinen Platz und waren somit medial unsichtbar. Und genau das hat sich durch die sozialen Netzwerke geändert.
Durch das Internet gibt es weder mehr gute noch mehr schlechte Menschen. Aber beide sind leichter wahrnehmbar, sie liegen nur einen Klick voneinander entfernt. Deshalb müssen wir uns auch mit unliebsamen Meinungen auseinandersetzen und Stellung beziehen. Das haben wir in den Zeiten vor dem Internet zu lange versäumt.
Ihr Joachim von Gottberg