Was im Deutschen übrig blieb

Zur Aufbereitung fremdsprachiger Produktionen in der deutschen Film- und Fernsehindustrie

Werner C. Barg

Foto des Autors Werner C. Barg

Prof. Dr. Werner C. Barg ist Autor, Produzent und Dramaturg für Film und Fernsehen sowie Honorarprofessor im Bereich Medienwissenschaft der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF. An der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg leitet er in der Abteilung Medien- und Kommunikationswissenschaft den Ergänzungsstudiengang „Medienbildung“ des Zentrums für Lehrer*innenbildung (ZLB)

Welche Bedeutung und Funktion haben die Übersetzung von Filmtiteln, Synchronisation und Kürzungen von Film- und Fernsehproduktionen aus dem Ausland für den deutschen Film- und Fernsehmarkt? Dieser Frage geht der folgende Beitrag nach.

Online seit 30.03.2022: https://mediendiskurs.online/beitrag/was-im-deutschen-uebrig-blieb-beitrag-772/

 

 

 

Im Showdown von Sergio Leones legendären Westernepos Once Upon a Time in the West (I/USA 1968) treffen der mysteriöse „Mundharmonika“ (Charles Bronson) und der Bösewicht und Revolverheld Frank (Henry Fonda) im Duell aufeinander. Bevor es zum Schusswechsel kommt, erinnert sich Mundharmonika an die Szene, die sein Kindheitstrauma begründet und seine Suche nach Frank ausgelöst hat. Was das Publikum zuvor nur in unscharfen kurzen Flashbacks als Mundharmonikas Erinnerung im Film zu sehen bekam, wird nun in einer längeren Rückblende aufgelöst; aus Mundharmonikas subjektiver Sicht nähert sich ihm der deutlich jüngere Frank und stopft ihm eine Mundharmonika in den Mund. Dabei sagt er: „Keep your loving brother happy“. Der Satz ist zutiefst zynisch, denn wenig später wird der Zuschauer Zeuge davon, wie Mundharmonika seinen älteren Bruder, der auf seinem Rücken an einem Glockenseil wie an einem Galgen hängt, nicht mehr halten kann. Mundharmonika fällt. Der ältere Bruder wird durch das Glockenseil erdrosselt. Frank lächelt diabolisch. Drei Gangmitglieder beobachten den Mord teilnahmslos bis belustigt. Zurück im Duell erschießt Mundharmonika Frank. Im Moment des Sterbens fragt Frank: „Who are you?“. Mundharmonika stopft dem Sterbenden die Mundharmonika, die er an einem Lederband um den Hals trug, in den Mund. Eine stumme Szene, die mit dem brechenden Blick des sterbenden, in den Staub stürzenden Frank und einer kurzen Rückblende auf den in den Staub stürzenden Jungen mit der Mundharmonika abschließt.
 

Trailer Spiel mir das Lied vom Tod (I/USA 1968)



In der deutschen Synchronfassung wird aus Franks „Keep your loving brother happy“ in der erzählerisch bedeutsamen Rückblende der Ausspruch: „Na komm, spiel‘ mir das Lied vom Tod“. Die für das Trauma und die unbedingte Rache der Figur Mundharmonika so wichtige Information, dass er den Tod des geliebten Bruders nicht nur nicht verhindern konnte, sondern sich für dessen Tod mitschuldig fühlen dürfte, wird in der Synchronisation unterschlagen. Dies geschah, um den reißerischen deutschen Verleihtitel Spiel mir das Lied vom Tod irgendwo im Dialog noch unterbringen zu können. Im Sterbemoment Franks fügt die Synchronisation den Satz „Spiel mir das Lied vom Tod“ dann im Off ein zweites Mal ein, wo die Originalszene stumm bleibt und in der Parallelmontage mit dem stürzenden jungen Mundharmonika ganz auf die Bilderzählung setzt. Die deutsche Fassung schwächt hier die cineastische Qualität und Intensität der Szene zugunsten des Filmmarketings ab, denn in der Kinoindustrie ist „die Aufbereitung der fremdsprachigen Fassungen […] allgemein Sache des Verleihs, der wiederum entsprechende Firmen in den Zielländern beauftragt.“ (Peiler 2020, S. 109). Und der Verleih hat Interesse an zugkräftigen Filmtiteln, die gut als Marketingtool funktionieren. „Es war einmal im Westen“, die wörtliche Übersetzung des Leone-Films, so dürfte sich die Verleihfirma Paramount Pictures Germany seinerzeit gedacht haben, lockt weniger Menschen ins Kino als ein Titelknaller wie Spiel mir das Lied vom Tod. Und da Filmtitel ja bekanntlich einen Bezug zur Filmhandlung haben sollten, wurde die Synchronisation genutzt, um den Titel wenigstens im Dialog zweimal auftauchen zu lassen.
 

Reißerische Übersetzung von Filmtiteln

Die Erfindung reißerischer Übersetzungen von Titeln fremdsprachiger Filme hat in der deutschen Filmindustrie seit dem Zweiten Weltkrieg eine lange Tradition. In den 1950er-Jahren waren es besonders die düsteren US-Kriminalfilme der sogenannten „Schwarzen Serie“ der 1940er- und frühen 1950er-Jahre, die mit reißerischen Titeln in die westdeutschen Kinos kamen. So brachte wiederum Paramount 1950 Billy Wilders Film-Noir-Klassiker Double Indemnity (USA 1944) in den bundesdeutschen Kinos als Frau ohne Gewissen heraus. Der Originaltitel, ein Begriff aus der Versicherungsbranche, der so viel heißt wie „Doppel-Entschädigung“ oder „doppelte Abfindung“, bezog sich auf den mörderischen Versicherungscoup, um den es in Wilders Film und dessen Vorlage, in James M. Cains gleichnamigen Roman, geht. Der deutsche Verleihtitel verschiebt den Fokus auf das Verhalten der weiblichen Hauptfigur (Barbara Stanwyck), die mit der Hilfe ihres Geliebten, einem Versicherungsvertreter (Fred MacMurray), die Ermordung ihres Ehemanns (Tom Powers) plant, um die Lebensversicherungssumme zu kassieren. Die weibliche Hauptfigur in Double Indemnity entspricht dem genretypischen Rollenmodell der „Femme fatale“. Der deutsche Verleihtitel charakterisiert sie als skrupellos und gewissenlos und rekurriert damit auf die stark patriarchal geprägten Moralvorstellungen der Zeit. Im Zuge moderner Genderforschung wurde dieses weibliche, in vielen Filmgenres anzutreffende Rollenklischee mittlerweile deutlich differenzierter betrachtet und auch als weibliche Suche nach Selbstbestimmung und Ausbruch aus der Enge patriarchaler Zwänge analysiert (Tasker 1993; Sina 2016).

Ein anderes Beispiel: Aus John Hustons Gangsterfilm Key Largo (USA 1948) wurde in den 1950er-Jahren Hafen des Lasters – ein Titel, der suggerieren sollte, dass man sich im Kino nicht nur „ein paar schöne Stunden“ machen konnte, sondern auch Dinge zu sehen bekam, die im prüden Nachkriegsdeutschland nur hinter geschlossenen Vorhängen und in dunklen Schlafzimmern stattfanden. Die Story des Films löst diese Erwartungen nicht ein. Der Titel, später umbenannt in Gangster in Key Largo, war ein reiner PR-Gag.

Die deutsche Übersetzung von Sorry, Wrong nummer (USA 1948) in Du lebst noch 105 Minuten nahm dagegen das drastische Ende des Krimidramas von Anatole Litvak, die Ermordung der weiblichen Hauptfigur, bereits vorweg und der Filmhandlung damit viel von ihrer Spannung.

In der Kinokrise der späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre wurden u. a. die Filmtitel der besonders beim jungen und studentischen Publikum beliebten Italo-Western in der Übersetzung dramatisiert. Aus Sergio Corbuccis Il grande silenzio (I 1968) wurde Leichen pflastern seinen Weg. Sergio Leones Bürgerkriegs-Western The Good, the Bad and the Ugly (I 1966) bekam den irreführenden Titel Zwei glorreiche Halunken, vermutlich um an den zu jener Zeit großen Erfolg der Bud-Spencer/Terence-Hill-Filme anzuknüpfen. Allerdings sind beide Darsteller in Leones Film gar nicht dabei. Nach dem Erfolg von Django (I 1966) in der Regie von Sergio Corbucci avancierte der Name des einsamen Rächers schnell zu einer bekannten Film-Marke. Dies machten sich die deutschen Verleiher zunutze. Eine ganze Reihe von Italo-Western wurde in der deutschen Titelübersetzung zu Django-Filmen deklariert und zudem mit reißerischen Titelergänzungen versehen: So kam z. B. Franco Rossettis El Desperado (I 1967) unter dem deutschen Verleihtitel Django – Die im Schlamm verrecken heraus; aus Cjamango (I 1967) von Edoardo Mulargia wurde Django – Kreuze im blutigen Sand. Und der Bud-Spencer/Terence-Hill-Streifen Dio perdona … io no! (I 1967) lief unter dem Titel Gott vergibt … Django nie! in den westdeutschen Kinos.

Ab den 1980er-Jahren, so zeigt u. a. eine Studie von Christoph Schubert (2004), tauchten dann immer häufiger auch die (englischen) Originaltitel im Programm deutscher Kinos auf. Zunächst versahen die Verleiher sie noch mit reißerischen oder auch erklärenden Titelergänzungen wie Terminator 2 – Tag der Abrechnung (USA 1991) oder GoodFellas – Drei Jahrzehnte in der Mafia (USA 1990). Heutzutage, da viele Menschen in Deutschland, besonders junge Leute, Englisch als Zweitsprache sehr gut beherrschen, belassen es die Verleiher sehr oft bei den Originaltiteln wie Avengers: Age of Ultron (USA 2015), Black Widow (USA 2021), Spiderman 3: No Way Home (USA 2021) oder übernehmen die internationalen Verleihtitel wie bei dem südkoreanischen Oscar-Preisträgerfilm Parasite (2019).

Dennoch gab und gibt es auch weiterhin reißerische deutsche Zusatztitel wie Hunter Killer – Den Mutigen gehört der Sieg1, ein us-amerikanisch-britisch-chinesisch-französischer Kriegsactionthriller aus dem Jahre 2018 oder die sinnfreie Titelübertragung des John-Carpenter-Films Escape from New York (USA 1981) in Die Klapperschlange. Der Titel bezieht sich auf Snake Plissken, der von Kurt Russell verkörperten Hauptfigur. Sie trägt ein Schlangentattoo auf dem Körper. Es stellt allerdings eine Kobra und keine Klapperschlange dar.
 

Verfälschende Synchronisation

Mögen solche titelgebenden „Stilblüten“ noch als Marketingtricks der Kinoverleiher akzeptabel sein, so wird es problematischer, wenn sich Titelübersetzungen mit manipulativen Verfälschungen des Filminhalts durch die Synchronisation verbinden.

1951 kam Alfred Hitchcocks Kriminalfilm Weißes Gift in die westdeutschen Kinos. Der Titel bezog sich auf eine Filmhandlung, in der US-Agent Devlin (Cary Grant) und seine Geliebte Alicia Huberman (Ingrid Bergman) in Rio de Janeiro gegen eine Gruppe von Rauschgifthändlern kämpfen. Im Zuge dieser Auseinandersetzungen versuchen die Gangster, die Frau allmählich zu vergiften. Dieses Handlungsmoment ist allerdings der einzige Bezug des verfälschenden Titels zur tatsächlichen Handlung von Hitchcocks Film Notorious (USA 1946). Der Agent und seine Gefährtin, Tochter eines in den USA verurteilten Nazi-Kriegsverbrechers, kämpfen im Original nicht gegen eine Bande von Rauschgifthändlern, sondern gegen einen Ring von Naziverbrechern, die Uranerz lagern, möglicherweise zum Bau von Atombomben. Der US-Verleih RKO ließ in der deutschen Synchronisation von Notorious alle Hinweise auf die Naziverbrecher eliminieren. Zu diesem Zwecke wurden auch viele Rollennamen umgeändert, damit kein Bezug zu deutschen Namen mehr gegeben war. So wurde u. a. aus Alexander Sebastian, dem von Claude Rains verkörperten Anführer der Nazi-Bande, in der deutschen Synchronfassung von 1951 Aldro Sebastini.

Notorious war in der Geschichte der westdeutschen Filmsynchronisation der 1950er-Jahre kein Einzelfall. In der deutschen Fassung der eleganten Gaunerkomödie Über den Dächern von Nizza (To Catch a Thief, USA 1955) wurden viele Anspielungen entfernt oder verändert, die sich auf die heldenhafte Vergangenheit der Hauptfigur, des Meisterdiebs John Robie (Cary Grant), und seines Umfeldes im französischen Widerstand gegen die Nazis bezogen. Die Synchronisation des Hitchcock-Films entstand 1955 und war durchaus zeittypisch für das Handeln von Verleih-Zensoren, die glaubten, den Deutschen in Zeiten des beginnenden „Wirtschaftswunders“ den Blick zurück und damit die Konfrontation mit ihrer eigenen jüngsten Vergangenheit ersparen zu müssen. Diese Haltung zeigte sich besonders beim Umgang mit Michael Curtiz‘ Casablanca (USA 1942). Für spätere Generationen von Kinogängern ein Kultfilm, kam das Kriegsmelodram 1952 erstmals in einer nicht nur komplett verfälschenden Synchronfassung, sondern auch in einer um 20 Minuten gekürzten Version in die bundesdeutschen Kinos. Aus dem Widerstandskämpfer Victor László (Paul Henreid) machte das deutsche Synchronbuch einen norwegischen Atomphysiker; die bewegende Szene, in der – ermuntert durch Cafébesitzer Rick (Humphrey Bogart) – die Gäste seines Lokals die französische Nationalhymne „Marseillaise“ anstimmen, um die „Wacht am Rhein“-johlenden deutschen Offiziere zu überstimmen, war komplett herausgeschnitten worden (Pruys 2009; Bräutigam 2001; Maier 1997).

Erst in den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren wurden im Auftrag der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender authentischere Synchronfassungen hergestellt und die größten Teile der Verfälschungen korrigiert. 1975 strahlte die ARD erstmals die ungekürzte und neu synchronisierte Fassung von Casablanca aus. Zuvor hatte schon 1969 das ZDF Hitchcocks Notorious unter dem wörtlich übersetzten Titel Berüchtigt in einer deutschen Fassung ausgestrahlt, in der die Nazi-Verbrecher nun nicht mehr unerwähnt blieben. Die DVD/Blu-Ray von Über den Dächern von Nizza enthält zwar die ursprüngliche deutsche Synchronfassung von 1955, allerdings auch deutsche Untertitel, die die Vergangenheit der Hauptfigur als französischer Widerstandskämpfer thematisieren.

Trotz dieser Korrekturen gibt es auch in neueren Zeiten immer noch verfälschende Synchronisationen. So geschehen in der deutschen Synchronfassung von Das Rettungsboot (Lifeboat, USA 1944), die erst in den 2000er-Jahren entstand: Der Kriegsfilm von Alfred Hitchcock spielt während des Zweiten Weltkriegs. Mitten im Atlantik sinken nach einer Seeschlacht ein US-amerikanisches Schiff und ein deutsches U‑Boot. Einige amerikanische Überlebende können sich vor dem Ertrinken auf ein Rettungsboot flüchten. Sie ziehen unwissentlich auch den deutschen U‑Boot-Kapitän (Walter Slezak) an Bord, der sich als Crewmitglied des U‑Bootes ausgibt, den Beschuss des Schiffes heuchlerisch bedauert und im weiteren Verlauf der Handlung die Konflikte innerhalb der illustren Gruppe im Rettungsboot nutzt, um es geschickt in die Nähe eines deutschen Zerstörers zu lenken. In der Originalfassung spricht der Kapitän selbstverständlich Deutsch; in der deutschen Synchronisation dagegen wird seine Herkunft anfangs verschleiert. Hier spricht er – aus welchem Grund auch immer – Holländisch und gibt sich als niederländischer Freiwilliger aus.
 

Komische Synchronisation

Ende der 1960er-Jahre entdeckte der Schauspieler und Dialogbuchautor Rainer Brandt eine Marktlücke: Er nutzte die Synchronisation, um zunächst der Hauptfigur Jason King (Peter Wyngarde) in der 2. Staffel der britischen Actionkrimiserie Department S (GB 1969–1970), dann den von Tony Curtis und Roger Moore verkörperten Hobbydetektiven in der britischen Krimiserie The Persuaders! (GB 1970–1971) Dialoge auf den Leib zu schreiben, die voller Wortwitz und schlüpfriger Anspielungen waren. Selbst wenn die gesprochenen Texte in der ZDF-Serie Die 2 aus heutiger Sicht nicht mehr so ganz „politically correct“ sein dürften, kamen sie damals beim Fernsehvolk sehr gut an. In der Synchronregie von Karlheinz Brunnemann erlangte die Serie seinerzeit Kultstatus im bundesdeutschen Fernsehen, wobei Rainer Brandt die von Curtis verkörperte Figur des unkonventionellen US-Selfmade-Millionärs Danny Wilde selbst sprach. Roger Moores Figur des britisch-distinguierten Lord Sinclair lieh der Schauspieler und Synchronsprecher Lothar Blumhagen seine Stimme.
 

Verfälschende Kürzungen

Neben politisch motivierten Verkürzungen, auf die in diesem Beitrag im Zusammenhang mit der verfälschenden Synchronisation von Casablanca bereits hingewiesen wurde, beziehen sich inhaltlich begründete Kürzungen z. B. auch auf unerwünschte Männer- und Frauenbilder in Filmen und Fernsehserien.

Der italienische Regisseur Luchino Visconti erzählt in seinem Sozialepos Rocco und seine Brüder (I 1960) von den Problemen einer aus Süditalien zugewanderten Familie, im norditalienischen Mailand Fuß zu fassen. Anhand einer sich entwickelnden Dreiecksbeziehung zwischen Titelfigur Rocco (Alain Delon) und seinem Bruder Simone (Renato Salvatori) mit der Prostituierten Nadia (Annie Girardot) zeigt und kritisiert Visconti aber auch Verhaltensweisen des italienischen Machismo und dessen physischer wie psychischer Gewalt gegen Frauen. Der Film kam in einer um 16 Minuten gekürzten Fassung in die deutschen Kinos. Die Kürzungen beziehen sich fast alle auf die beschriebene Dreiecksgeschichte und schwächen im Sinne patriarchaler Wertvorstellungen ganz bewusst Viscontis Kritik an einer, wie man heute sagen würde, „toxischen Männlichkeit“. Geschnitten wurde aber auch eine längere Passage, in der Rosaria (Katina Paxinou), die Mutter der Familie, betont, welche Unabhängigkeit und Anerkennung sie als Frau trotz aller Probleme im Norden dadurch erlangt habe, dass sie mit ihren Söhnen den Süden Italiens verlassen hat.
 

Trailer Rocco und seine Brüder (I 1960)



Mit der Darstellung selbstbewusster Frauen, die eigenständige Entscheidungen treffen, tat man sich selbst 1995 noch schwer: In Staffel 4 der britischen Krimiserie Prime Suspect (7 Staffeln, 1991–2006) wurden im ersten Teil der deutschen Fassung Heißer Verdacht: Kind vermisst (GB 1995) gleich zu Beginn der Episode sechs Minuten herausgeschnitten. Geschnitten wurde hier als zentraler Handlungsgegenstand der Schwangerschaftsabbruch, zu dem sich die Hauptfigur Jane Tennison (Helen Mirren) entschieden hatte, nachdem sie in Staffel 3 Heißer Verdacht: Aktion Soko (GB 1993) eine unmögliche Affäre mit dem verheirateten Krimiautor Jake Hunter (Michael Shannon) begonnen und beendet hatte. Tennisons Abtreibung aus Heißer Verdacht herauszuschneiden, ist umso verwunderlicher, da die Serie ja gerade die Emanzipationsversuche der Polizeibeamtin in einem von sexistischen Vorurteilen geprägten, chauvinistischen Berufsumfeld zum Thema hat. Auch im Hinblick auf die horizontale Dramaturgie der durch alle Staffeln hindurch fortlaufenden Handlung ist diese Kürzung unverständlich, denn die Szene, in der Tennison erfährt, dass sie schwanger ist, bildet das Ende und den „Cliffhanger“ der vorherigen Staffel. Da zwischen der Produktion von Staffel 3 und 4 zwei Jahre lagen, mag das Publikum des damals noch ausschließlich linear ausstrahlenden Fernsehens den erzählerischen Bruch gar nicht bemerkt haben. Die heutigen Möglichkeiten, Serien zu streamen oder auf DVD und Blu-Ray anzuschauen, bringen allerdings solche Kürzungen ans Licht, zumal in restaurierten Filmfassungen und im Original wiederhergestellten Serien auf DVD oder Blu-Ray die herausgeschnittenen Szenen und Sequenzen in der Originalsprache des Films wieder eingefügt und mit Untertiteln versehen werden.
 

Fazit

Gezeigt werden sollte, dass Übersetzungstechniken fremdsprachiger Produktionen in der Mediengeschichte immer wieder für Verfälschungen und Verkürzungen des filmischen Inhalts genutzt wurden. Auch heute bleibt es Aufgabe der Rezeption, die Synchronfassungen fremdsprachiger Produktionen in den deutschen Medien sensibel und kritisch zu betrachten. Insgesamt nimmt das Potenzial für die Manipulation des Publikumsblickes auf Handlung und Figuren ausländischer Film- und Fernsehproduktionen aktuell aber deutlich ab, da immer mehr Rezipienten die Originalfassungen von Filmen und Serienproduktionen bevorzugen. So kam etwa Theresa Leszczenski, BA-Absolventin der Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Halle-Wittenberg, in einer Straßenumfrage im Rahmen ihrer Abschlussarbeit zu dem Ergebnis, dass zwar noch immer 57 % der befragten Passanten in ihrer Film- und Fernsehnutzung Synchronfassungen bevorzugen; eine Mehrheit der Nutzer von Streamingdiensten allerdings die Rezeption von Filmen und Serien in Originalfassung vorzieht. Da dies die überwiegend Jüngeren der Befragten waren, gibt die nicht-repräsentative Umfrage einen deutlichen Trend an: „Im Vergleich mit der […] Studie des Medienwissenschaftlers Georg-Michael Luyken aus dem Jahre 1991[,] welche ergab, dass 78 Prozent der deutschen Zuschauer eine Synchronisation gegenüber der Originalfassung bevorzugten, zeichnet sich […] eine klare Tendenz in Richtung des Originaltons ab.“ (Leszczenski 2021, S. 51)
 

Anmerkung

1) Sollte unter diesem Titel am 07.03.2022 (TV Spielfilm, Printausgabe 6/2022 vom 04.03.2022) im ZDF-Montagskino laufen, wurde dann aber lt. ZDF-Presseportal kurzfristig abgesetzt.

 

Literatur

Bräutigam, Thomas (2001): Lexikon der Film- und Fernsehsynchronisation. Berlin: Lexikon-Imprint

Leszczenski, Theresa (2021): Synchronisation englischsprachiger Filme auf dem deutschen Filmmarkt. Eine Umfrage zum Rezeptionsverhalten der Konsumenten. (Unveröffentlichtes Manuskript der Bachelorarbeit)

Maier, Wolfgang (1997): Spielfilmsynchronisation. Forum Anglicum Bd. 23. Frankfurt/M. u. a.: Peter Lang

Peiler, Nils Daniel (2020): Dr. Merkwürdigliebe oder: Wie Stanley Kubrick lernte, die Synchronisation zu lieben. In: Bock, Hans-Michael u. a.: Kellerkinder und Stacheltiere. Film zwischen Polit-Komödie und Gesellschafts-Satire. München: edition text+kritik

Pruys, Guido Marc (2009): Die Rhetorik der Filmsynchronisation – Wie ausländische Spielfilme in Deutschland zensiert, verändert und gesehen werden. Köln: Guido Marc Pruys

Schubert, Christoph (2004): Die Appellwirkung englischer Filmtitel und ihrer deutschen Neutitel: Techniken interkulturellen Transfers. In: Kettemann, Bernhard (Hg.): Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik (AAA), Bd. 29/2004, Heft 2. Tübingen: Gunter Narr

Sina, Véronique (2016): Comic – Film – Gender: Zur (Re-)Medialisierung von Geschlecht im Comicfilm. Bielefeld: transcript.

Tasker, Yvonne (1993): Spectacular Bodies. Gender, genre and the action cinema. London: Routledge.