Wie soll sich der Kinderfilm in Deutschland entwickeln?

Barbara Felsmann

Barbara Felsmann ist freie Journalistin mit dem Schwerpunkt „Kinder- und Jugendfilm“ sowie Autorin von dokumentarischer Literatur und Rundfunk-Features.

Vom 6. bis 7. September 2018 hatte das Kuratorium junger deutscher Film zu einer ungewöhnlichen Konferenz unter dem schlichten, aber vielversprechenden Titel Zukunft Kinderfilm eingeladen. Dort erwartete die Teilnehmerinnen und Teilnehmer keine aneinandergereihte Vortragsserie mit den üblichen Kaffee- und Mittagspausen, sondern ein raffiniert konzipiertes „Mitmachprogramm“, ausgeklügelt von dem Unternehmen The Value Web. Zwei Tage lang debattierten die 200 Vertreterinnen und Vertreter aus der Kinderfilmbranche in mehrmals wechselnden Arbeitsgruppen über die Frage, was einen erfolgreichen Film für das junge Publikum ausmacht, über mehr Vielfalt im Kinderfilmbereich und eine bessere Sichtbarmachung in der Öffentlichkeit.

Eindrücke von der Tagung bei Facebook und Instagram.

Online seit 28.09.2018: https://mediendiskurs.online/beitrag/wie-soll-sich-der-kinderfilm-in-deutschland-entwickeln/

Vollständiger Beitrag als:

Der Kinderfilm hat sich in der deutschen Kinolandschaft etabliert und mit mehr als 20 Kinostarts im Jahr zu einer nicht zu unterschätzenden Wirtschaftskraft entwickelt. Unter den Top Ten der besucherstärksten Filme eines Jahres finden sich immer wieder auch Kinderfilme mit Besucherzahlen von 700.000 bis zu 1,5 Millionen. Doch das sind in der Regel Familienfilme, die auf bekannten Marken und Buchvorlagen, meist Klassiker, beruhen und mit einem erheblichen Werbebudget ausgestattet sind. Diese Fälle können nicht über die mangelnde Vielfalt in der deutschen Kinderfilmlandschaft hinwegtäuschen. Schwer haben es in Deutschland nach wie vor originäre Stoffe, aber auch Filme, die nicht so bekannte Kinderbücher adaptieren, ganz zu schweigen von Dokumentarfilmen für Kinder.

Doch eine Analyse der gegenwärtigen Situation war nicht das Thema dieser Konferenz. Eher ging es den Veranstaltern darum, konkrete Ideen und Vorschläge zur Verbesserung der Situation des deutschen Kinderfilms erarbeiten zu lassen.
 

Das Jahr 2023 und der deutsche Kinderfilm

Die „Zukunft“ wurde deshalb auch genau abgegrenzt auf einen Zeitraum von fünf Jahren. Die Fragestellung war also: Wie soll der deutsche Kinderfilm im Jahr 2023 dastehen und was muss sich bis dahin verändern?

Und so berieten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer über neue Marketingstrategien, über Filmbildung und eine zusätzliche Ausbildung von Filmstudentinnen und ‑studenten, die sich für den Kinderfilm interessieren, über die Partizipation der Zielgruppe und – last but not least – über die Qualität von Kinderfilmproduktionen.

Grundsätzlich wurde konstatiert, dass sich der gesellschaftliche und kulturpolitische Stellenwert des Kinderfilms in Deutschland verbessern muss. Der Kinderfilm soll als Kulturgut anerkannt und entsprechend gefördert und er muss in der Politik stärker verankert werden. Es wurde auch immer wieder betont, dass die Filmförderung eine Produktion für Kinder nach gleichen Kriterien wie andere Kinoproduktionen behandeln sollte. Denn Kinderfilme sind nicht billiger herzustellen, schon allein wegen der längeren und aufwändigeren Dreharbeiten mit den Kinderdarstellerinnen und –darstellern.

Hervorgehoben wurde auch die Notwendigkeit von effektiven Marketingstrategien. 25 % der Herstellungskosten eines Films sollten fürs Marketing veranschlagt werden. Bereits bei der Stoffentwicklung sollte die zukünftige Verwertung – übrigens in allen Medienbereichen – mitgedacht werden. Die Gefahr besteht allerdings darin, und das muss m. E. noch einmal gründlich erörtert werden, dass das Marketing Einfluss auf das Drehbuch nimmt, beispielsweise durch Platzierung von Produktwerbung oder gar durch inhaltliche Vorgaben zugunsten der Vermarktung.
 

Ein Filmklassiker von Helmut Dziuba: Sabine Kleist, 7 Jahre …


Das Verhältnis von Qualität und Erfolg

„Was sind die Kriterien für einen erfolgreichen Kinderfilm?“ war die Ausgangsfrage für zwei Gruppen, die sich mit inhaltlichen und künstlerischen Aspekten auseinandersetzten. Dass Erfolg heute hauptsächlich an Besucherzahlen festgemacht wird, ist absolut zu kurz gegriffen und muss dringend verändert werden. Künstlerische Maßstäbe, mutige Themenstellungen, Innovation und Nachhaltigkeit müssen bei der Bewertung verstärkt eine Rolle spielen. Wie wohl auch bei Förderungsentscheidungen.  

Gute Kinderfilme müssen – und diese Erkenntnis ist nicht neu (!) – ihre Geschichte mehrschichtig erzählen und sich an verschiedene Altersgruppen, nicht zuletzt auch an Erwachsene, wenden. „Als Erstes müsst ihr vergessen, dass ihr einen Kinderfilm macht“, verkündete Bestseller­autorin Cornelia Funke per Skype auf der Konferenz. Und Helmut Dziuba, der u.a. 1982 den Kinderfilmklassiker Sabine Kleist, 7 Jahre … realisiert hatte, erklärte in einem von Bernd Sahling aufgezeichneten Werkstattgespräch, dass ein Kinderfilm immer eine gute Frage stellen und der Filmemacher nicht zwingend die Antwort wissen müsse. Dieses Postulat des 2012 verstorbenen DEFA-Regisseurs und Drehbuchautors wurde interessanterweise immer wieder von den Konferenzteilnehmerinnen und –teilnehmern aufgegriffen. Denn diese Ausgangs­position nimmt das junge Publikum ernst und traut ihm auch etwas zu, eine Position, die heutzutage im Kinderfilmbereich seltener zu finden ist. Sicher liegt das auch am aktuellen gesellschaftlichen Bild von Kindheit: Kinder sollen behütet werden, vor allem vor der Realität, und verbringen ihre Freizeit kaum noch ungeplant. Aus einer „Streifkindheit“ ist eine „Inselkindheit“ geworden, in der Kinder von einer betreuten Freizeit zur anderen „hoppen“.

Kinderfilm im Jahr 2023 soll sich durch mehr Genrevielfalt, durch Originalität und eine größere Themenvielfalt auszeichnen, durch eine stärkere Diversität (im weitesten Sinne und nicht nur vor der Kamera) sowie einen stärkeren Bezug zur Lebenswirklichkeit von Kindern und durch innovative künstlerische Handschriften. Es wurde immer wieder betont, dass Humor ein wichtiges Element im Kinderfilm ist, aber auch diskutiert, dass Erfolgskonzepte nicht kopiert werden können. Erörtert wurde ebenfalls die Frage, ob Filme für das junge Publikum immer Kinderfiguren brauchen oder ob es nicht in der Realität so ist, dass sich Kinder heutzutage verstärkt für Erwachsenenwelten interessieren und in fremde, unbekannte Welten eintauchen wollen. Also doch vergessen, dass man/frau einen Kinderfilm macht, und gute Fragen stellen?
 

Ein Tipp der Jugend Filmjury: Amateure von Gabriela Pichler


Die Arbeit mit der Zielgruppe

Die Zielgruppe soll bis 2023 stärker zu Wort kommen. Bisher haben Kinder und Jugendliche Entscheidungsgewalt bei der Vergabe von Preisen auf Festivals, seit einiger Zeit gibt es die Jugend Filmjury bei der Deutschen Film- und Medienbewertung (FBW), die Bewertungen und Empfehlungen für Kinder- und Jugendfilme herausgibt. Doch die Partizipation der Zielgruppe muss erweitert werden. Kinder und Jugendliche sollen bereits bei der Produktion von Filmen in Entscheidungsprozesse einbezogen und bei der Drehbuchentwicklung mit ins Boot geholt werden. Übrigens praktiziert Letzteres das Duisburger Dokumentarfilmfestival für Kinder und Jugendliche, doxs!, mit seiner doku.klasse schon seit 2014 sehr erfolgreich.

Ein großes Thema, das die Zielgruppe betrifft, waren außerdem die Einrichtung eines Familien­kinotags, an dem einmal im Jahr Familien kostenlos ins Kino gehen können, die bundesweite Förderung von engagierten Kinderkinos, der Ausbau von Filmclubs und die Einführung eines festen wöchentlichen Sendeplatzes für Kinderfilme in der ARD und dem ZDF, der von der ganzen Familie wahrgenommen werden kann, sowie vor allem der Bereich Filmbildung. Die Filmbildung muss unbedingt eine größere Rolle in der Schule spielen, dafür müssen Raum, Zeit und eine spezielle Lehrerausbildung geschaffen werden. Aber auch im außerschulischen Bereich muss die Filmbildung für Kinder und Jugendliche ausgebaut werden. 

Um der Zielgruppe nahe zu sein und sie zu verstehen, sollen Verantwortliche in Fernsehredaktionen und im Verleih sowie Produzentinnen und Produzenten regelmäßig an Medienbildungscamps teilnehmen.

Zur Zielgruppe gehörten auf der Konferenz auch die Eltern. Schließlich sind sie es, die mit ihren Töchtern und Söhnen ins Kino gehen und oftmals auch den Film auswählen. Deshalb ist es hier besonders wichtig, die FSK-Freigaben zu differenzieren und durchschaubarer zu machen. Und zwar bis 2023!
 

Konkrete Forderungen der Kinderfilmbranche:
 

  • Kinderfilm als Kulturgut anerkennen
  • Filmbildung im schulischen und außerschulischen Bereich stärken
  • Altersfreigaben der FSK (Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft) reformieren und ausdifferenzieren
  • Erfolgskriterien jenseits von Zuschauerzahlen etablieren
  • Kinder als Experten wahrnehmen und in Entscheidungsprozesse einbeziehen
  • Forschungsdaten aufbereiten und verbreiten
  • mehr Diversität vor und hinter der Kamera sowie in Entscheidungsgremien
  • Förderstrukturen und Budgets den aktuellen Marktbedingungen anpassen
  • Thema „Kinderfilm“ in Gremien und Politik verankern
  • Verwertung des Films und entsprechende Marketingmaßnahmen ab der Stoffentwicklung mitdenken
  • höhere Marketingbudgets von mind. 25 % der Herstellungskosten erforderlich
  • Kanäle und Multiplikatoren im Online-Bereich nutzen, um mehr Kinder und Eltern zu erreichen
  • Bereich „Kinderfilm“ an Filmhochschulen etablieren
  • Kommunikation mit Zielgruppe von Beginn an
  • weitere Expertise außerhalb der Branche einholen

Quelle: http://www.kuratorium-junger-film.de/presse