„Wir werden nicht mal ermordet"

Eine Initiative will Frauen ab Ende 40 aus den filmischen Rollenbildern des letzten Jahrhunderts befreien

Tilmann P. Gangloff

Tilmann P. Gangloff ist freiberuflicher Medienfachjournalist.

Die Präsenz von Frauen in Filmen und Serien nimmt ab dem Alter von 50 Jahren kontinuierlich ab. Bis Mitte 30 sind Frauen genauso häufig im Kinofilm vertreten wie Männer. In der Altersgruppe 50 plus ändert sich das rapide: Auf ein Drittel Frauen kommen zwei Drittel Männer. Die Journalistin Silke Burmester hat deshalb gemeinsam mit der Schauspielerin Gesine Cukrowski unter dem Motto Let's Change The Picture! eine Initiative ins Leben gerufen, die sich für ein neues Altersbild von Frauen in Film und Fernsehen stark macht.

Online seit 20.02.2023: https://mediendiskurs.online/beitrag/wir-werden-nicht-mal-ermordet-beitrag-772/

 

 

Es klingt wie die Story eines Science-Fiction-Films: Plötzlich verschwindet ein Viertel der Bevölkerung, als habe es nie existiert. Das Phänomen bezieht sich auf das Bild, das sich die Gesellschaft von Frauen ab Ende 40 macht. In der Bühnensprache würde man sagen: Sie wechseln das Fach – allerdings nicht freiwillig. Um die 50 stellen viele Frauen fest, dass sie öffentlich nicht mehr wahrgenommen werden. In Filmen und Serien gilt das buchstäblich, wie Untersuchungen des Instituts für Medienforschung an der Universität Rostock mehrfach belegt haben: In Kinofilmen sei die Geschlechterverteilung bis zum Alter von 30 Jahren in etwa ausgeglichen; ab dann nehme der weibliche Anteil jedoch kontinuierlich ab. Jenseits der 50 seien über zwei Drittel der zentralen Figuren männlich. Ähnlich diskriminierend sei auch das vermittelte Rollenbild, wie es in einem Fazit zur jüngsten Untersuchung heißt. „Protagonistinnen sind im Gegensatz zu Protagonisten nie dick und mehr als doppelt so häufig sehr dünn. Bei männlichen Hauptfiguren ist der Beruf häufiger erkennbar als bei weiblichen und die Position häufiger gehoben. Frauen kommen nach wie vor häufiger im Kontext von Partnerschaft und Beziehung vor.“ (Prommer et al. 2022, S. 19)
 

Zwischen Derrick und Die Camper

Auf sieben Männer ab 50, resümiert Silke Burmester, kämen also nur drei Frauen,

und die kümmern sich: um Männer, Enkel, Blumen. Sind betrogen, verlassen, asexuell. Sie haben keine Wünsche, außer nach Harmonie.“

Das Bild der reifen Frau im Film sei in der Zeitkapsel der 1990er-Jahr irgendwo „zwischen Derrick und Die Camper hängen geblieben“. Die Realität schreibe längst neue Geschichten, aber für die Filmschaffenden sei diese Altersgruppe schlicht uninteressant. „Wir werden nicht mal ermordet“, stellt die Journalistin sarkastisch fest: „Wie oft war der Fund der Leiche einer ermordeten älteren Frau Ausgangspunkt für einen Tatort oder Polizeiruf?'"

Burmester (Jahrgang 1966), Betreiberin des Online-Magazins Palais F*luxx (Motto: „für Rausch, Revolte, Wechseljahre“), hat daher gemeinsam mit der Schauspielerin Gesine Cukrowski (1968) eine Initiative ins Leben gerufen, die sich für ein neues Altersbild von Frauen in Film und Fernsehen stark macht. Es sei überfällig, die Geschichten der 21 Millionen deutschen Frauen über 47 zu erzählen und sie so zu zeigen, wie sie sind:

unabhängig, eigenwillig, im Aufbruch, verwirrt, wild und schön.“

Cukrowski sagt, Drehbücher über Frauen jenseits der 50 „werden grundlos fürs Fernsehen auf die Frau Mitte 30 umgeschrieben“. Sie wisse von diversen Autorinnen und Autoren, „die ihre Drehbücher nur unter der Bedingung durchbekommen haben, die weibliche Hauptfigur um mindestens 15 Jahre zu verjüngen.“ Das beraube Frauen über 50 nicht nur ihrer Geschichten: „Es hat auch den Nebeneffekt, dass den gezeigten Frauenfiguren teilweise grotesk anmutende, weil viel zu umfangreiche Biografien angeheftet werden.“ Die wenigen Rollen für ältere Frauen bedienten dagegen „Stereotype, in denen wir uns einfach nicht wiederfinden.“ Sie selbst sei jetzt 54, verdiene ohnehin schon weniger Geld als gleichaltrige männliche Kollegen und habe keine Lust, ihre Gage „zu irgendwelchen Beauty-Docs schleppen zu müssen, um mein Gesicht ‚fernsehtauglich‘ zu halten.“

Schauspielerin Katharina Abt (1967) beschreibt, wie die vermittelten Klischees über „alte“ und „junge“ Frauen aussehen: „Jung“ werde mit Erneuerung, Buntheit, Authentizität und Zukunft verknüpft; alles, was jenseits der 45 stattfinde, mit bieder, langsam, unbeweglich und absterbend. Sie möchte jedoch betonen, dass „wir Älteren“ nicht in beige-farbenen Gabardine-Hosen herumliefen und immer nur Das Traumschiff sehen wollten:

Wir spielen, unterrichten, lachen, treffen Freund*innen, ärgern uns, haben Sex und trinken manchmal zu viel. Und: Wir kaufen Produkte, sind also eine werberelevante Zielgruppe.“

Nina Kronjäger sagt, sie habe früher Rollenangebote abgelehnt, wenn sie ihr zu klischeehaft gewesen seien. Das könne sie sich heute nicht mehr leisten, „denn die Miete will bezahlt sein, Stereotype hin oder her. Ich habe die Wahl zwischen ‚verzweifelte Mutter‘ und ,eiskalte Karrierefrau‘.“ Vor diesem Hintergrund ist auch das Motto der Kampagne zu verstehen: Let’s change the picture! (Lasst uns das Bild ändern!).

Bild: palais-fluxx.de


 

Initiativen für mehr Diversität in Film und Fernsehen gibt es allerdings einige, und sie haben in den letzten Jahren eine Menge bewirkt. Menschen mit Migrationsgeschichte, früher auf typische Klischeefiguren reduziert – Türken sind entweder kriminell oder haben einen Döner-Imbiss –, sind in unterschiedlichsten Rollen zu sehen, oft ganz bewusst in akademischen Berufen. Auch Menschen mit Behinderung oder geschlechtlichen Identitäten, die von der Norm abweichen, werden vor der Kamera nicht länger ausgegrenzt. Burmester beklagt jedoch, dass das Thema „Alter“ und insbesondere die geringe Präsenz älterer Frauen bei den Diskussionen um Diversität regelmäßig ignoriert würden.
 

Variation des Bechdel-Tests

In Anlehnung an den sogenannten Bechdel-Test haben Burmester und ihre Mitstreiterinnen einen „F*luxx-Test“ erstellt, mit dem sich umgehend überprüfen lässt, wie rückständig das vermittelte Frauenbild eines Films ist. Der Bechdel-Test geht auf die amerikanische Comic-Zeichnerin Alison Bechdel zurück und fragt nach typischen Stereotypisierungen weiblicher Figuren: Gibt es mindestens zwei Frauenrollen? Sprechen sie miteinander? Unterhalten sie sich über etwas anderes als einen Mann? Die „F*luxx“-Variante fragt:

  • „Kommt eine Frau 47+ in einer tragenden Rolle vor? 
  • Beschäftigt sie ein anderes Thema als Beziehung und/oder Familie? 
  • Hat sie ein Leben außerhalb ihres Zuhauses?
  • Hat sie einen Beruf, mit dem sie Einfluss ausübt?
  • Erlebt sie Erotik?"

Ließen sich drei dieser fünf Fragen mit „Ja“ beantworten, hätten sich die Verantwortlichen schon mal ein Schulterklopfen verdient; für fünf „Ja“ gebe es ein „F*luxx-Test-Siegel“. Dass dieses Siegel bislang nicht allzu oft vergeben werden kann, hat auch mit den kreativen Köpfen hinter den Produktionen zu tun. Die bereits erwähnten Studien der Forscherinnen und Forscher rund um Kommunikations- und Medienwissenschaftlerin Elizabeth Prommer belegen unter anderem ein erschreckendes Ungleichgewicht in den Gewerken Regie und Drehbuch: Bis 2021 sind nur 25 % der Filme von Frauen inszeniert worden. 58 % der Vorlagen stammten von Männern, 18 % von gemischten Teams; rein weiblichen Ursprungs waren nur 24 % der Drehbücher. (Prommer et al. 2022, S. 20) Dieses Missverhältnis immerhin ändert sich gerade, nicht zuletzt dank der Initiative ProQuote Film; die Fernsehfilmredaktionen von ARD und ZDF achten in dieser Hinsicht mittlerweile sehr genau auf Ausgewogenheit. 
 

Luft nach oben

Hinter der Kamera tut sich also was, vor der Kamera ist noch viel Luft nach oben. Zu den Unterstützerinnen der Kampagne zählen unter anderem Andrea Sawatzki und Jasmin Tabatabai. Gerade Sawatzki (1963) hat nicht zuletzt dank der Verfilmungen ihrer eigenen Romane über die turbulenten Abenteuer der Familie Bundschuh vermutlich keinen Grund, über mangelnde Engagements zu klagen; in der vergnüglichen ARD-Komödie Sterben ist auch keine Lösung hat sie kürzlich eine lebenslustige mehrfache Witwe verkörpert. Trotzdem stellt sie fest:

Eine Mediengesellschaft, die gezielt Altersdiskriminierung betreibt, verspielt ihre Glaubwürdigkeit.“

Burmester betont, es gehe nicht um die einzelne Schauspielerin, „die statt der heißen Geliebten heute die sanfte Oma spielt. Es geht darum, auf den Missstand aufmerksam zu machen, dass Frauen ab 47 nicht adäquat abgebildet werden.“ So ist auch die Aussage von Birge Schade (1965) zu verstehen: Sie habe die Nase voll und wolle endlich „mehr komplexe und realistische Frauenfiguren über 50 sehen und spielen.“ Tabatabai (1967) ergänzt, einige der aufregendsten und interessantesten Frauen aus ihrem Bekanntenkreis seien 47 und älter:

Sie stehen mitten im Leben, sind auf der Höhe ihres Schaffens und haben der Welt viel mitzuteilen. Es wird höchste Zeit, dass diese Lebensrealität in unseren Filmen widergespiegelt wird.“
 


Es geht nicht um „Die oder wir"

Ausgerechnet ARD und ZDF, deren Publikum im Schnitt um die 60 ist, investieren derzeit nicht zuletzt aus Gründen der eigenen Existenzsicherung mehr Geld in Produktionen für eine jüngere Zielgruppe; diese Serien erzählen naturgemäß keine Geschichten über ältere Menschen. Burmester kann das nachvollziehen, schließlich hätten die öffentlich-rechtlichen Sender die Jungen viel zu lange sträflich vernachlässigt. Die unvermeidliche Umschichtung von Produktionsmitteln eröffne jedoch

einen Kampf zwischen Jung und Alt, den wir uns als Gesellschaft nicht leisten können. Es muss um das Miteinander gehen, nicht um die Frage ,Die oder wir?‘“

In diesem Sinn fordert Eleonore Weisgerber, dass sich das Bild, das Film und Fernsehen von älteren Frauen vermittelten, an der Realität orientiere: „weil sie der nächsten Generation als Vorbild dienen können.“ Cukrowski argumentiert ganz ähnlich: „Der notwendige Versuch, junge Menschen für Film und Fernsehen zu interessieren, sollte nicht nur darin bestehen, junge Formate zu stärken, sondern gleichzeitig die ,Alten‘ attraktiver und zeitgemäßer zu gestalten.“

Die Liste der Schauspielerinnen, die die Initiative solidarisch begleiten, ist gespickt mit Prominenz; zu den Unterzeichnerinnen des Aufrufs gehören unter anderem Barbara Auer, Maria Furtwängler, Nina Kunzendorf, Jutta Speidel, Gisela Schneeberger, Esther Schweins, Valerie Niehaus und Stefanie Stappenbeck. Burmesters Online-Magazin (palais-fluxx.de) weist bereits seit 2021 unter dem Motto #Sichtbarkeit47+ auf die weibliche Altersdiskriminierung hin. „Fröhlich vor sich hin alternde Schauspieler“ wie August Zirner oder Axel Milberg (beide Jahrgang 1956) oder Heino Ferch (1963), heißt es dort, dürften fröhlich vor sich hin alternde Ehemänner spielen, aber die Frauen an ihrer Seite seien regelmäßig 20 Jahre jünger. 
 

Quellen:

Universität Rostock: Frauen auf der Leinwand – Jung, schlank und Partnerin. Ergebnisse zur Fortschrittsstudie zur audiovisuellen Diversität im Kino. In: Universität Rostock, o.J. Abrufbar unter: www.imf.uni-rostock.de (Letzter Zugriff: 18.02.2023)

Prommer, E./Stüwe, J./Wegner, J.: Sichtbarkeit und Vielfalt: Fortschrittsstudie zur audiovisuellen Diversität - Gender & Kino. In: Universität Rostock, 22.03.2022. Abrufbar unter: imf.uni-rostock.de (Letzter Zugriff: 18.02.2023)

Die Aussagen von Silke Burmester und den zitierten Schauspielerinnen stammen aus dem Material, mit dem die Website Palais F*luxx die Initiative begleitet. Abrufbar unter: palais-fluxx.de (Letzter Zugriff: 18.02.2023)